Hansjörg Schneider: «Ich war immer ein schlechter Verkäufer meiner Texte»

Foto: Lucia Hunziker

Seit sein neuster «Hunkeler» den Mord im Kannenfeldpark aufgedeckt hat, führt das Buch die Bestsellerlisten an. Sein Autor nimmt es mit einem etwas rauen Lachen und einem Schulterzucken zur Kenntnis: «Jaaa... jaaa... der Hunkeler...»

Ich rufe Hansjörg Schneider an: «Isst du mit mir?»

Er ziert sich nicht, sagt sofort zu: «Bei mir im Quartier gibts das Sommereck. Ist jetzt wieder offen.»

Bevor er den heissen Basler Sommer flieht und sich mit Sack, Pack und Karre in die kühleren Wälder um Todtnauberg aufmacht, ist das Sommereck seine Kantine. Am Donnerstag gibts Leberli mit Rösti. Der Kellner braucht nichts zu fragen - Böckel nimmt am Donnerstag immer «Lääberli mit Röschti».

Wir haben ihn «Böckel» genannt. Später hat er mir einmal erzählt, dass der Spitzname von Willhelm Buschs Lehrer Böckel gekommen sei: gross, mager, mit dem immer etwas strengen Blick.

Als angehender Schreiber bin ich Schneider immer mal wieder in der Redaktionsstube der «National- Zeitung» beim Aeschenplatz begegnet. Er sah verboten gut aus. Und er war von dieser düsteren Männlichkeit, welche die Frauen anzog. Dabei ging er wie viele gross gewachsenen Menschen stets etwas gebeugt. Nein. Er ging nicht - er schlenkerte. Dieser Gang war einzigartig und typisch für ihn.

Ich setze mich also in diesen gemütlichen Garten der Quartierbeiz. Ein übergrosses Fresko empfängt den Gast. «Der Vierwaldstättersee», erklärt mir der Wirt stolz. «Urnersee», präzisiert Schneider später.

Hansjörg Schneider ist immer sehr genau. Sehr korrekt. «Ich bin so, wie ich bin», sagt er. «Ich lüge nie - deshalb sage ich auch oft Sachen, welche die Menschen verletzen können. Und ich entschuldige mich dann dafür.»

Okay. Bei mir wars: «Du - ich habe dich von hinten nicht erkannt. Du hattest doch mal dunkle Locken! Entschuldige bitte.»

Ich zupfe an meinem weissen Corona-Haar: «Macht ja nichts. DEIN SCHNAUZER WAR AUCH SCHON SCHWÄRZER!»

Das dann als Retourkutsche!

Bald schon reden wir von der alten Zeit. «Dügg» hat dich als Dramaturgen ans Theater geholt. Wir sind vor Ehrfurcht erblasst...»

«Es war eine interessante Zeit. Ich habe viel gelernt. Düggelin machte in Basel grosses Theater - Dürrenmatt war als Berater in seinem Stall. Hermann Beil war der Chefdramaturg. Beils grosse Entdeckung war Heinrich Henkel - sein Eisenwichser schlug wie eine Bombe ein...»

«Du hast damals den Erfinder geschrieben. Das Stück basiert auf einer Geschichte, die dir dein Vater erzählt hat - und hatte später grossen Erfolg. Dügg wollte das Stück bringen...»

«...aber Beil war dagegen. Er hat meine ersten vier Stücke alle abgelehnt. Irgendwie war es eine schwierige Situation wie das im Theater eben immer wieder mal läuft. Wir mochten einander nicht. Wenn zwei einander nicht riechen können, können sie auch nicht zusammen Theater machen!»

«Du hattest auch Probleme mit Peter Keckeis im Benziger-Verlag.»

«Nun, er hat mich einmal nach meinen weiteren Plänen gefragt. War ja klar: Ich wollte einen neuen Roman schreiben. Und er antwortete mir: Sie werden versanden. So etwas kann man nicht vergessen. Ich weiss nicht - vielleicht war ich ihm zu wenig literarisch. Immerhin hat er mir die Initialzündung zum Sennentuntschi gegeben. Wir redeten über Frauen - und er erzählte mir die Sage von der Puppe. Da wusste ich: Da schreibe ich ein Stück darüber...»

«Das ging dann ab wie eine Rakete. Wo hast du das Stück eigentlich auf Papier gebracht?»

«An der Bernoullistrasse in Basel. Ich hatte dort bei den Wullschlegers eine kleine Mansarde gemietet: Ganz einfach: Stuhl, Tisch, Licht durch die Dachluke. Vis-à-vis war eine Baustelle - sie bauten die neue Mensa der Uni. Nachts konnte ich dort Eulen beobachten. War sehr speziell...»

«Du warst eigentlich schon früh mit Basel verbandelt - Zofingen und Basel. Das sind aber doch ziemlich grosse Unterschiede?»

«Ich kam zum ersten Mal mit der Schulklasse an den Rhein. Am Hafen spürte ich so etwas wie Reisefieber Fernweh. Als junger Bursche bin ich dann auf einem Schlepper den Rhein runter zum Meer gefahren. Später waren wir einmal mit der Familie hier. Der obligate Zolli-Besuch. In Erinnerung bleibt mir aber die Walliser kanne - wir wollten etwas Kleines essen. Mein Vater kippte fast vom Stuhl, als er die Preise sah. Wir bestellten dann Bündnerteller - einen für vier Personen...»

