Es ist beissend kalt. Eisig. Immerhin - durch die kahlen Äste der alten Bäume äugt die Sonne. Sie verspricht Wärme und Hoffnung.
Ich wickle Innocent in zwei Wolldecken. Und stülpe die Wollmütze auf sein kräftiges Haar. Dann starten wir unseren täglichen Spaziergang im grossen Park.
Der Dialog wickelt sich etwa so ab:
«Ist das hier Italien?» «Nein - wir sind in Basel.» «Aha. Und wie heisst unser Hotel?» Ich zögere einen Moment, dann: «Es ist das Hotel Clara...»
Er schaut jetzt zur Sonne, die ein paar nackte Äste kitzelt:
«Wann fahren wir auf die Insel?» «Bald» - sage ich. «Wann ist bald?» Ich antworte zu oft mit «bald». Und immer fragt er nach: «Wann ist bald?» «Bald ist bald», sage ich. Und weiss, dass dies keine Antwort ist.
Innocent hat die letzte von sechs Chemotherapien hinter sich. Er ist abgemagert - ein dünnes Klappergestell. Wir applaudieren jedem Gramm, das er mehr auf die Waage bringt. Da er immer weiter in seine eigene Welt abtaucht, hat die Demenz auch etwas Gütiges: Sie verbirgt ihm die Realität.
Im Spitalgarten schmeckt man bereits das Christkind. Zwei, drei Bäume tragen ein Lichterkleid.
«Bald ist Weihnachten», flüstert Innocent aus den Decken. Sein Kopf ist weiss wie Kerzentalk. Und seine Augen schauen aus zwei dunklen Höhlen. Ein Mann in weisser Pfleger-Kleidung eilt an uns vorbei. Er pfeift «Jingle bells...».
«Weihnachten sind wir auf der Insel!» - nimmt Innocent die Stimmung auf. «Vielleicht.» «Was heisst vielleicht? - Wir sind immer auf der Insel! Spaghetti am Heiligen Abend - hast du das vergessen?» «Wir müssen die Blutwerte abwarten!» «Wir können auch auf der Insel warten.»
Eine ältere Frau bleibt vor uns stehen. Sie nickt mir zu: «Ich beobachte Sie beide seit Wochen.» Dann schauen mich ihre warmen Augen an: «Es ist wunderbar, wie Sie Ihren Freund pflegen bestimmt nicht einfach.»
Ich wachse um fünf Zentimeter. Und Innocent knurrt hinter den Decken: «Und wies mir mit ihm geht, interessiert kein Schwein!»
«Er möchte so gern an Weihnachten auf unserer Insel sein», flüstere ich der Frau zu. Sie nickt: «Ich weiss...»
In diesem Moment wirft uns der alte Baum, unter dem wir stehen, zwei glänzende, dunkelbraune Kastanien vor die Füsse. Die Frau bückt sich. Und hebt sie auf: «Sie werden auf die Insel gehen. Die beiden Kastanien bringen Ihnen Glück und Kraft!»
«Was is...?», meldet sich Innocent zu Wort. «Die Frau hier schenkt dir zwei Kastanien!» «Ein Schluck Barolo wäre mir lieber.»
Natürlich waren die Blutwerte im Keller.
«Wir brauchen Geduld...», hat Dotti mich getröstet. «Nein. Ich würde nicht abreisen. Es ist zu riskant. Er soll die Spaghetti am Heiligen Abend für einmal in Basel geniessen.» «Wir feiern Weihnacht aber seit über 40 Jahren mit Spaghetti auf der Insel...»
Dotti nickt. Sie ist Innocents Ärztin und kennt seine Werte. Aber sie kennt seinen Betonkopf nicht.
Innocent schaut nun also Tag für Tag aus dem Stubenfenster in den Missionspark. Auch hier weht der Vorweihnachtszauber. Die grosse Reben-Voliere funkelt im Lichterkleid.
Mein Freund aber blickt traurig auf das Gefunkel: «Wann fahren wir auf die Insel?» «Bald.» «Die Frau mit den Kastanien hat gesagt, wir würden ganz bestimmt fahren...» «WO SIND DIE ZWEI KASTANIEN?» «Weiss nicht...»
Ich durchkämme sein Zimmer. DOCH DIE BRAUNEN KUGELN SIND WEG. DABEI HATTE ICH SIE IHM MAHNEND AUF DEN NACHTTISCH GELEGT: «Sie bringen Glück!» «Was du immer weisst!»
Und dann kam diese Nacht eine Woche vor dem Heiligen Abend. Der Himmel ist voll mit Sternen behangen. Innocent sitzt am Fenster. Und stiert seit Stunden auf die Lichter-Voliere im Missionsgarten. Jetzt fragt er wohl zum tausendsten Mal:
«Wann fahren wir auf die Insel...» «Bald.» «Wann ist bald?» Ich zögere eine Sekunde. Dann schaue ich ihn fest an: «Bald ist jetzt.»
Er strahlt. Und seine Augen leuchten.
Ich schicke ein SMS an Lida und Nicoletta: «Arriviamo.» Drei Sekunden surrt der Push-Ton zurück: «SIAMO FELICI - wir kümmern uns um alles. Non preoccuparti - keine Sorge!»
