Er ist schwer zu erreichen. Auf dem Telefonapparat spricht der Beantworter. Auf der Faxmaschine pfeift es schrill.
Also lasse ich Tonnen von Papier durch: «KÖNNEN WIR ZUSAMMEN ESSEN?»
Dann endlich – seine Stimme am Hörer: «Klar. In der Kunsthalle. Ich esse aber mittags nur wenig. Gut frühstücken, ja. Und abends schlagen wir nochmals zu. Mit Apéro. Und allem Gemütlichen. Aber mittags: bescheiden!».
Ich überlege einen Moment – dann bringe ich ihm mein Anliegen vor: «Ich möchte kein politisches Gespräch… das ist, als ob ich über Mondlandschaften reden müsste… ich möchte etwas über dein Leben erfahren und…»
Lachen.
«Aber mein Leben i s t die Politik…»
DANN ALSO AUF ZU DEN MONDLANDSCHAFTEN.
Er trägt die legendäre Schildmütze. Und den roten Shawl. Aber die Tabakpfeife fehlt. Er winkt ab:
«Ich habe da eine Pause eingeschaltet…»
Ein bisschen erinnert er stets an Helmut Schmidt: Raucher… Mütze… Shawl… Aber Brandt stand ihm näher. Willy Brandt. Der Bundeskanzler war ein enger Freund.
«Willy hat die Schweiz über alles geliebt… als man in unserm Land die Geschichte aufzuarbeiten begann und daran herumkaute, dass im zweiten Weltkrieg in der Schweiz nicht alles Friede und Helfen war, da hat Willy Brandt zu mir gesagt: ‹Ich habe viele Freunde, die nicht mehr leben würden, wenn es euer Land im Krieg nicht gegeben hätte…› Diese Worte haben mich damals sehr berührt…»
Würstli und Milchkaffee
Hubacher ist ein König auf seinem politischen Parcours. Aber er ist keine Primadonna.
Lucia Hunziker – sie hat ihn schon in ihrem legendären Prominenten-Buch porträtiert – stellt für das Foto-Shooting Licht und Kameras in der eisigen Kälte auf. Der 92-Jährige nimmt ohne zu murren seinen Stock. Und kommt vor das Restaurant.
«Es tut mir leid, dass wir wegen der Fotos noch Umstände machen…»
Er winkt ab: «Ich sage immer, wenn von Politikern keine Fotos mehr geschossen werden, dann haben sie ein Problem …»
Dann also zu Tisch: Ravioli. Der Kellner weiss schon Bescheid: «Eine kleine Portion, gerne, Herr Hubacher!»
ICH WILL GLEICH INS PERSÖNLICHE. DESHALB:
Die Festtage sind längst vorbei – was habt ihr gegessen … erinnerst du dich?
Er schaut mich erstaunt an: «Klar. Wir essen seit über 60 Jahren an Weihnachten immer dasselbe: Bell-Würstli. Milchkaffee. Und ein hausgebackener Zopf von Gret.»
Ich kenne die Zöpfe von Gret Hubacher. Sie sind Weihnachten.
«Als Gret und ich unser erstes gemeinsames Weihnachtsfest organisierten, meinte sie: ‹Hast du etwas dagegen, wenn ich Würstli auftische? Und einen Zopf dazu backe? In unserer Familie waren Würstli ein Festessen. Nur einmal pro Jahr, an Weihnachten, bekam jedes Kind ein ganzes Bell-Würstli auf den Teller – das war Luxus. Die Mutter backte Zöpfe dazu. Ich möchte dieses Weihnachtsessen so weiterführen…›»
Deine Frau kommt aus einer grossen, politischen Familie: «Ja – wir haben uns auch ‹politisch› kennengelernt. Im Bernoullianum sprach der Vater der Gebrüder Grabowsky über die Geschichte des Sozialismus. Wir waren beide dort. Als ich danach heimradeln wollte, hatte ich im Vorderrad keine Luft. Gret meinte, wir könnten ja zusammen nach Hause laufen. Ich wohnte damals im ‹Breite-Quartier›. Also stiess sie ihr Velo neben mir heim. Später hat sie mir gestanden, dass sie es war, die bei meinem Rad die Luft rausgelassen hatte … sie hat immer die Initiative ergriffen, eine aktive Baslerin eben. Ich gab daneben eher den trägen Berner…»
Ok – reden wir von dir als kleinem Buben. Du bist Berner…»
«Ich bin in einem kleinen Dorf bei Bern aufgewachsen: Zollikofen. Meine Grosseltern lebten da. Ich war ein Scheidungskind. Und wurde von ihnen grossgezogen…»
Scheidungskinder hatten es damals schwer…
«Nun. Die Scheidung meiner Eltern hat mich nicht gross bedrückt. Irgendwie war die Sache verrückt: Meine Schwester kam zur Mutter. Ich zum Vater. Heute wäre so etwas undenkbar. Ich war erst drei Jahre alt. Und mein Vater – er war Buchhalter – hatte weder Zeit noch das Feeling, einen kleinen Jungen grosszuziehen… er setzte mich in ein Auto. Und ich wurde zu meinen Grosseltern gebracht… es war die erste Autofahrt in meinem Leben…»
Hast du die Mutter nicht vermisst? Oder den Vater?
