Wir haben den Tisch hinten. Ganz hinten. Der Chef de Service lacht verschwörerisch: «Da kann er alles beobachten. Und hat doch seine Ruhe…»
Na ja – diese Ruhe wird Markus Somm jetzt ohnehin haben. Auch wenn er nicht mehr am hinteren Tisch hockt.
Vermutlich ist dies sein letzter Besuch in der «Kunsthalle» – zumindest für einige Monate.
Viele Basler atmen durch. «ENDLICH! WURDE ABER AUCH ZEIT…»
Sie hätten ihn am liebsten wie einst die Hexen der Stadt im Rhein ersäuft. Oder aufs Feuerrad geflochten.
Dann gibt es die anderen, die jammern: «Er wird der Basler Medienwelt fehlen … ein Verlust!»
SIE HABEN IHN LÄNGST HEILIG GESPROCHEN.
Und den Dritten ist das alles einfach wurstegal!
VERMUTLICH DEN MEISTEN.
Sie haben zwar von Somm gehört (zu überhören waren er nie) – den Chefredaktor aber kaum gelesen.
Diejenigen, die seine Samstags-Kommentare umjubelt haben, waren die Freunde.
Diejenigen, die so etwas nur mit einer Packung Valium schlucken konnten: seine Feinde.
Was Politiker und Journalisten nie kapieren werden: Den meisten Menschen stehen «Samschtigs-Jass», saubere Autoscheiben und das Menü der «Landfrauenküche» näher als irgendein Gedanke zur Weltsituation.
Eines kann man Somm nicht nachsagen: ER SEI EIN LANGWEILER GEWESEN.
Man konnte ihn zwar nie genau einordnen. Mal wetterte er gegen links. Dann gegen rechts. Es gab nie nur eine Schussrichtung.
Aber geschossen wurde immer.
Er kommt.
Und es ist nie ein grosser Auftritt.
DAZU FEHLEN IHM DIE NÖTIGEN ZENTIMETER.
Dennoch: Man spürt seine Energie. Auch diese Ruhelosigkeit. Eine quirlige Nervosität.
Er zieht den kleinen Koffer nach.
Er hat während der Basel-Zeit immer dieses Heimgepäck aus Wädenswil am Zürichsee hinter sich hergezogen.
ALS WÄRE ER NUR AUF ZWISCHENBESUCH AM RHEIN.
Gut. War er auch. Und genau das haben ihm viele Basler übel genommen – etwa Vrone Burckhardt: «Ich mag ihn ganz gut – er ist ein gescheiter Mann. Aber wir hätten ihn gerne etwas besser kennengelernt… irgendwie war er hier. Und doch nicht da.»
Bei solchen Kommentaren grinsten Somms blaue Augen über die Brillengläser hinweg: «Typisch für hier. Man betrachtet es als eine Beleidigung und Sünde, wenn einer eine Stunde weg von Basel wohnt… oder wenn ich nicht über Basel schreibe… und hier nicht fest verankert bin!»
Er zuckt mit den Schultern: «So etwas trifft die Menschen am Rhein tief – Basel ist für sie die Welt. Und ich habe wenig über diese spezielle Welt geschrieben… na gut: mea culpa!»
Er lacht nun etwas ärgerlich auf: «Aber ein Chefredaktor in Zürich schreibt auch nicht über die Limmatstadt … das würde als höchst provinziell empfunden.»
DU FINDEST ALSO, DIE BASLER WÜRDEN ES MIT IHREM CHAUVINISMUS ÜBERTREIBEN?
«Nun – Basel ist nach Deutschland und Frankreich ausgerichtet – möchte aber auf keinen Fall dazugehören. Das dann doch nicht. Andererseits will der kleine Stadtkanton auch nicht an die Schweiz angebunden sein. Man kann mit Helvetien nicht viel anfangen – das war ja damals anno 1501 eh eine notwendige Muss-Heirat gewesen…» Er lässt sein hohes Lachen los: «Die beste Lösung wäre für Basel vermutlich ein eigener Stadtstaat…»
Also bist du noch immer der Meinung, Basel beschäftigt sich zu stark mit sich selber.
