«Wir essen in der ‹Chesa›», sagt er am Telefon. «Ich lasse Sie am Bahnhof abholen…»
Hans Wiedemann ist ein Geniesser. Er hat alle Küchen dieser Welt gesehen. Hat bei Königen, Maharadschas und chinesischen Militärobersten diniert.
So einer überlässt seinen Bauch nicht dem Zufall.
«Sie können da unsere Fische ausprobieren. Der Koch angelt sie hier aus dem See. Und viele unsere Gäste angeln mit ihm…»
Es sind diese Art von Gästen, die man ebenfalls mit nichts mehr überraschen kann. Und bei denen Wiedemann sich zum Ziel gesetzt hat: «…Wir müssen einfach noch einen draufsetzen. Das sind wir dem Haus und der Tradition Badrutt schuldig. Wenn sie das ‹Palace› von St. Moritz verlassen, sollen sie sagen: WAHNSINN – es war einfach ein Märchen!»
Das ist ein hochgestecktes Ziel. Denn die Gäste, die da während eines Aufenthalts auch mal 300 000 Franken im «Schloss von St. Moritz» liegen lassen, legen die Messlatte hoch. Aber Hans Wiedemann weiss, wie man Menschen verwöhnt – auch seine Clientèle. Und da spielt es keine Rolle, ob einer 20 000 Franken oder nur einen müden Riesen für die Nacht aufwirft. Jeder Gast ist im «Palace» König. Und Könige sind im «Palace».
Die Anreise ist lang. Nach Chur lohnt sich jeder Zentimeter. Es ist, als würde der liebe Gott seine schönsten Bilderbuchseiten vor den Touristen im schmalen Züglein öffnen.
Später erzählt Wiedemann: «Für die Asiaten bedeutet es Glück, Schnee zu berühren. Einmal im Leben wollen sie so hoch wie möglich sein. Deshalb jagen alle aufs Jungfraujoch. Oder nehmen sich einen Bergführer. Und klettern im Sommer bis zu unseren Schneefeldern…»
Er lacht: «Ohne diesen Traum wäre ich nicht hier. Meine Frau – sie ist Inderin – hat immer von diesen Bergen gesprochen. Als junges Mädchen hat sie einen Film gesehen, der im ‹Palace› von St. Moritz spielte. ‹ Da möchte ich einmal hin …› , hat sie mich stets gelöchert …»
1989 überraschte Hans Wiedemann seine Familie mit einer Europa-Reise. Damals lebte das Paar mit den Kindern in Australien. Er führte eine japanische Hotelkette mit 2000 Angestellten:
«…Wir fuhren also auch in die Schweiz. Aber natürlich machte ich um das ‹Palace› einen grossen Bogen. Wir konnten es uns einfach nicht leisten. Und meine Frau schaute mich lange an: ‹Wir kommen zurück… Glaube mir: WIR KOMMEN ZURÜCK!›»
15 Jahre später zogen die beiden ein. Und brachten das Hotel, das Geschichte geschrieben hat, auf Vordermann. Sie machten wieder ein Märchenschloss daraus – ein Märchen, in dem Prinzessinnen Wirklichkeit sind.
Der Chauffeur – livriert, Goldknöpfe, geschwungener Driver-Hut– wartet mit dem nachtblauen Rolls-Royce. Die Leute schauen. Und die Trämlerstochter spürt, dass sie eben doch nicht ins Märchenbuch gehört. Irgendwie findet sie die Sache «sackgeil». Und doch ist es ihr peinlich. Das ist das Feeling der Nicht-Habitués.
Leute, die im «Palace» absteigen, kümmern sich nicht um die Blicke der Umgebung. Sie sind gewohnt, angestiert zu werden. Auch dass die Touristen mit Handys «ihr» Auto fotografieren. Und fragen, ob sie mit dem uniformierten Chauffeur ein «Selfie» machen dürfen.
Ich hätte mit dem Chauffeur auch gerne ein «Selfie»… Aber natürlich geht das nicht. Klasse ist Klasse. Und Stil ist Stil.
Hans Wiedemann erwartet mich in der «Chesa» mit Gips. Sein Bein ist geschient: «Sport – ich sag ja immer: Sport ist Mord!», grinst er.
SOLCHE WORTE IN ST. MORITZ! Seine Gäste seien doch sicher fanatische Skifahrer und…
Jetzt lacht er schallend: «80 Prozent unserer Gäste fahren nicht Ski. Nur Après-Ski. Und dafür ist das ‹Palace› ja beim Jet-Set auch berühmt…»
Der Koch kommt an den Tisch. Italiener – «aber von dort hinter dem Berg», relativiert er. Und macht uns auf seine selbst gefangene Lachsforelle, die er mit Kräutern mariniert, heiss. Dann kleines Geplänkel mit dem Chef. Was tun mit den Gästen bei diesem Sauwetter? Fischen? Kochen? Aber vielleicht wäre eine Kochschürze nicht unbedingt das richtige Outfit für ein japanisches Königspaar…?