«Nein. Eigentlich nicht. Ich wurde ja nicht zwischen den beiden hin- und hergerissen. Da hatte ich Glück. Mein Leben fand jetzt im Haus meines Grossvaters statt. Und mein Vater besuchte mich immer am Wochenende…»
UND DIE MUTTER?
«Nun – sie war ein Tabu in der Familie. Meine Grosseltern waren gegen diese Ehe gewesen. Sie wollten keine Schwiegertochter aus Deutschland. Deutsche und Katholiken waren ihnen ein rotes Tuch. Als mein Vater sich trennte, sagten sie nur: ‹Wir haben es dir immer gesagt… eine Deutsche! Das konnte nicht gut gehen…›»
Aber du hast deine Mutter wiedergesehen?
«Später erst, als ich erwachsen war. Ich versuchte sogar meinen Vater mit ihr an einen Tisch zu bringen. Aber das Essen endete in Vorwürfen – jeder schob die Schuld des Scheiterns der Ehe dem andern in die Schuhe. Es hat nichts gebracht…»
Du warst dann als Kind total auf deine Grosseltern ausgerichtet?
«Mein Grossvater war in jeder Hinsicht der Mann, der mich geprägt hat. Er arbeitete bei der Hasler AG. Das war damals einer der grössten Industriebetriebe. Er schuftete. Baute ein Drei-Parteienhaus. Und rackerte sich ein Leben lang dafür ab.
Im Übrigen verweigerte er den Militärdienst – und bewunderte den Pontonier-Sport oder das Schwingen. Jeden andern Sport tat er verächtlich als ‹dumme Mischt!› ab. Auch den Fussball.
Ich war ein YB-Fan. Und wäre gerne einmal ins Wankdorf an einen Match gegangen. So einen ‹Mist› verbot er mir…»
Aber du warst Revoluzzer genug, dich dagegen aufzustemmen …
«Nein. Die Zeit kam mir zu Hilfe. Es war 1938. Meine Grosseltern leisteten sich ein Radiogerät. Das war teuer – etwa einen Monatslohn schwer…
Nun, drei Wochen nach der Neuanschaffung wurde die Fussball-WM von 1938 übertragen. Wir hingen alle am Apparat, als die Schweiz gegen Nazi-Deutschland in Paris antreten musste. Die Eidgenossen bodigten die Deutschen mit 4:2. Mein Grossvater jagte total aufgelöst von Haus zu Haus: ‹Wir haben die Deutschen geschlagen!› Plötzlich war Fussball kein ‹dummer Mist› mehr. Und ich durfte mir die Spiele von YB im Wankdorf-Stadion anschauen…»
Grossvater und Grossmutter
Wenn du heute an deinen Grossvater zurückdenkst – wie siehst du ihn in der Retrospektive?
«Wie gesagt: Er hat mich geprägt. Er war streng. Der Pascha-Typ. Zu Hause hätte er nie einen Finger gerührt – er lebte in seiner Zeit das, was man den Männern als Rolle zugedacht hatte: Er sorgte für das Geld. Die Frau sorgte für Heim und Herd. Klare Rollenteilung…»
Hubacher macht jetzt eine Pause:
«Der Grossvater war ziemlich pedantisch. Aber er hat mich zweifellos geprägt. Und mir das Gefühl für politische Verantwortung mitgegeben. Er liess keine Wahl, keine Abstimmung aus – immer beteiligte er sich. Und nahm die Bürgerrechte wahr. Natürlich war seine politische Welt klar eingeteilt – in Arbeitnehmer. Und Arbeitgeber. E r war Arbeitnehmer. Also wählte er links… »
Die Grossmutter?
