Andreas Caminada: «Es war ein fröhliches Chaos»

Foto: Lucia Hunziker

Als ich vor einigen Wochen zum Koch der Köche reiste, war die Welt sonnig. Hell. Allegro. In Thusis wartete der Bus. Er brachte mich nach Fürstenau.

HIER RÜHRT DER BESTE SCHWEIZER KOCH DIE KELLE: Andreas Caminada.

Heute? Sein Schloss ist still. Liegt im Dornröschenschlaf. Corona hat alles verändert. Er wartete bei der engen Einfahrt «zur kleinsten Stadt der Welt» - so Caminada. Das Schloss-Städtchen liegt zwischen Mailand und Zürich. Für Gourmets allerdings ist hier der Nabel des Universums.

Caminada ist ein Mann, der fasziniert: Gross. Schön. Er wird weltweit unter den 50 weltbesten Küchenchefs auf gereiht - doch rein optisch ist er die Nummer eins.

Nie gemodelt? Oder für einen Parfümduft vor der Linse gestanden? Er grinst: «Mich interessieren die andern Linsen. Die können kuli narisch ein Highlight sein.» Dann präzisiert er. «Cartier hat mal angefragt, aber ich bin kein Model. Mir ist auch nicht bewusst, dass ich schön bin. Ich mag einen schönen Teller, aber ein schöner Koch würde mich skeptisch machen - gibt das hier eigentlich eine Make-up-Story?»

Nein. Gibt es nicht. Es geht einzig und alleine um Caminada. Und in einer Zeit, wo alle Restaurants geschlossen sind, darf man ein bisschen träumen. Ein bisschen «heile Kochwelt» schnuppern.

Im Ort und in der nahen Umgebung gibt es einige Sehenswürdigkeiten: die Viamala, Fürstenaubruck, wo Albula und Hinterrhein zusammenfliessen. Dann: Schloss Schauenstein. Im Schloss wirkt Caminada - und seine Gäste sind die Könige.

Pech. Als wir damals vor drei Monaten aufkreuzten, war die Küche noch geschlossen: letzter Tag der Betriebsferien.

Dennoch herrschte emsiges Treiben: Die jungen Angestellten polierten das Besteck auf Hochglanz - sie kontrollierten die Servicekleider auf Stäubchen - prüften die Gläser auf makelloses Funkeln. Alle lachten, plauderten miteinander.

DIE STIMMUNG AM ARBEITSPLATZ IST FÜR ANDREAS CAMINADA DAS A UND O: «Wir sind eine Familie, ein Team. Die Fröhlichkeit schwappt wie eine Welle auf die Gäste rüber. Die Menschen spüren unser Lachen. Und die Freude am Gastgeber-Sein. Dabei gehen wir alles locker an. Dennoch steckt bei allem eine grosse Portion Professionalität dahinter.»

Dieser Balanceakt zwischen Lockerheit und Spitzenqualität macht den Erfolg von Caminadas «Schauenstein» aus.

Er bat in den Salon.

An den Wänden: historische Malereien - im Hintergrund: gedämpfte Techno-Musik. Vor uns: ein Glas Bündner Wasser, «Allegra».

Der Kellner hat sich sofort in den Smoking mit Fliege geworfen, nur um das Wasser etikettengerecht zu servieren - ein Profi eben.

Du bist hier aufgewachsen? «Nein - in Sagogn. Nach Fürstenau bin ich durch Zufall gekommen. Die Stiftung suchte einen Pächter für das Schloss. Ich war jung. Hatte neun Monate Kanada und Spitzenküchen hinter mir. Nun wollte ich selber etwas auf die Beine stellen - meinen eigenen Kochweg gehen. Also bewarb ich mich zusammen mit meiner damaligen Freundin für Schloss Schauenstein. Das war der Anfang.»

Wie viele Leute wart ihr? «Vier. Zwei in der Küche, zwei für den Rest - Service und Hotel. Wir verteilten Flyer. Und boten darauf ein Festtagsmenü für 49 Franken an. Dann kam die Eröffnung - und ein super Artikel in der SonntagsZeitung. Die Seite schlug wie eine Bombe ein: Wir waren sofort ausgebucht. Und das mit der Ausbuchung hörte dann nie mehr auf.»