«Ja. Das wirkt für jemanden, der hierher zieht, ziemlich kleinkariert. Man könnte meinen, es gäbe noch andere Themen als den Zolli oder die Fasnacht … Pharma-Riesen und Weltfirmen haben ihre Mutterhäuser hier. Und doch ist das Wetter am Morgestraich das grosse Thema. Sagen wirs mal so: Im Grunde genommen sind die Basler weltoffene Bünzli!»
Das tönt jetzt hart. Und wohl auch ein bisschen verbittert. Irgendwie hast du den Zugang zu dieser Stadt einfach nicht gefunden…
«Ich habe diesen Zugang gesucht. Anfangs wollten wir hierher ziehen…»
Eben: die sieben Somms in Basel!
«Sicher wäre ich mit einer Familie am Ort besser eingebunden gewesen. Ich hätte die Schulprobleme, die Quartier-Sorgen näher gespürt…»
Sag ich doch!
«…aber wie wir uns alle erinnern können, wurden wir nicht aufs herzlichste willkommen geheissen. ‹Rettet Basel vor Somm› wurde geschrien. Man demonstrierte gegen mich…»
Das tönt jetzt fast wieder ein bisschen, als hättest du das genossen…?
«Es war eine Reaktion. Und insofern nicht schlecht. Aber es war nicht das herzliche Willkommen, das einem das Wohnen hier leicht gemacht hätte. Sollte ich so etwas meiner Familie zumuten? Man zieht nicht gerne von einer gewohnten Umgebung weg, um an einem neuen Ort nur Gehässigkeiten zu hören…»
Nun – es gab nicht nur Gehässigkeiten…
«Stimmt. Viele Bürgerliche flüsterten mir Komplimente zu. Aber keiner von ihnen hätte sich für uns stark gemacht…»
Du hast dann bei der BaZ den Schlussstrich gezogen. Aus! Experiment nach acht Jahren abgebrochen – irgendwie traurig…
«Das ist es. Aber schuld daran ist nicht die Qualität der Zeitung. Die war – und das haben selbst unsere Kritiker zugestanden – gut. Doch der Strukturwandel hat uns den Garaus gemacht…»
UND WIE DAS?
«Vor 25 Jahren noch war jeder auf die Zeitungen angewiesen. Auch die Verleger hatten es gut: Wer einen Job oder eine Wohnung suchte, blätterte die Zeitung durch. Inserierte dort. Heute schaut man gratis auf dem Handy nach. Oder surft im Internet…»
ZURÜCK ZU BASEL. DU HAST DICH HIER NIE INTEGRIERT GEFÜHLT?
«Nun – in Basel bin ich der Zürcher. Dabei stimmt das nicht. Ich bin ein Aargauer. Aber man wird hier gleich in die Schublade Zürich abgelegt.
In Zürich ist es kein Thema, woher du kommst. Hier schon.»
Er lacht jetzt wieder scheppernd auf: «Eigentlich bin ich so etwas seit Kindesbeinen gewohnt. Schon als Bub war ich ein Zuzüger. Wir redeten alle den Sanktgaller-Dialekt beider Eltern. Das wirkte in Baden exotisch. Wir waren zwar integriert – aber der spitze Sound machte uns auch da ein bisschen zu ‹den andern, die nicht hierhergehören›.»
Okay. Dein Vater war der Big Boss der ABB. Hatte das einen Einfluss auf euch als Kinder?
«Die ABB war riesig. Und Baden damals klein. Fast jede Familie hatte jemanden, der bei meinem Vater arbeitete. Irgendwie betraf alles, was in der ABB geschah, auch uns. Wenn mein Vater Leute entlassen musste, wurde ich natürlich darauf angesprochen. Scheel angeschaut. Das hat schon geprägt …aber ich lernte auch, damit umzugehen.»
