Christoph Holzach: «Worte wie Ich liebe dich kamen mir früher nicht über die Lippen»

Foto: Lucia Hunziker

Schlussgang am Tisch. Wer aber soll das Sahnehäubchen sein?

Die Chefetage überlegt nicht lange: «Innocent. Ganz klar. Wer steckt dahinter? Vor allem: Wie hat es diese gute Seele so lange mit dir ausgehalten?»

Typisches Schreibtischdenken. Die wissen doch gar nicht, wie komplex die Realität ist. Deshalb: dreimal durchatmen - und «Ich soll ein zu Tisch mit dir machen!»

Innocent schaut vom Sudoku hoch. Er löst das Sudoku schon lange nicht mehr. Seit sein Kurzzeitgedächtnis tschüss gesagt hat, blättert er hinten im Heft nach der Lösung. Und kritzelt die Zahlen vorn rein: «Na also - wurde ja auch Zeit!»

Du bist dabei? Mit vollem Namen? Und ehrlichen Antworten? «Mit 87 hast du nichts mehr zu verbergen. Mein Name ist Holzach - Christoph Holzach. Wir sind das zweitälteste Geschlecht dieser Stadt. Unser Stammbaum geht bis ins zwölfte Jahrhundert zurück.»

Ich weiss. Doch wenn bei dir das Totenglöcklein bimmelt, ist Dürrezeit. Dann stirbt dieser Ast ab

Er schaut anklagend: «Du hast mir nie Kinder geschenkt!» (Immerhin - so viel Witz funkelt noch.) War es nicht drückend, mit der Auflage aufzuwachsen: «Ich bin der Letzte meines Geschlechts, ich muss Nachwuchs produzieren?»

Er überlegt einen Moment. «Der Druck war immer da - meine Mutter erlitt viele Fehlgeburten. Ihr einziger Bub starb am SIDS, dem frühen Kindstod. Also wurde die Produktionsmaschine wieder angeworfen - und so kam ich. Die Erwartungshaltung der Familie war enorm. Die Last für den Stammhalter entsprechend.»

Wie war das, als du gespürt hast, ich kann das nicht - ich liebe Männer? «STOPP! Auch Frauen sind total auf mich abgefahren!» Klar - aber das ist nicht das Thema. Apropos: Hast du mit ihnen geschlafen?» - «Mit einigen schon - wohl eher zur Selbstbestätigung, so quasi: Ich kann, wenn ich will. Immer auf Weihnachten hin schrieb mir mein Vater einen Brief, in dem er durchblicken liess, dass es jetzt an der Zeit sei für ein gutes Fraueli, welches im Alter an meiner Seite stehen sollte »

Ich erinnere mich an diese Horrorzeilen. Du warst danach stets tagelang deprimiert.

«Ich habe mir die Sache mit der Ehe immer wieder überlegt. Eine Frau, drei Kinder alles richtig. Aber meine Gefühle waren es nicht. Und ich wollte keine Frau belügen.»

Hast du nie mit deiner Familie über diese Gefühle gesprochen, über deine Homosexualität? «Bei uns zu Hause sprach man nicht über so etwas. Auch nicht über Liebe. Der Satz Ich liebe dich war in unserer Sippe mit den Jahrhunderten erloschen.»

Anderes Thema: Du hast studiert. Bist Anwalt geworden. Und dann ab nach New York. DAS GROSSE AUSBRECHEN!

«Vorher lebte ich ein Jahr in Paris. Mein Vater hat mich bei einer schrecklich vornehmen Familie untergebracht. Man durfte nur im Anzug und mit Krawatte zum Omelette. Ich habe dann erstmals rebelliert. Bin gegangen. Und habe mir eine sturmfreie Bude ohne Omelette genommen.»

Dann kam New York - und das grosse Coming-out?

«Nun ja - die ersten Erfahrungen mit Männern. Aber das war nicht relevant, wichtig war das Sprengen der engen Fesseln - ausbrechen in eine neue, pulsierende Welt. Ich wurde Mitglied beim Moma. Besuchte die Fabrik von Warhol. Und begann mich für moderne Kunst zu interessieren - ich liess alle Enge der Schweiz hinter mir. Danach reiste ich ein Jahr um die Welt - und lebte meine Freiheit!»

In Basel hat dich dann die Enge wieder eingeholt.

«Ich versuchte, dagegen anzukämpfen. Tauchte in die Kunst ab. Und dann kamst du. Den Rest kennst du ja»

Ich habe dich trotz der modernen Kunst an den Wänden und einer Popcornmaschine als ziemlich spiessig kennen gelernt. Wenn wir morgens zur Arbeit gingen, musste ich stets fünf Minuten früher gehen, damit uns niemand zusammen sah

Holzach grinst: «Das hast du ZWEI Mal gemacht! Dann hast du gestreikt. Und mir das Messer an den Hals gesetzt: Entweder du gehst jetzt neben mir. Oder bye-bye, das wars!»

