Hans Pieren: «Der Schnee ist ein perfides Element»

Hans Pieren

Die Nasenflügel beben.

Die kleinen Augen blinzeln.

Dann schnuppert die Nase wieder die Luft.

Schliesslich nickt Hans Pieren:

«Es schmeckt nach Schnee… viel Schnee…»

HANS PIEREN IST DER SCHWEIZER PISTENFLÜSTERER.

Er kennt jede Schneeflocke, die kommt. Weiss, wie sie beschaffen ist. Wie man sie hält. Für die Piste bearbeitet. Oder auch aus dem Hang wegfegt.

Denn punkto Skipiste macht ihm keiner etwas vor. Für sie rufen sie ihn an alle Rennen dieser Welt. Bald auch an die Olympischen Spiele. Aber vorher ist Adelboden. Dort, wo alles begonnen hat. Und wo er daheim ist.

«Du kannst in der ganzen Welt herumreisen – aber diese Berge hier holen dich immer wieder zurück. Sie sind wie ein Magnet. Oder die langen Arme einer Mutter…»

Wir treffen ihn im Chalet. Und zwar zur Sommerzeit.

Hier, vor der grossen Weid ist er daheim. Am Fusse des Chuenisbärglis –dieses Skibergs, der zu den schwierigsten Slalom- und Riesenslalompisten der Welt zählt.

«Du kannst ruhig sagen: Es i s t die schwierigste Rennpiste. Allerdings auch für die Pistenmacher. Der Skihang hier braucht unendlich viel Einsatz, Technik und Know-how, bis er zum legendären CHUENISBÄRGLI präpariert werden kann...»

Er zeigt auf den Hügel, der für den Laien harmlos aussieht. Der aber sowohl den Fahrern wie auch den Pistenbearbeitern einiges abverlangt:

«Wir liegen hier in Adelboden exponiert. Der Föhn ist unberechenbar. Er bringt im Sommer den Bauern wohl einen besseren Heuertrag. Aber im Winter kann der warme Südwind den kostbaren Schnee in wenigen Sekunden total aufweichen oder sogar wegfegen.

Auf der ganzen Piste haben wir drei Meteo-Stationen verteilt, die uns genaue Daten liefern. Wichtig ist es, aufs Rennen hin minutenklar bereit zu sein… also manchmal in letzter Sekunde noch etwas zu präparieren… und mit dem Salz zu zaubern…»

Mit dem Salz?

«Ja. Salz hat eine physikalische u n d chemische Wirkung. Salz ist nicht einfach Salz. Bei aufgeweichter Piste benutzen wir für das Aufbauen einer Rennstrecke bis zu vier oder sogar fünf verschiedene Sorten. Wichtig ist die Körnung…»

Und weil Salz nicht einfach Salz und Schnee nicht einfach Schnee ist, hat Hans Pieren die Salinen in Rheinfelden besucht:

«Ich habe dort die Salze untersucht. Und nach einer grobkörnigen Art gefragt. Das hatten sie dann – und so ist auch die Saline von Rheinfelden bei den Rennen mit von der Partie…»

Als Schneeflüsterer hat sich Pieren weltweit einen Namen gemacht. Als in Sotschi 2014 die Half-Pipe-Piste zu «brechen» drohte, hat man Pieren alarmiert:

«Ich war von 2005–2014 Renndirektor der FIS. Olympische Spiele ohne die spektakulären Ski- und Snowboard-Events in der Half-Pipe wären ein Desaster gewesen. Sie liessen mich holen. Und es eilte. Die Half-Pipe war in einem desolaten Zustand: Die Wände und der Boden waren viel zu weich. Die geforderten Sprünge wurden so für die Sportler ein Ding der Unmöglichkeit.

Also kabelte ich nach Rheinfelden zu den Salinen. Und liess 20 Tonnen von unserem speziellen Salz einfliegen. Rund 18 Tonnen waren für die andern Disziplinen – die hatten nämlich dieselben Probleme.

PUTIN HAT DAMALS DIE PISTE ZUR CHEFSACHE GEMACHT. So war das Salz innert 36 Stunden auf dem Hang. Und alles wurde rechtzeitig fertig.»

