Ich warte im Hotelgarten auf ihn. Um mich: Wagner in Gold. Wagner in Gips. Wagner in Öl. Wagner in Marzipan.
Bayreuth ist das Mekka der Wagnerianer. Einmal pro Jahr wirft sich auch Frau Merkel in ihr Rüschellanges. Sie packt das Handtäschchen. Winkt sich über den roten Teppich. Und singt die Polit-Walküre.
Als ich in den deutschen Blättern las: «Res von Graffenried – als neuer Bühnentechniker auf den Hügel berufen!», da wusste ich: JETZT HAT ER ES GESCHAFFT.
Zum letzten Mal hatte ich den Basler an einem Käsestand in Berlin gesehen. Mit holländischem Käse. AUSGERECHNET. Kein Eckchen Appenzeller oder Adelbodner Mutschli. Und das, obwohl er seine Wurzeln in der Schweiz und sein Herz auf einer Adelbodner Alp hat!
Ich rufe ihn an. Das war noch während der Festspielzeit: «Können wir uns irgendwann mal treffen, bevor Holländers Senta ins Meer hüpft...»
Lakonische Antwort: «Sie springt bei uns nicht. Sie erdolcht sich mit einem Schnitzmesser...».
Und dann:
«Ich maloche hier seit über zwei Monaten. Alles nonstop. Rund um die Uhr. Kein freier Tag. Keine Verschnaufpause. Nur Musik. Hebebühnen und Primadonnen. Dazu dann Wagner und sein finsterer Blick, der mich überall verfolgt. Festspiele halt. Aber am Donnerstag nehme ich 24 Stunden Auszeit...»
Ich ziere mich: «Ach Gottchen, da will ich aber nicht stören...»
Natürlich ist das nur so dahin- gesülzt. Und er geht darüber hinweg, wie die Dampfwalze über den Teer.
«Wir fahren aufs Land. Zum ‹Schwarzen Ross›. Eine Knödel-Knille. Das beste Essen weit und breit. Dazu das köstlichste Bier. Ich zeige dir eine Landschaft, die genauso bewegend ist wie eine Wagner-Ouvertüre. Diese fränkische Schweiz ist so verträumt wie Adelbodens Engstligenalp beim Nebelwalzer...»
Im Hotelgarten gehen ältere Herrschaften auf und ab. Nur wenige tragen Smoking. Oder Schleppenkleider. Man ist auf die letzten Vorstelllungen eingestellt – da ist der Lack bei den Besuchern ab. Den Gockeltanz gibts nur an Premieren – ansonsten kann Bayreuth auch ein gemütliches Wurstfest sein.
Auf die Minute pünktlich taucht Res von Graffenried auf. Schweizer eben. Das legt man nicht einfach ab.
Er grinst: «Nun – das hat weniger mit Schweizer als vielmehr mit meinem Beruf zu tun. Alle denken, Theater ist Hoppipoppi. Irrtum. Es ist Präzisionsarbeit – hinter, vor und auf der Bühne. Da geht alles sekundengenau nach Plan. Wehe wenn etwas nicht klappt...»
Wie etwa an der Premiere, als der Käfig mit den Sängern stecken blieb?
«Das war der Schreckmoment der Jahrzehnte. Du weisst: Im Saal hockt die ganze Bauchbinden-Prominenz. Und du bekommst diesen verdammten Käfig nicht hoch...»
Es gab eine Zwangspause – was ist eigentlich passiert?
«Wir haben uns sofort zum Abbruch entschieden. Erstaunlich wie gelassen das die Leute genommen haben ... viel Gelächter ... und alles jagte zur Hügel-beiz, um die Gelegenheit zu nutzen, einen reinzuzwitschern. Tatsächlich hatte sich ein Stück Stoff im Sicherheitsnetz der Versenkung verfangen. Ich bin tausend Tode gestorben... für die Presse war es natürlich ein Fressen...»
Apropos – ich spüre so langsam Knödellust...
Wir brechen also auf. Und fahren über Hügel, an herrlichen Wiesen vorbei – die Bayern sind mit ihrer Landschaft wirklich vom lieben Gott geküsst...