«Du hast in Basel studiert, deine Frau kennen gelernt - eure Zwillinge sind ebenfalls hier aufgewachsen. Ihr wart stets irgendwo am Ring dieser Stadt. Trotzdem hat es dich auch über die Grenze gezogen. Zuerst ins Elsass...»

«Das ist eine der wunderbaren Seiten von Basel - man ist sofort in einer anderen Welt. Meine Frau entdeckte das Elsässer-Haus. Wir waren sehr glücklich dort. Wir haben aber auch in einem Bauernhaus im Bernbiet gelebt. Ich liebe die einfachen Menschen. Bei ihnen fühle ich mich wohl. Und sie fühlen sich wohl bei mir...»

«Das Sennentuntschi spielt ja auch bei Naturburschen auf der Alp - hast du das Stück sofort verkaufen können?»

«Nein. Überhaupt nicht. Beil winkte ab - so etwas sei nicht aufführbar. Und ich war immer ein schlechter Verkäufer meiner Texte. Ich konnte mich nie für sie wehren. Dazu muss man einen guten Verleger haben. Ich hatte also zwei Stücke: Einerseits Der Erfinder. Und dann das Sennentuntschi. Gottlob war da der Regisseur Reto Papst. Wir spielten in der Theatermannschaft Fussball - er als Verteidiger, ich als Stürmer. Papst zeigte meine Stücke Werner Wollenberger fürs Schauspielhaus. Wollenberger wollte das Stück fürs Nachtstudio - und er wollte auch Papst als Regisseur. So kam alles zum Ganzen. Die Tagesschau des Schweizer Fernsehens brachte einen Bericht über die Probe - und den Kommentar: Es scheint, dass sich hier ein neuer schweizerischer Misserfolg ankündigt.»

«Un dann wurde es ein Kracher!»

«Ja - das Haus war bumsvoll. Die Leute schrien, applaudierten, pfiffen. Als wir später im Pfauen sassen, kam Wollenberger aufgeregt an den Tisch: Dürrenmatt sei in der Vorstellung gewesen. Er gratuliere herzlich. Und würde mich zu seinem Nachfolger ernennen...»

«Das Publikumsinteresse war jetzt riesig.»

«Wir waren immer ausverkauft - die Leute standen sogar, obwohl es keine offiziellen Stehplätze gab. Einmal kamen 50 Liebesdienerinnen, na ja, Huren - das war ein riesiges Kompliment für unser Sennentuntschi!»

«Das Stück ist sehr erotisch.»

«Zu jener Zeit durfte man auf der Bühne nicht einfach so übers Vögeln oder Sex reden. Das war für viele ein Schock. Noch zehn Jahre später, als das Schweizer Fernsehen das Sennentuntschi inszenierte und im Spätprogramm zeigte, gab es am anderen Tag drei Seiten empörte Leserbriefe im Blick. Als Jost Meier eine Oper zu meinem Stück schrieb, erhob sich an der Premiere einer der Musiker im Orchestergraben zum Publikum: Wir wollten eigentlich so eine Sauerei nicht spielen - dem Frieden zulieb spielen wir sie aber jetzt doch!»

«Das Sennentuntschi zog dann auf alle Bühnen dieser Welt. Es wurde verfilmt - wie auch Hunkeler. Hast du eigentlich immer ein Faible für Kriminalstorys gehabt?»

«Überhaupt nicht. Ich lese keine Krimis - sie langweilen mich. Natürlich nicht die von Dürrenmatt und Glauser. Oder von Chandler. Das ist etwas anderes...»

«Agatha Christie?»

«Nun - da lauert immer etwas Böses, Beängstigendes zwischen den Zeilen. Ich mag so etwas nicht. Ich kann auch keine Hitchcock-Filme anschauen...»

«Du hast auf unglaublich vielen Saiten der Literatur gespielt und immer neue Facetten der Schreiberei hervor gebracht. Da spürt man einerseits die grosse Liebe zum Volksschauspiel mit dem Naturtheater... und seit 1993 nun die Hunkeler-Krimis - ein ganz anderes Genre...»

«Die wurden mit derselben Inbrunst geschrieben wie alles andere auch. Der Kriminalroman ist eine grossartige Literaturform: Ich kann alles hineinpacken. Die Geschichte der jüngeren Zeit, die Menschen von heute, die Umgebung. Die Schreibweise sollte einfach sein - einfach, aber nicht kunstlos. Schon Dürrenmatt sagte: Einfach heisst, Kunst dort zu machen, wo sie niemand vermutet!»

«Hunkeler ist ja auch immer ein Stück deiner selbst...»

«Ja - der Zofinger Kommissar ist mit mir alt geworden. Das ist schön.»

«Und wann dürfen wir mit einem neuen Fall rechnen?»

Hansjörg Schneider lächelt nun: «Weisst du, das kann ich nicht sagen. Ab einem gewissen Alter braucht Schreiben viel Kraft.»

In seiner Biografie «Kind der Aare» fasst er es so zusammen: «Ich habe geschrieben, was ich schreiben wollte.»

Schön für ihn. Wunderbar für uns.

Vorlieben und Abneigungen

Er mag: den Wald, die Dreiländersituation in Basel, «Lääberli» und das Alpentheater.

Er mag nicht: Hitchcock-Filme, Agatha Christie («bei ihren Geschichten fühle ich immer etwas Unheimliches») und Theater-Intrigen («gehören wohl aber dazu»).

Samstag, 18. Juli 2020