DU BIST IN EINEM GUTBÜRGERLICHEN HAUSE AUFGEWACHSEN:
«Es war seit Generationen eine klare FDP-Familie. Und es wurde immer politisiert. Wir waren drei Kinder – der Vater war fast immer weg. Er hat Kraftwerke auf der ganzen Welt gebaut. Überdies war er jährlich einen Monat als Offizier im Militär. Seine Abwesenheit hat uns nicht gross gestört. Er hat nicht gefehlt. Wir wussten, wenn er von den Reisen heimkommt, bringt er Geschenke mit…»
In den 90er-Jahren hat die ABB das grösste Kraftwerk der Welt in China gebaut – dein Vater war da federführend…
«…und im letzten Jahr hat er die ganze Familie nach China eingeladen. Er hat alles generalstabsplanmässig organisiert. Und vor allem wollte er seinen vielen Enkeln zeigen, was er da vor bald 30 Jahren auf die Beine gestellt hat.»
Hattest du einen guten Draht zu deinem alten Herrn?
«Nun – ich war natürlich stets in Opposition. Schon damals. Weil er ein hoher Militär war, fand ich alles Militärische ‹big shit›.
Mein Vater war allerdings nie dogmatisch. Sondern sehr liberal in seinem Denken. Er war mit vielen Dingen, die ich machte, nicht einverstanden. Wir stritten uns darüber. Aber er liess mich dennoch meinen Weg gehen … das war für mich wichtig. Und sein liberales Denken prägend...»
Er politisierte auch?
«Besonders die Familie meiner Mutter war politisch – auch hier alles FDPler. Meine Grossmutter führte ein grosses Haus. Stand immer erst um halb elf Uhr morgens auf. Und liess sich von ihrem Mann den Tee ans Bett servieren. Sie kam von der intellektuellen Seite. In ihrer Familie waren alles Juristen und Ingenieure. Die Grossmutter liebte Dichter-Abende und Theater. Sie ging in die Oper. Und war daneben eine Suffragette, die sich für das Schweizer Frauenstimmrecht starkmachte. Es war damals für Frauen ihres Schlags ein bisschen Mode, eine Suffragette zu sein…»
Und der Grossvater?
«Der stand immer schon früh auf. Er genoss am Morgen die stillen Stunden, die er für sich hatte, bevor die Grossmutter das Zepter übernahm. Wenn wir bei ihnen im Sankt-Gallischen zu Besuch waren, fanden wir Kinder den Grossvater schon früh am Küchentisch. Er schnitt die Brotbrocken für den Milchkaffee in pingelig exakte, quadratische Würfel…»
Dein Vater hat euch also nach China eingeladen, um den Enkeln seine Vergangenheit näherzubringen.
Markus Somm lächelt jetzt: «Als wir bei den Chinesen ankamen und mein Vater schon fast wie ein König empfangen wurde, als ich dann spürte, wie seine Enkel ihn für dieses riesige Monument am grossen Jangtse bewunderten, da war ich wirklich stolz auf ihn. Ich fühlte mich ihm sehr nah.
Die Chinesen haben zu seinen Ehren einen Baum gepflanzt – und er war sichtlich gerührt … ICH SPÜRTE AUCH, WIE ER IN SEINEN ENKELN SEINE EIGENEN KINDER ENTDECKTE, ZU DENEN ER NIE DENSELBEN ZUGANG HABEN KONNTE.»
Ihr wart also eine grosse Familie?
Er lacht jetzt: «Ich war der Mittlere und hatte einen älteren Bruder, den ich bewunderte. Aber natürlich rivalisierten wir auch. Das hat mich geprägt. Es machte mich ehrgeizig. Hinzu kam: Wenn du als Bub immer zu den Kleinen gehörst, musst du dich etwas mehr anstrengen, wenn du dich durchsetzen willst…»
BIST DU DESWEGEN SO STREITSÜCHTIG?
Er sperrt die kleinen Augen theatralisch gross auf: «Wer? Ich? Streitsüchtig? Das bin ich nicht. Ich bin nur diskussionsfreudig…»
Gut. Aber du provozierst. Du hast mal gesagt, der grösste Feind sei immer der Konsens. Da sei die Gefahr zu gross, dass eine Herde Falschdenkender in dieselbe Richtung läuft.