«UM HIMMELS WILLEN. WIR SIND HIER IN FRANKEN. Verstehst du – F R A N K E N. Die wollen mit den Bayern so wenig zu tun haben wie die Basler mit Zürich. Also vergiss Bayern. Und geniess Oberfranken!»
Im «Schwarzen Ross» treffen sich die Theaterleute aus Bayreuth – Sänger, Bühnenarbeiter, Regisseure. Der Wirt, der auch selber das Metzgermesser ansetzt, empfiehlt die hausgemachte Sülze... Ente mit Rotkraut... und natürlich: die Knödel.
Das ist nach Paris bestimmt eine kalorienschwere Umgewöhnung?
Res wischt Paris und die kulinarischen Erinnerungen vom Tisch:
«Ach was – in Paris isst man nur in den sogenannten Luxusbeizen wirklich gut. Der Rest ist Steak et Frites... hier aber kannst du praktisch in jede Pinte gehen. Und das Essen ist immer vorzüglich, das Bier perfekt!»
Von Graffenried ist ein Berner Geschlecht... weshalb bist du in Basel aufgewachsen?
«Ganz einfach: Mein Vater war Arzt. Er arbeitete in der Forschung. Damals für Sandoz. So kamen wir nach Basel. Kindergarten in Münchenstein. Und in Binningen die Schulen sowie die Matur in Oberwil. Das war eine wilde Zeit – Partys, Mädchen, Joints. Das ganze Programm. Irgendwie wusste ich nicht, wohin der Weg gehen sollte. Ich wusste nur eines: Es muss etwas mit Holz sein. Wald. Natur... das waren so meine Träume...»
Nach der Matur besuchte er Kanada...
«Ja eben: Naturerlebnisse. Bäume. Kanada ist ja toll mit seinen Wäldern, Flüssen und Seen. Ich entschloss mich, Forstingenieur zu werden. Meldete mich bei der ETH an... aber in Zürich wurde ich depressiv. Ich war nun mal eher der Happy-hippy-floppy-Typ. Und die ETH war eine entsetzlich strenge Mühle... viele Streber... nichts für mich. Aber eines wusste ich: Holz musste es sein. Also machte ich eine Schreinerlehre... in Basel.»
Er begann die Lehre in Allschwil – wollte sie aber abbrechen:
«Körperlich war es eine Riesenherausforderung. Wir machten Fenster, Türen, Böden... also heavy work. Dazu kamen meine ganz persönlichen Orientierungsprobleme...»
Aha?
«...ich fühlte mich plötzlich zu Männern hingezogen. Ich hatte vorher Frauen geliebt. Viele Frauen. Meine grosse Liebe war eine wunderschöne Blondine, die mich sitzen liess. Aber nun törnten mich plötzlich auch Männer an... ich war hin und her geschüttelt. Gottlob kam Paul...»
Radio- und Fernsehmann Paul Burkhalter wurde nicht nur sein bester Freund – er war Mentor, Vaterfigur und...
«...er paukte mich durch die Schreinerlehre. Er sagte mir einfach, wos lang geht. Ohne ihn hätte ich die Kurve wohl nie gekriegt... er ist zweifellos eine der wichtigste Figuren in meinem Leben.»
Er hat ihm später auch eine Schreinerstelle in der Werkstatt der Basler Theater besorgt:
«Ja. Theater war immer meine Welt. Besonders Oper. Aber hier war ich nun hautnah am Geschehen. Ich konnte mit Regisseuren wie Wernicke arbeiten – und ich lernte, sog alles wie ein Schwamm in mich auf.
Reinhold Jentzen, damals der technische Direktor in Basel, förderte mich.
Er meinte, das mit der Schreinerei sei gut und recht. Aber ich sei doch eher für ein Studium strukturiert. Er klopfte mir auf die Schulter: ‹Nimms an die Hand: werde Ingenieur für Theater und Veranstaltungstechnik!›
Das war immerhin ein ziemlich langes Ingenieurstudium? Hat dich DAS nicht abgeschreckt?