Schnee hat Pieren bereits als kleiner Bub fasziniert:

«Ich war alles andere als ein Stuben-Kind. Ich wollte draussen sein. Bei Regen und Wind. Vor allem, wenn es schneite. Die Flocken faszinierten mich. Ich streckte die Zunge heraus – und wollte sie schmecken.»

Als er in den frisch eröffneten Kindergarten des Orts gehen sollte, brüllte er sich die Wut aus dem Bauch: «Ich will nicht dorthin… nicht eingesperrt sein!»

Heute lacht er darüber:

«LESEN ODER EINFACH NUR SPIELEN – DAS WAR WIRKLICH GAR NICHT MEIN DING. ICH LANGWEILTE MICH IN DIESER KINDERSCHULE. NUN JA – WENN DIE TANTE MÄRCHEN ERZÄHLTE, LIESS ICH MIR DAS NOCH GEFALLEN. ABER EINFACH NUR HERUMWERKELN UND LIEDLEIN SINGEN – NEIN! DA WAR DIE NATUR DRAUSSEN SCHÖNER. SPANNENDER…»

Er weiss noch heute, wie er im Kindergarten jeweils die Pause herbeigesehnt hat:

«Ich hockte auf einem Baumstamm. Schob mir eine halbe Banane rein. Und dachte: SO. DER ERSTE LAUF IST GELAUFEN. MACHEN WIR UNS AN DEN ZWEITEN…»

Zu Hause aber hat er dann getobt: «DA GEH ICH NIE MEHR HIN. ICH WILL NICHT MEHR!»

Die Eltern berieten sich. Und handelten mit dem Knirps einen Deal aus: «Du besuchst den Kindergarten noch bis zum Herbst – dann darfst du im Winter Ski fahren! O. K.?»

Es war mehr als o. k. Denn Skifahren bedeutete für den Fünfjährigen schon damals «die herrlichste Sache der Welt!».

Noch in den Windeln jagte er am Chuenisbärgli als kleines «Grüüfi» bereits die Piste herunter. «Da wurde man noch mit dem Bügellift auf den Gipfel gezogen. Wenn eine Steilstelle kam, hat mich der Holzbügel jeweils so fest hochgezogen, dass ich in der Luft schwebte. Und achtgeben musste, nicht runterzufallen.

Aber mir war schon damals klar: «Ich will mal Profifahrer werden!»

Die Eltern – sein Vater war Wirt auf dem «Geilsbrüggli» und kaufte später das Hotel Interlaken im berühmten Ferienort desselben Namens – die Eltern also unterstützten den Jungen in seiner Ski-Begeisterung.

«Ich kam in die JO – das ist die Jugendorganisation, die schweizweit gute Skifahrer ausbildet und rekrutiert. Aber natürlich stand eine Berufslehre im Vordergrund. Also entschied ich mich für «Koch». Und lernte im Hotel meines Vaters.

In Interlaken kannte man damals aber noch keine Wintersaison. Die Hotelzimmer meiner Eltern hatten nicht einmal Heizungen. Der sogenannte «Winterkomfort» kam erst in den 80er- Jahren mit dem Bau des Hotel Metropole …

Ich machte also die Schnee-Saison zu Hause in Adelboden. Genauer: im «Schönegg». So konnte ich während der Zimmerstunden immer direkt auf die Piste. Mein Patron hatte ein Faible für den Skisport. Er drückte jeweils ein Auge zu, wenn ich nicht in der Küche, sondern beim Trainieren oder an einem Rennen war…»

Das grosse Vorbild war Ingemar Stenmark:

«Ich habe ihm am Chuenisbärgli-Skilift so lange abgepasst, bis ich mit ihm auf dem Bügel war. Dann hat er mir ein Autogramm auf meine Skihandschuhe gekritzelt. Habe ich heute noch. Es ist eine Reliquie.

Später sind wir sogar zusammen am Chuenisbärgli Rennen gefahren: Ich wurde 15. Es waren meine ersten Weltcup-Punkte. Und Stenmark war der Sieger!»

Nach der Koch-Abschlussprüfung kam Pieren in die B-Mannschaft des Schweizer Skiteams. Er fuhr Spitzenresultate – aber er wurde auch mit den Intrigen und dem Neid im Skisport konfrontiert.

Sein Material-Ausrüster war Atomic:

«Doch irgendwie kamen Andreas Wenzel – er war der Renn-Boss dort – und ich nicht auf einen Nenner. Plötzlich stand mir kein Servicemann mehr zur Verfügung. Sie nannten es «Umstrukturierung».