«Nun. Sie war für den ‹Innendienst› zuständig: Wäsche, Essen, auch für das Erledigen der Rechnungen – zwei Mal jährlich hat sie den Hypothekarzins einbezahlt. Grosse Anschaffungen aber wurden stets gemeinsam bestimmt. Etwa das Telefon. Es war eines der ersten im Ort. Und es hing hoch an der Wand, sodass ich nicht rankonnte. Es wurde nur als Sicherheitsmassnahme installiert, damit mein Vater bei Notfällen anrufen konnte. Es schellte praktisch nie…»
Irgendwie tönt dies im Zeitalter der Handys und SMS sehr friedlich …
«Es war eine andere Zeit. Wenn Onkel Emil mit seinem Auto – irgend so eine deutsche Karosse – in den Ort fuhr, war der Teufel los. Die Leute rannten aus dem Haus und bestaunten den Wagen.
DREI MAL PRO JAHR GING MEINE GROSSMUTTER IN DIE STADT, UM BEI LOEB EINZUKAUFEN. UND WENN SIE SICH FÜR DIE REISE NACH BERN BEREIT MACHTE, WAR DIE AUFREGUNG GRÖSSER ALS HEUTE VOR EINEM ÜBERSEE-FLUG!»
Er lächelt jetzt:
«Manchmal durfte ich mit. Wir gingen dann ins Kaffee Gfeller-Rindlisbacher. Mein Grossvater tat dieses als ‹Wyyberbeiz› ab. Grossmutter leistete sich dann einen ‹Milchkaffee›. Dazu eine Portion Vermicelles für uns beide – Luxus pur! ‹Das sagen wir dem Grossvater aber nicht, gell›, zwinkerte sie mir dann zu…»
Er wird nun stiller:
«Irgendwie nenne ich die Menschen von damals ‹die verlorene Generation›. Sie hatten keine ‹gute Zeit›. Und sie hatten nicht viel von ihrem Leben. Die einzige Reise, welche meine Grosseltern in ihrem Leben unternommen hatten, war an die Landesausstellung.
Als 1948 der Pöstler meinem Grossvater die erste AHV ausbezahlte, sagte der zu mir: ‹Das ist der soziale Durchbruch, Helmut.›»
Du bist dann in Bern zur Schule gegangen – und warst schon damals ein Revoluzzer. Jedenfalls hast du dich gegen ungerechte oder auch langweilige Lehrer aufgelehnt. Und ihnen ziemlich zu schaffen gemacht…
«Nun – da war der Lehrer Leuenberger. Der wollte mit uns ein Jahr lang den Walter von der Vogelweide durchnehmen. Da habe ich gemotzt. Es gäbe auch Moderneres – den Conrad Ferdinand Meier etwa…»
Und die Leistungen?
«Ich war ein Spätzünder. Übrigens auch körperlich – ich war in der Klasse der Drittkleinste. Als ich mich zur Rekrutenschule meldete, wollten sie mich wegen meiner schwachen Statur nicht nehmen. Da habe ich laut protestiert. Und bekam den Stempel: ‹will Dienst tun›. Die SBB beschäftigten nur Diensttaugliche.»
Du kamst dann nach Basel …
«…ja, das war im dritten Lehrjahr bei den SBB. Und ich fühlte mich am Rhein sofort wohl. Als die Bahn mich versetzen wollte, bat ich bleiben zu dürfen. Basel war irgendwie Liebe auf den ersten Blick!»
Gut – Basel war ja auch deine Frau Gret. Du hast relativ jung geheiratet…
Er lacht wieder: «Dieses Jahr werden es 70 Jahre!»
Und das Geheimrezept für eine lange, gute Ehe?
«Das ist ein Rezept, welches nicht nur für die Ehe gilt: gegenseitiger Respekt!
Basel also – also, ich war einfach begeistert von der Stadt. Da trugen die Polizisten Uniformen, die beim teuersten Massschneider der Stadt, einem Herrn Lämmli, angefertigt wurden.
Und an einer Fasnacht hockte der Direktor einer Pharma-Fabrik mit seinem Farbenmischer zusammen an einem Bier. EINE VERRÜCKTE WELT – SO ETWAS HATTE ICH NOCH NIE GESEHEN! DAS GAB ES IN BERN NICHT…»
Fasnacht hat dich also fasziniert?
«Fasnacht fasziniert mich immer noch. Wir haben ja noch immer die Basler Wohnung mitten im Trubel. Ich war aktiv in einer Guggemuusig – es waren vorwiegend Polizisten. Ich spielte Trompete… Trompete war immer mein Kindertraum gewesen. Aber ich durfte nur ‹Handörgeli›…»
UND WIE WAR DIESE GUGGE-FASNACHT…?
«Ich habe mich wohl etwas zu stark ausgegeben. Jedenfalls platzten meine Lippen auf. Aber immerhin habe ich ein paar Mal aktiv mitgeschränzt…»
Du gabst dann deine Stelle bei der Bahn auf. Und wurdest «Berufspolitiker».