«Es war wieder Paul, der mir zuredete. Also fuhr ich nach Berlin. Und begann 1999 mein Studium als Theatertechniker. Um ein bisschen Geld zu verdienen, habe ich einem Freund am Käsestand ausgeholfen...»
Das Studiujm war schwer. Es galt auch, ein Praktikum zu machen:
«Mitten im Winter war ich bei einer Dresdner Firma. Wir bauten am Berliner Potsdamer Platz – und ich war umgeben von sächsischen Stahlarbeitern. Meine Wohnung war in Lichtenberg. Das hiess: um 5.00 Uhr aufstehen. Eiseskälte. Und dann: körperliche Schwerstarbeit. Aber das Ganze hat mir auch viel gebracht: Heute kann mir kein Bühnenarbeiter ein X für ein U vormachen. Ich weiss, wie der Hase läuft. Und kann immer auch selber Hand anlegen. Das verschaffte mir stets viel Respekt...»
Du bekamst nach deiner Diplomarbeit 2003 gleich eine Stelle als Assistent des technischen Direktors an der deutschen Oper in Berlin.
«Ja. Und das war spannend. Hier habe ich auch Katharina Wagner kennengelernt. Ich betreute ihre ‹Triptychon›-Inszenierung in Berlin...»
Dann kam die Pariser Zeit. Théâtre du Châtelet.
«Nun ja – Berlin hatte ich nach sieben Jahren gesehen. Ich wollte Neues. Anderes. An einem Nachtessen beim Berliner Bürgermeister lernte ich den Direktor des Théâtre du Châtelet kennen. Er erzählte mir, sie würden für ihren technischen Direktor einen Assistenten suchen. Der Mann würde nur Französisch reden. Und das Châtelet hatte eben doch sehr viele internationale Gastspiele. Man brauchte ein bisschen Sprachkenntnisse. Irgendwie hatte ich da als mehrsprachiger Schweizer gute Karten...»
Das Châtelet hat Produktionen aus allen Erdteilen...
«Ich jettete so ziemlich auf der ganzen Welt herum. Auch nach Mumbai, um mit einem Bollywood-Regisseur wegen eines Auftritts zu verhandeln. Er wollte zwei Elefanten auf die Pariser Bühne bringen... ich musste zwischen dem Direktor und dem Regisseur hin und her übersetzen, musste auch vermitteln... ich hatte als Schweizer da so etwas wie eine ausgleichende Botschafterrolle...»
Er lacht: «Es wurde dann e i n Elefant...»
Paris betrachtet Res von Graffenried als wunderbare Zeit, weil:
«...der Bühnentechniker ist dort wirklich der Star. Die Franzosen sind Ästheten... das perfekte technische Make-up ist wichtig. Manchmal gar wichtiger als Stimme oder Musik...»
Er liebt Paris:
«...allerdings ist es nur eine schöne Stadt, wenn man genug Geld hat. Ich habe viel anderes gesehen. Das machte traurig, gab zu denken. Dann ist der technische Beamtenapparat natürlich ein Gräuel... ich lernte die Schweiz schätzen.»
Nach Paris also Bayreuth?
Res von Graffenried nickt: «Es ist der Olymp des Musiktheaters... in jeder Ecke schmeckt man Musikgeschichte... wenn einer durch den Gang zum Musikergraben geht, hängen dort die Bilder aller Dirigenten, die hier mal den Taktstock geführt haben... jeder hat für Bayreuth einen Gruss hinterlassen... Strauss, Furtwängler, Karajan... so etwas lässt keinen kalt...»
Wie hat man dich hierhergerufen?
Augenzwinkern: «...ganz einfach: über Facebook. Ich habe dir ja erzählt, dass ich in Berlin Katharina Wagners ‹Triptychon› von Puccini betreut habe. Sie wurde eine Facebook-Freundin. Und als solche schrieb sie mir eines Morgens: «Wir brauchen hier einen, der mit dieser komplexen Technik klarkommt. Du kannst das.»