Noch in derselben Nacht lade ich unser Auto mit Rollator, Rollstuhl, Atemmasken, zwei Paar Krücken - ach, mit all diesen Kleinigkeiten, die eben dazugehören - voll... Gegen drei Uhr morgens rumpeln wir in Chiasso beim Zoll an. Der Schweizer Beamte äugt nur kurz über die Bagage - dann:
«Sie wissen aber, dass Italien seit heute einen aktuellen Covid-Test will...» «WO BEKOMME ICH JETZT SO EINEN TEST HER?» Er zuckte die Schulter: «Soviel ich weiss, ist der andere Grenzübergang über Como um diese Zeit nicht besetzt. Das haben Sie aber nicht von mir!»
Ich bedanke mich. Und schaue vorwurfsvoll zu Innocent: «Wenn du deine zwei Glückskastanien nicht verloren hättest, hätten wir null Schwierigkeiten...» Er lacht laut auf: «Jeder ist seines Glückes Schmied.» WAS WILL DA EINER NOCH SAGEN?
Tatsächlich steht dann keiner am Zoll. Und wie wir gegen Mittag auf der Insel ankommen, lachen Lida und Nicoletta uns entgegen «Benvenuti!» Neben ihnen stehen ein Rollstuhl, ein Rollator und eine Apnoe-Maschine. Wir haben jetzt alles im Doppel.
Nun kommt auch ein kleines altes Männchen auf uns zugewackelt. Lida stellt ihn vor: «Das ist Dottore Fanelli - unser Inselarzt. Seit bald 70 Jahren. Er kennt jeden hier. Und alle Krankheiten dieser Welt...» Innocent streckt dem Männchen beide Arme entgegen: «Dann klopfen Sie mich schon mal ab, Dottore... die Fahrt war lang!»
Der kleine Medikus hilft ihm grinsend aus dem Rollstuhl: «Ich vermute, wir sollten jetzt beide erst mal einen Grappa zur Brust nehmen ärztlich verschrieben!» «Der erste Arzt, der mich versteht!», flüstert Innocent mir zu, «der Alte ist genial.»
Es ist Vortag zum Heiligen Abend. Und Innocent schaut zum Meer. Die Möwen lachen heiser. Und er lacht mit ihnen: «Was sagst du nun - wir haben es geschafft!»
Mich plagt ein schlechtes Gewissen. Und die Unruhe. Also melde ich mich bei Dotti, der Ärztin:
«Wir sind trotz aller Unkenrufe gereist. Es ist ihm wichtig: Weihnachten ist nicht Weihachten ohne Spaghetti auf der Insel.» Dotti atmet kurz durch. Dann: «Lass ein Blutbild machen. Und schicke mir die Werte ins Spital...»
Ein Blutbild bedeutet, dass ich mit ihm nach Pisa oder Florenz fahren muss. Und «Non preoccuparti!», winkt der Dottore meine Pisa-Fahrpläne ab.
Er holpert am Morgen des 24. mit einer Krankenschwester in seinem Cinquecento an. Sie nimmt Innocent das Blut ab. Und kurvt ins «Ambulatorio» am Hafen zurück. AMBULATORIO? Hier? Der Arzt lacht: «Wir sind zwar nur eine kleine Insel - wir leben aber nicht am Ende der Welt.»
Es ist der 24. spät am Mittag. Die Inselbewohner feiern den Tag kaum - abends essen sie frittierte Fische und junge Artischocken in neuem Öl. Dann wird Karten gespielt. Das wars. Ostern ist in Italien immer festlicher als Weihnachten. Sie mögen die Friedenstaube lieber als das kleine Krippenkind. Erstere in Panettone-Form.
Ich suche Innocent in seinem Zimmer. Er ist verschwunden. Sofort kommt Panik auf. Es ist, als würden zwei eisige Hände meinen Magen durchwühlen.
Ich haste durchs Haus. Rufe nach ihm. Natürlich rufe ich umsonst. Die Hörapparate hat er auf der Fahrt aus dem Autofenster geworfen. Und dann sehe ich meinen alten Freund. Etwas wacklig humpelt er an den Krücken im Garten herum. Und zwackt verblühte Geranien ab. Er bückt sich mühsam. Und ich jage auf ihn zu:
«Bist du verrückt? Du wirst umfallen!» Er strahlt mich an: «Schau mal, da liegen zwei Kastanien » Er streckt sie mir entgegen. «Das das ist unmöglich hier wachsen doch keine Kastanien und...» Er schaut mich listig an: «Vielleicht gibt es ja doch so etwas wie ein Weihnachtswunder?»
Im Haus schellt das Telefon. Ich renne zum Apparat. Es ist Dotti:
«Wir haben soeben die Resultate aus diesem Ambulatorio bei euch bekommen. Alles okay. Alles im grünen Bereich. Fast schon ein Wunder. Bleibt so lange, wie ihr könnt Die Insel tut ihm anscheinend gut. Frohe Weihnachten.»
Ich heule einen Sturzbach. Dann wasche ich die Augen mit kaltem Wasser aus. Innocent mag keine Gefühlsduseleien. Draussen nehme ich ihn in die Arme:
«Alles wunderbar - frohe Festtage. Heute Abend gibt es Spaghetti.» Jetzt drückt er mich auch: «Ich denke, wir sollten Dottore Fanelli eine Flasche Grappa schenken...»
Illustration: Benjamin Güdel