Man spürt die Vertrautheit des Personals mit ihrem Boss. Wiedemann ist ein Sonnenmensch. Und kanns mit seinen Leuten. Er schmeckt nicht nur, was seine Gäste (die übrigens fast alle zu Freunden werden) gerne möchten – er spürt auch, wenn bei einem Angestellten der Schuh drückt:
«…Wir beschäftigen in der Saison 540 Leute. Damit sind wir der drittgrösste Arbeitgeber in Graubünden. Mir ist wichtig, dass sich die Menschen, die bei uns arbeiten, wohlfühlen. So fühlen sich auch die Gäste wohl. Das ist eine alte Hotelweisheit. Und deshalb investieren wir viel in unsere Leute – wir bezahlen Sprachaufenthalte, Weiterbildungen. Und wir fördern ihre Individualität. Denn ein Angestellter im ‹Palace› ist kein Beamter. Und keine Nummer. Jeder ist eine eigene Persönlichkeit. Und hat Talente, die wir dann hervorbringen. Und so die Kreativität nutzen …»
Und wie?
«Nun, wenn wir ein Angestelltengespräch führen, fragen wir beispielshalber, ob jemand malen kann. Singen. Musizieren. Wir lassen die Geburtstagskarten für die Gäste von einer der Angestellten kreieren – ganz einfach, weil dieses Zimmermädchen wunderschön mit Farben umgehen kann. Das macht den Gruss dann für den Gast sehr speziell. Oder wir stellen einen kleinen Chor aus Kellnern, Köchen, Butlers zusammen. Die singen das Happy-Birthday-Lied. Es sind Kleinigkeiten – aber sie machen unserm Personal Spass. Und vor allem auch den Gästen. Es gibt diese persönliche Note, die eben ein ‹Palace› ausmacht. Und ihm den Touch des Besonderen gibt…»
Hans Wiedemann ist in Basel aufgewachsen. Ob er als Bub schon Hotelier werden wollte?
«Ich schon. Meine Eltern wollten das eher nicht. Sie waren Ärzte. Und sahen mich mehr in dieser Richtung. Aber ich habe schon als Kind gerne Menschen glücklich gemacht. Habe sie gerne ‹bedient›. Ich sehe im Dienen nichts Schlechtes. Auch nichts Diskriminierendes. Dienen ist etwas Wunderbares.
Als mein Grossvater einmal zu einem Cocktail lud und das Personal nicht erschien – als die Gäste warteten, da habe ich einfach alles selber ‹geschmissen›. Die Leute waren happy – und ich spürte, dass ich sie glücklich gemacht hatte. Und am glücklichsten natürlich meinen Grossvater…»
Er ist in Basel aufgewachsen. In der «Alte Richtig» hat er trommeln gelernt – und im «Binninger Schloss» den guten Service:
«… Ich habe überall herumgeschnuppert und in Lausanne schliesslich die Hotelfachschule besucht. Doch dann hielt mich nichts mehr in der Schweiz. Ich wollte weg. Neue Kulturen und die andere Welt kennenlernen…»
Er führte Hotels in China und Australien (er besitzt auch den australischen Pass). Die Schweiz war eigentlich keine Option – aber da er in Fachkreisen einen goldenen Namen hatte, kam das «Palace» von Montreux auf ihn zu. Man suchte einen Schweizer mit internationaler Erfahrung: «So kam meine Familie 1995 an den Genfersee. Und jetzt konnte ich auch den Wunsch meiner Frau erfüllen: Den Besuch im ‹Palace›. Wir fuhren über Weihnachten nach St. Moritz. Und – man könnte das jetzt Schicksal nennen – die einzigen Filme, die ich je von meiner Familie in jüngsten Jahren an Weihnachten gemacht habe, sind von diesem Aufenthalt im ‹Palace›…»
Als die Swissair, die beim «Palace» von Montreux zusammen mit Nestlé das Aktienpaket hielt, ein bisschen vom Himmel fiel, kam das Nobelhotel in die Hände einer Kette. Und Wiedemann war unzufrieden. Er hat beruflich immer eine kreative Unabhängigkeit bevorzugt. Das wiederum war das Glück von Hansjürg Badrutt:
«Er rief mich an: «Unglücklich? Dann kommen Sie zu uns!»
Doch Wiedemann winkte ab. Das «Palace» wurde durch die Hotelgruppe Rosewood gemanagt.
«Ich sagte Hansjürg Badrutt, dass ich gerne käme, wenn sich diese Situation ändern würde. Ich habe nichts gegen Kettenhotels. Die haben auch ihren Platz. Schweizer Hotel-Ikonen sollte man aber individuell führen können.»
Als daraufhin das Hotel unabhängig wurde, rief Badrutt erneut bei Wiedemann an: «Sie können kommen – die sind draussen!»