Er hat nicht lange überlegt. Und zugesagt. Am 7. Januar 2013 kam er auf den Hügel – da paukte man das 200-Jahre-Wagner-Jubiläum über die Bühne. Und es trommelten erste Erfahrungsmomente: Bayreuth – das ist grosse Oper. Aber eben doch ganz anders:
«Die Dekadenz liegt neben dem Grossartigen... das Grauenvolle neben der höchsten Kunst... das ist mehr als faszinierend. Das verschlägt einem mitunter auch den Atem. Alleine schon das Theater mit diesem einzigartigen Vorhang, den Wagner noch so konzipiert hat, mit dieser Akustik, welche so speziell ist – das alles macht den Hügel zu einem andern Planeten. Japanische, chinesische, russische Wissenschaftler studieren unser Opernhaus. Und dessen einzigartige Akustik mit dem Orchester im Graben. Einige Dirigenten hatten übrigens Mühe mit diesem Graben und dem verzögerten Ton – er kommt leicht verspätet von der Bühne herüber. Karajan tat sich sehr schwer mit dem versteckten Orchester, auch Solti hatte Probleme...»
Du bist also im Opern-Olymp angekommen – aber wie geigt der Alltag in Bayreuth? Der Ort ist doch nach Berlin und Paris ein winziges Pflaster. Fast schon schlafende Provinz, wenn nicht gerade die Wagner-Ladys zu den Festspielen pauken...
«Hier leben 75 000 Leute – davon sind 13 000 Studenten. Bayreuth ist also eine junge Stadt. Die Lebensqualität ist grossartig. Ich gehe ins Liszt-Museum. Bezahle 2 Euro Eintritts-Obolus. Und bin zwei Stunden alleine im Haus.
In Paris steht man einen Tag lang an der Kasse Schlange.
Ich geniesse hier eine Prachtwohnung für einen Drittel, als ich in der Schweiz berappen würde. Ich habe mir erstmals ein Auto gekauft. Occasion. Wackliger Schlitten. Und so gondle ich mit meinem Mercedes 2001 durch diese wunderbare Landschaft, durch die fränkische Schweiz. Und schaue mir die Schlösser an.
Ich fühle mich superwohl hier – und doch...»
Und doch?
«Nun ja – manchmal kommt eben ein bisschen Heimweh auf. Ich freue mich auf meine Ferien in Adelboden, aufs Haus, das mein Grossvater (er war Botschafter) dort gebaut hat, damit er ein Stück Heimat in den Bergen hatte, auf das er sich in seinen Auslandsjahren freuen konnte... ich selber freue mich auf alle Kindheitserinnerungen, die mich in diesem Haus erwarten... auf den Spaziergang über die Engstligenalp zum Fuss des Wildstrubels...mitunter hat mich die Schweiz mit ihrer oft so konservativen, mitunter kleinkarierten Art irritiert. Aber wen man weit weg vom Schuss ist und andere Lebensformen kennengelernt hat, relativiert die Distanz eben viel.»
Er macht eine Pause. Und lächelt fast etwas schüchtern:
«Manchmal fehlt einem die Heimat eben. Himmel – das tönt jetzt schwül und schwer wie eine Wagner-Arie... aber der Vergleich mit der Wagner-Arie trifft...»
Und die Zukunft? Immer Bayreuth? Sie suchen ja den neuen technischen Direktor – und knödeln da hin und her.
Er lächelt – und zitiert aus dem Rheingold:
«...alles, was ist, endet!»
Sagts. Und haut den letzten Knödel rein.
Res von Graffenried verliess die Bayreuther Festspiele am 1. Dezember. Er hat die Festspielleitung um die Auflösung seines Vertrags gebeten.
«Die Dekadenz liegt nebem dem Grossartigen, das ist mehr als faszinierend.»
«Dazu dann Wagner und sein finsterer Blick, der mich überall verfolgt. Festspiele halt.»
Was Res von Graffenried mag:Die Engstligenalp
Fränkisches Bier
Wagner und junge Musik
Rassismus
Snobs
Froschschenkel
Und Intrigen (die im Theaterbetrieb leider allzu oft rumsumpfen)