Nun gut – so schnell gebe ich nie auf. Also entschloss mich, meine Skis künftig selber zu präparieren. Das hatte ich früher auch immer gemacht. Ich bin ein «Tüfteler». Und das kam und kommt mir zugute…»

Er erinnert sich an seine erste «Transformation» eines Skis:

«Die Spitze war mir zu wenig hart. Also habe ich mit meinem Schreiner-Freund Hanspeter Bärtschi an den Latten herumgearbeitet … Wir suchten den besten Leim … klebten ein neues Vorderstück zusätzlich auf die Latten …und pröbelten so lange, bis die Skis dennoch geschmeidig und biegsam waren. MIT DIESEM SKI WURDE ICH DANN PROMPT BEIM WELTCUPFINALE IN DEN USA 7. Das war der erste Schritt, bei dem ich lernte, die Latten selber zu präparieren … DER SKI WURDE DANN ÜBERALL HERUMGEZEIGT. MEINE ERSTE REKLAME, QUASI…»

Er klopfte nun bei Rossignol an:

«Ich wollte nur den Ski. Den Rest habe ich selber gemacht – den Service, Feinschliff, alles…»

Und Abfahrt? Die grosse Disziplin. Nie ein Thema?

«Nein. Davor hatte ich einfach zu viel Schiss… zu viel Respekt … Das ist nicht die richtige Voraussetzung für einen guten Abfahrer…»

Plötzlich Ende der 80er und Anfang der 90er-Jahre mischte Pieren ganz vorne mit. Er rangierte hinter Tomba als Zweiter auf der Liste des Riesenslalom-Weltcups («und dabei fuhr ich nur im B-Kader!»).

WAR DIES DAS GROSSE GELD?

Er lacht:

«SKIFAHREN IST NICHT TENNIS. DIE PREISGELDER FÜR EIN RENNEN SCHWANKEN HEUTE UM 120 000 FRANKEN – DIESE WERDEN UNTER DEN ERSTEN 30 AUFGETEILT. DER ERSTE BEKOMMT SOMIT ETWA 35 000 FRANKEN – DER 30. VIELLEICHT 350! ALSO WEIT VON DEN TENNISPREISSUMMEN ENTFERNT…»

Er relativiert: «In diesem Sport geht fast alles Geld an die Verbände. Sie betreuen dich aber auch. Und bezahlen alles.

Beim Tennis hingegen muss der Spieler mit dem Preisgeld sein ganzes «Unternehmen» bestreiten – vom Trainer bis zum PR-Mann und Physiotherapeuten. Das kostet viel. Der Tennisspieler baut also schon während seiner Aktiv-Zeit ein Geschäfts-Imperium auf. Der Skifahrer nicht. Das grosse Geld machen hier nur ganz, ganz wenige…»

Dazu kommt, dass die Glanzzeiten schnell vorbei sind …

«STIMMT. SOWOHL BEIM TENNISSPIELER WIE BEIM SKIFAHRER. DER MANN UND DIE FRAU AUF DEM SCHNEE TUN ALSO GUT DARAN, SICH FRÜH ZU ÜBERLEGEN: WANN HÖRE ICH AUF? UND WAS TU ICH DANACH…?»

Pieren zog sich 1993 vom aktiven Skisport zurück. Seither hat er sich ganz dem Schnee sowie der Materialausrüstung gewidmet.

Seine Adelbodner Versand-Firma «Pieren Top Products» ist nicht nur bei Profi-Rennfahrern ein Begriff. «Skiverrückte» aus aller Welt rufen ihn. Oder schauen in seinem Geschäft in Adelboden herein.

«Unsere Kundschaft sind alle diejenigen Menschen, die ihre Skis auch selber behandeln. Wir verkaufen nicht etwa Skis, Bindungen oder Skischuhe – wir konzentrieren uns ganz auf den individuellen Skibau. Und helfen den Kunden, ihre oft sehr speziellen Wünsche umzusetzen. Dazu bieten wir ihnen stets die neusten Materialien und Technologien an.»