ABER WAS IST FALSCH?
In einem Zeitungsbericht hat ein Kollege geschrieben: «Somm hat viele verschiedene Wege eingeschlagen. Mal war er links. Mal rechts. Aber eines war Somm immer: dagegen!»
«Wie gesagt: Ich gehörte als Bub zu den Kleinen. Und musste zwei Dinge gut können: Gut rennen. Und gut reden. So kannst du die meisten Konflikte für dich entscheiden!»
Du wolltest auch immer der Anführer sein.
«Mein Vater liess uns Buben die Wahl offen: Pfadi. Oder Fussball-Club. Ich entschied mich für die Pfadi. Und habe diese Zeit sehr genossen – dort konnte ich meine Führungseignung ausprobieren. Ich wusste, wie man Gruppen zusammenstellte. Spürte, wer zu wem passte – das ist mir später in den Redaktionen zugute gekommen!»
Du hast dann in Deutschland studiert…
«Ja. Das Weggehen aus der Schweiz, aus dem sicheren Daheim, war wichtig. Ich belegte in München an der Uni alte Geschichte – und ich wohnte in meiner ersten WG.
Ich nabelte mich ab.
Später studierte ich in Bielefeld weiter. Wieder kam ich in eine WG. Man nahm mich freundlich auf – so quasi als den kleinen, netten Eidgenossen mit dem lustigen Deutsch. Da wollte ich denen zeigen, dass wir Schweizer nicht nur herzig sind…»
ZURÜCK IN ZÜRICH HAST DU DANN DIE LINKE SZENE AUFGEMISCHT…
«…da war mein Vater nicht sonderlich glücklich darüber. Aber er liess mich machen. Als ich Anita kennenlernte und wir bald unsere Familie gründeten, war ich dann 30. Links sein muss man sich leisten können. Jetzt musste ich arbeiten…»
Das ist jetzt aber sehr spitz ausgedrückt!
«ICH WILL EINFACH SAGEN: ICH MUSSTE JETZT EINE FAMILIE ERNÄHREN.
Im Übrigen war ich nie radikal links. Dogmatisch zu sein, fand und finde ich – ob links oder rechts – eh nur dumm…»
IHR SEID EINE GROSSE FAMILIE – FÜNF KINDER.
«Das bedeutet zusammen mit Anita: sieben Meinungen. Der Streit am Mittagstisch ist vorprogrammiert…»
Du geniesst das?
«Es ist nie langweilig.»
DU WARST AUF ABSCHIEDSTOURNEE WIE DIE DON KOSAKEN BEIM SCHLUSSKONZERT. DU HAST ZWEI MONATE LANG IN BASEL ADIEU GESAGT.
NUN WARTET AMERIKA.
«Ich werde vermutlich ein Buch schreiben. Kein Schweizer-Buch – ein europäisches Thema. Und ich bin an einem Studienprojekt in Harvard: Wohin entwickeln sich die neuen Medien? Denn die Finanzierung funktioniert beim digitalen System nicht…»
DIE GANZE FAMILIE ZIEHT MIT …WIEDER EINE GROSSE VERÄNDERUNG IN DEINEM LEBEN …
Er wird nun ungewohnt still: «Irgendwie tut der Abschied von Basel eben auch ein bisschen weh… ich weiss nicht, ob der Entscheid richtig war. Wir hätten es wohl noch vier, fünf Jahre durchziehen können… aber danach wäre es noch schwieriger geworden.»
Er steht auf:
«Natürlich sagt man immer: Wir sehen uns wieder … ABER WIR WISSEN ALLE, DASS DIES FLOSKELN SIND. Die Reise nach Zürich hierher dauert kaum eine Stunde. In der Schweiz ist das aber viel. Sehr viel… Basel ist sehr weit weg.»
Er wuselt zum Ausgang. Zieht den Rollkoffer hinterher – und ist verschwunden.
ZURÜCK BLEIBT EIN KURZER MOMENT ZEITUNGSGESCHICHTE DIESER STADT.