WAR ES SO SCHWER, SEIN SCHWULSEIN ZU AKZEPTIEREN?

«Sorry - du hast das nie kapiert. DU hattest unglaublich tolerante Eltern. Und kamst von einem anderen Planeten. Überdies warst du ein schriller Vogel. Das machte es nicht einfacher, zu dir zu stehen. Allerdings war es noch schwerer, mich selbst daneben als schwulen Mann zu akzeptieren.»

Immerhin sind wir zusammengezogen - dies vor über einem halben Jahrhundert. Du hast meine Gartenzwerge toleriert. Und ich deine verrückten Bilder, deren Aussage kein Mensch kapiert hat

«Heute sind die meisten dieser Bilder Klassiker der Moderne»

Lieblingsbild? «Der Léger. Ich habe ihn in Paris gesehen. Und war vom untypischen Blau des Bildes elektrisiert. Es zeigt alle Elemente des Künstlers - und ist eben doch anders. Natürlich konnte ich es mir nicht leisten. Ein Freund streckte mir das Geld vor.»

Die Sammlung ist dann ziemlich gewachsen. «Peanuts - wenn man es mit grossen Sammlungen vergleicht!»

Seit etwa zehn Jahren ist fertig mit Art-Besuchen. Galerien-Bummeln. Und Bilder-Käufen.

«Es kommt der Moment, wo man als Sammler zu alt wird. Man hat alles schon gesehen. Es wird langweilig.»

Du hast vor drei Jahren mit deiner Anwaltspraxis aufgehört.

«BLÖDSINN. DIE ADVOKATUR LÄUFT IMMER NOCH UNTER MEINEM NAMEN! Einer meiner engsten Juristen wurde mein Nachfolger - und hat alles in den Händen. Grossartig. Ich bin ganz einfach noch der Senior in der Bude. Lehne mich zurück. Und geniesse es, nichts mehr tun zu müssen. Keine Verantwortung zu tragen, ganz einfach in den Tag hinein leben zu können. Das ist ein grosses Geschenk. Es gibt Menschen, die können nie aufhören - aber ich denke, man muss wissen, wann der Vorhang fällt. Bei mir war es der Gedächtnisverlust Dann meine Krankheit All dies hat den Schlusspunkt gesetzt. Gottlob waren da gute Freunde - es ist wichtig, Freunde zu haben, die sagen, wann man aufhören sollte.»

Aber unser heutiges, enges Leben mit der Standardfrage «Welchen Tag haben wir heute?» hat doch auch wunderbare Seiten «Durchzogen. Du kannst einem manchmal schon auf die Eier gehen. Ich finde es beispielshalber nicht lustig, wenn du immer wieder Witzchen über mein abgeschaltetes Gedächtnis reisst.»

Okay. Aber MIR hilft es, über die Situation wegzukommen. Und ich finde es wichtig, kein Tabu aus einer Demenzkrankheit zu machen. Man muss darüber reden. Wie auch über Krebs. Oder HIV. Oder Downsyndrom.

«Schon. Aber im Alter wird man eben auch dünnhäutiger. Sensibler. Bis vor drei, vier Jahren konnte ich nie über Gefühle reden. Ich schaltete so etwas einfach aus. Worte wie Ich liebe dich kamen mir früher nicht über die Lippen.»

WEM SAGST DU DAS!

«Eben. Aber heute kann ich Gefühle zeigen. Ich streichle gern deine Hand. Auch in der Öffentlichkeit. Und ich schäme mich nicht. Ich geniesse es, von dir umarmt zu werden. In diesen Momenten, wo ich mich schwach und zerbrechlich fühle, gibt mir diese Umarmung eine Sicherheit - es ist, als würde ich unterkühlt in ein warmes Bad steigen.»

Und der Tod?

«Er ist nah. Und weit? Was weiss ich? Aber er ist kein Thema. Ich habe keine Angst davor. Ich fürchte allerdings diesen Moment, in dem meine Krankheit eventuell so fortschreitet, dass ich dich nicht mehr erkenne. Ich fürchte so etwas nicht meinetwegen, sondern d e i n e t w e g e n. Ich weiss, dass es dich unsagbar traurig machen würde.»

Wir schauen nun beide auf die grosse Wiese vor dem Chalet. Die Katzen stieren seit Stunden regungslos auf Mauslöcher - WIE ERSTARRTE ÄGYPTISCHE GÖTTINNEN. Und der Himmel? Das Paradies? Glaubst du an so etwas - an ein Leben nach dem Tod? «Unsinn. Wenn es so weit ist, dann war es das auch!»

Ich wünschte mir, du wärst manchmal etwas näher bei Gott. Er lacht: «Jetzt komm mal runter: Ich habe ja dich.»

Vorlieben und Abneigungen

Christoph Holzach mag: schwarzen Humor, Weisswein und roten Mohn.

Er mag nicht: Blumenkohl, braune Schuhe zu dunklen Anzügen, Gartenzwerge.

Foto: Lucia Hunziker

Samstag, 10. September 2022