Für den Ruhestand ist er noch zu jung. Aber im Sommer, wenn er auf der ganzen Welt die Pisten präpariert hat, ist Ruhe:

«Da ziehe ich mich ein paar Wochen nach Südspanien zurück…»

SPANIEN? Ist das die zweite Heimat neben dem Chuenisbärgli…?

Seine Augen blitzen wieder: «Könnte man fast so sagen. Jedenfalls ist das Meer eine wunderbare Ergänzung zu den Bergen.

Meine Mutter litt unter starkem Rheuma. Also zog mein Vater mit ihr ins andalusische Roquetas de Mar. Sie eröffneten hier ein Restaurant. Und das lief wunderbar.

Daneben bauten sie ein Haus. Für sich und die Familie.

Als mein Vater drei Jahre später plötzlich starb, haben wir das spanische Restaurant aufgegeben. Aber das Haus haben wir behalten. Deshalb ist das Ganze doch auch etwas wie eine zweite Heimat…»

Und die Kocherei?

Jetzt grinst er: «Nun ja – um ehrlich zu sein: Ich lasse mich lieber bekochen. Ich sitze gerne an den gedeckten Tisch. Und freue mich, wenn meine Frau für mich etwas Köstliches aus der Pfanne zaubert. Man muss im Leben ja auch delegieren können – und Ursula kocht sehr gut. DA BIN ICH DANN DER RICHTIGE GENIESSER…»

Natürlich ist Pieren als legendärer «Schneeschnupperer» auch für den grossen Skizirkus unterwegs. Jetzt, kurz vor den Adelbodner Skitagen ist er eben aus Südkorea von den Olympia-Pisten zurückgekommen. Er wird dort ab übernächster Woche für zwei Monate an den Olympischen Spielen und danach an den Paralympics wirken.

Er hilft dann mit, den Schnee zu formen, die weisse Unterlage zu bauen:

«Früher hat man darauf zählen können: Im Winter schneit es. Da fahren wir Ski. Und organisieren die Rennen.

Ich erinnere mich aber, dass die Adelbodner Skitage – das war lange bevor der Weltcup 1967 in Chile gegründet wurde – die internationalen Adelbodner Skitage also, hatten schon vor einem halben Jahrhundert mit dem Chuenisbärgli und dem Schnee ihre Probleme. Damals sind die Organisatoren auf die Tschentenalp ausgewichen, wenn das Chuenis grün war.

Zwischen 1968 und 1993 wurde die Hälfte der Adelbodner Rennen auf der Tschenten gefahren, weil eine Piste und somit ein Riesenslalom auf dem Chuenis einfach unmöglich waren…»

Irgendwann hat man doch auch einen Teil vom Grimsel-Schnee nach Adelboden hertransportiert. So lange ist das nicht her…

«Stimmt. Das war Ende der 90er-Jahre. Die Skination Schweiz musste sich gegenüber der Touristenwelt als «schneesicher» zeigen. Also wurde der Schnee ins Berner Oberland importiert…»

HEUTE IST DAS ANDERS – DANK DER NEUEN TECHNIK. UND DER ALTEN ERFAHRUNG VON HANS PIEREN.

«Ich habe schon als kleiner Bub zusammen mit meinem Freund Hanspeter Bärtschi Pisten gebaut. Wie hätten wir sonst Skifahren können, wenn es keinen Schnee gab…?!»

Bärtschis Bruder hat im Gilbach den kleinen «Idiotenhügel» mit dem Feuerwehrschlauch gewässert:

«…und wir sind dann einfach auf Eis gefahren…»

Er überlegt. Und wieder beben seine Nasenflügel:

«Ich habe Erfahrungen gesammelt – und gelernt: Der Schnee ist eines der perfidesten Elemente, das es auf unserer Erde gibt. Die Kristalle schmelzen. Dann frieren sie zehn Minuten später wieder zu. Und verändern so ihre Oberfläche unaufhörlich. Die kühle, herrliche Decke ist immer wieder anders.

Nicht umsonst kennen die Eskimos über 40 verschiedene Worte für Schnee…»

Was Hans Pieren mag

Er mag:
Familie, Windsurfen, Meer und Berge – und richtig schönen Schneefall («doch nicht gerade vor dem Skirennen beim Pistenpräparieren!»)

Er mag nicht: das lange Um-den-heissen-Brei-Herumreden… unnötiger Büroaufwand und wenn er selber singen muss…

Samstag, 6. Januar 2018