«Meine Grosseltern waren nicht beglückt. Ich hatte eine Staatsstelle. Das galt damals als ‹sicher›. Und ‹erstrebenswert›.» Das setzte ich nun als Gewerkschaftssekretär in den Sand. Natürlich versuchten sie mich umzustimmen…»
Er schaut mich nun forschend an: «…in der Gewerkschaft habe ich deinen Vater kennengelernt. Die Trämler waren mir am liebsten – Leute wie der alte Hammel. Er war einer der Aufgewecktesten, Lautesten… er wollte für die Trämler einen finanziellen Ausgleich für die unregelmässigen Dienste. Regierungsrat Miescher winkte ab. Da hat dein Vater zu Kampfmassnahmen aufgerufen: ‹Wir fahren einfach nach Vorschrift…›
Wenn etwa beim Steinenberg zwei Trams einander kreuzten, wollte es die Vorschrift, dass das eine stehen blieb, bis das andere vorbeigefahren war. Solche Dinge hielten die Tramführer nun ein – nach einer Stunde war das Chaos da. Es lief gar nichts mehr. Und Miescher liess aufgeregt aus seinem Büro melden: ‹ALLES BEWILLIGT!›»
Akademiker und Gärten
Das mag sein. Aber ich erinnere mich auch, dass mein Vater von einer SP-Sitzung heimkam. Und am Tisch heulte. Für mich war das ein Schock – ich hatte meinen Vater nie weinen gesehen. «Ich verstehe die Sprache unserer jungen Genossen nicht mehr», hat er geheult. «Sie reden alle so kompliziert.» Es war die Zeit, als die sogenannten Intellektuellen und Studenten in der Partei den Ton übernahmen. Und mein Vater nur noch Bahnhof verstand…
Hubacher nickt: «Das Problem hat jetzt auch die SVP – der Brunner geht …der hatte noch die Sprache aller seiner Leute und Wähler drauf. Jetzt rücken Akademiker nach. Deren Sprache mögen die Leute weniger – sie wollen verstehen, was da gesprochen wird…»
DAS IST DEINE STÄRKE. BESONDERS IN DEINEN KOLUMNEN. DU BIST KLAR. UND SEHR DEUTLICH.
«Ich glaube, es war Bundesrat Richard, der mir mal sagte, schreib nie gescheiter als du bist – die Leute tragen kein Lexikon bei sich!. Viele Politiker reden und reden und reden – aber sie sagen nichts!»
Weg von der Politik! Wie war das andere Leben neben der grossen SP-Welt?
«Familie. Die war mir sehr wichtig. Dann unser Garten in der ‹eigenen Scholle›. Gret liebte diese kleine Oase – und brachte mich dazu, die Natur hier auch lieben zu lernen. Ich geniesse es heute, im jurassischen Garten zu arbeiten…»
Wehalb überhaupt der Jura? Und dieses kleine Seelendorf bei der französischen Grenze?
Er strahlt: «Wieder Gret. Nachdem die Kinder weggezogen waren und meine Frau ihr Restaurant – du erinnerst dich: das ‹Maxim› beim Claraplatz – aufgegeben hatte, fiel sie in ein Loch. Ihr fehlten die Menschen, eine Aufgabe, das Gespräch. Unsere Tochter ist in unserem kleinen Jura-Ort daheim. Gret wollte also hierherziehen. Ich war einverstanden – allerdings mit der Auflage, in Basel eine Wohnung zu behalten. Und auch in Basel die Steuern zu bezahlen…»
Die älteren Leute sagen, du seist mit den Jahren ‹milder› geworden. Die jungen Leute deiner Partei sehen da aber rot…
«WENN DIE JUNGEN GLEICH DENKEN WÜRDEN WIE DIE ALTEN, SO WÄRE DAS EINE KATASTROPHE…»
Und die Zukunft? Denkt ein bald 93-Jähriger noch über seine Zukunft nach?
«DA BIN ICH FATALIST. ICH GENIESSE JEDEN TAG. Ich freue mich an unserm Garten. Und ich freue mich, wenn Gret und ich abends zusammenhocken und uns einen Whisky genehmigen können…»
Er macht eine lange Pause.
«Ich rede auch nicht gerne über den Tod … mache mir da keine Gedanken.
Wenn es so weit ist, ist es so weit…»
Was Helmut Hubacher…
… mag: Pfeifenrauchen, den Anggezopf seiner Frau und den Garten
… nicht mag: Grosskotzerei, Internet («das muss halt ohne mich auskommen») und grosse Abend-Garderobe mit allem Drum und Dran