So zog die Familie 2004 in St. Moritz ein: «… Meine Frau schaute mich vor der Türe an. Sie sagte nichts. Aber ihre Augen strahlten. ‹… Und? Hab ichs nicht gesagt…›»
Die Fortsetzung wurde dann zum Happy End im «Palace»-Märchenbuch: Das Ehepaar Badrutt und Hans Wiedemann verstanden sich auf Anhieb:
«Irgendwie haben wir die gleiche Wellenlänge. Wir vertrauen einander. Und – ganz wichtig – wir spielen alle die gleiche Humor-Tonart…»
Es war ein paar Tage vor Weihnachten 2006, als Badrutt in Wiedemanns Büro erschien: «Störe ich?»
Der Hotelier lächelt bei der Erinnerung: «‹Ja›, – habe ich gesagt. Aber Hansjürg hat einfach die Türe geschlossen. Und ist zu mir ans Pult gesessen: ‹Meine Frau und ich haben uns entschlossen, dass du unser Nachfolger sein sollst. Das ist kein Erbe. Sondern nimm es als Vermächtnis – und mache einfach weiter. In unserm Sinne…›»
Hans Wiedemann zeigt auf seine Arme. Er hat Gänsehaut: «Es friert mich heute noch, wenn ich an diesen Moment zurückdenke…»
Badrutts Aktion betreffen zwei Drittel der «Palace»-Aktien. Ein grosses Vermächtnis – aber eine noch grössere Verantwortung:
«Ja. Wir dürfen und müssen das Märchen des ‹Palace› weiterspinnen. Es ist wichtig für St. Moritz. So wie St. Moritz für uns wichtig ist. Das ‹Palace› ist fast schon das Herz dieses Orts. Und deshalb möchte ich auch nichts tun, ohne dass die Leute hier miteinbezogen werden. Das ist einer der Gründe, weshalb wir das Hotel auch im Sommer geöffnet halten – damit St. Moritz lebt. Denn natürlich ist die Saison hier auf den Winter ausgerichtet…»
Die Saison startet Anfang Dezember. Und endet nach Ostern. In dieser Zeit spielt das Grandhotel gut und gerne 50 Millionen ein. Doch ein zweistelliges Millionenpäckchen wird gleich wieder investiert: «Es ist wichtig, dass man nicht stehen bleibt. Und den Menschen dennoch das Gefühl gibt: ALLES BEIM ALTEN!
Unsere Gäste sind sehr traditionsbewusst. Sie haben alle ihre kleinen Marotten. Und diese Marotten müssen wir berücksichtigen und den Leuten die Wünsche von den Augen ablesen. Für jeden bedeutet das ‹Palace› ‹ein Stück ihres Zuhauses›. Oft auch ein Stück ihres Lebens. Sie haben Erinnerungen hier – an allen Ecken. Deshalb schauen wir, dass sie immer derselbe Butler empfängt. Dass sie die Zimmer so antreffen, wie an jenem Tag, an dem sie abgereist sind. Unsere Butler machen Fotos. Und richten bei der Neu-Ankunft alles wieder entsprechend ein. Einige Gäste lassen gar die Koffer mit der ganzen Garderobe bei uns…»
Und doch wird immer leise renoviert. Überholt…
«Klar. Eine elektronische Lichtanlage. Oder die Reaktivierung der ältesten Indoor-Tennishalle Europas. Die wird diesen Winter als Restaurant eröffnet. Die moderne Technik, wie etwa Wi-Fi muss eingebettet werden. Das ist wichtig – genau so wie der alte Sessel in der Halle, auf dem seit Jahrzehnten der General sitzt. Und kein anderer. Wir haben viele solche Sessel. Wehe, da würde einer sie anfassen – sie gehören zu unserer Geschichte, wie auch die Tischordnung im Speisesaal. Vorne: die alten Gäste. Hinten: die Newcomer…»
In einer Zeit, wo Hotels nur noch in Ketten funktionieren, sind solche Häuser Raritäten geworden. Haben sie sich nicht überlebt?
«Im Gegenteil. Wir sind praktisch immer ausgebucht. Die meisten Hotels sind standardisiert. Häuser wie das ‹Palace› sind rare Juwelen. Da ist vor allem die alte Stammkundschaft, die so etwas schätzt – und die neuen Kunden stehen Schlange. Sie können sich alle Häuser der Welt leisten – aber wir bieten ihnen etwas, das sie kaum mehr bekommen: individuelle Gastfreundschaft. Und ein Heimkommen…»
Nun gut – natürlich auch eine hervorragende Piste für Networking…
Jetzt lacht Hans Wiedemann wieder richtig los: «Sie habens erkannt. Klar. In unserer Halle werden die wichtigsten Kontakte auf dieser Welt geknüpft…»
Er überlegt:
«Wir haben hier alle Nationen. Und es gibt keine, die vorherrscht – weder Schweizer noch Japaner oder Russen. Wir sind einfach die ‹Palace›-Family…»
Draussen wartet der blaue Rolls, der mich wieder zum Bahnhof bringen soll.
Der Münchner Josef Vielhuber, der die Butler des «Badrutt’s Palace» ausbildet, strahlt uns an: «Darf ich für Sie ein Foto vor dem Auto machen…»
Es stimmt schon: Sie kennen die Marotten der Gäste. Und können ihnen die Wünsche von den Augen ablesen.