Er lacht jetzt: «Wir waren eben jung, vollgepumpt mit Adrenalin, und wir arbeiteten wie die Gäule: Morgens stand ich um halb sechs Uhr in der Küche - nachts sank ich um zwei Uhr in die Federn. Wir brauchten keinen Schlaf - aber unbedingt mehr Personal. Ein Freund versprach, als Koch zu kommen - aber nur wenn er die Freundin mitbringen könne. Sie war Krankenschwester. Und hat dann morgens die Betten und abends den Service gemacht. Mein Vater sprang ebenfalls ein - er war für den Abwasch zuständig.»

Tönt nach Hektik und Chaos. «Stimmt. Aber es war ein fröhliches Chaos. Nach einem Jahr hatten wir bereits den ersten, dann gleich auch den zweiten Michelin-Stern. Jetzt wurde es ernst. Man muss die Kriterien eines Zweisternlokals erfüllen. Also hiess das: Verbesse rungen, Änderungen. Ich war die ersten Jahre hier nur der Feuerwehrmann, der überall das Feuer löschen musste.»

Du wurdest dann vor zehn Jahren der jüngste Dreisternkoch - die Welt stand kopf.

«Na - und wir erst. Bis dahin hatten wir alles easy genommen. Jetzt stiegen wir plötzlich in die oberste Liga auf. Es wurde ernst - und dennoch wollte ich alles nie allzu wichtig nehmen, um die Leichtigkeit nicht zu verlieren.»

Hat dich die Kocherei schon als Kind fasziniert? «Eigentlich nicht. Ich bin in einem einfachen Haus aufgewachsen - meine Mutter holte das Gemüse aus dem Garten. Sie backte Kartoffel küchlein - oder es gab Capuns. Mein Vater hatte ein Gipsergeschäft. Und immer einen guten Appetit. Wir Kinder natürlich auch.»

Hast du mitgekocht? «Nein. Kochtechnisch habe ich mich als Bub nur beim Backen ausgelebt - ich liebte es, Weihnachtsgebäck herzustellen.»

Und dennoch hat es dir dann fürs Kochen den Ärmel reingenommen. «Der Beruf faszinierte mich, vermutlich auch die Aura, die um Hilda Veraguth in unserm Ort schwebte. Sie war eine Spitzenköchin - und alle Welt fuhr zu ihr hin. Ich bestaunte die Autos, die vielen Gäste, die ihretwegen ins Dorf kamen, ich bewunderte sie, wenn sie in den Zeitungen erwähnt wurde. Aber ich hätte nie den Mut gehabt, einmal in ihrem Restaurant anzuklopfen.»

Schüchtern? - «SICHER NICHT! - Ich war ein ziemlicher Lausbub. Aber die Aura, die so ein beliebtes Restaurant auszustrahlen vermag, hat mir Respekt eingeflösst.»

Dann doch Koch. Stellen in Spitzenhäusern - und ab nach Kanada. «Vancouver war als Sprachaufenthalt geplant. Aber es war der Schritt hinaus in die Welt!»

Zehn Jahre der dritte «Michelin»-Stern auf Schloss Schauenstein - noch immer locker drauf?

Er überlegt: «Ich habe heute nicht mehr das Personalproblem - wir bekommen gute Leute. Aber die Branche hat es zum Teil schwer. Nicht zuletzt deshalb haben wir die Fundaziun Uccelin gegründet - um die Branche mit dem Nachwuchs zu unterstützen. Unsere Stiftung ermöglicht jungen Menschen, die sich als Küchenchefs oder Gastgeber weiterentwickeln wollen, bei etwa 70 der bestdotierten Betriebe dieser Welt eine Schnupperlehre zu absolvieren. Es ist wichtig, einen guten Nachwuchs zu regenerieren. Das ist die Zukunft der Gastronomie.»

Wer meldet sich? «Es gibt zweimal im Jahr, März und September, eine Bewerbungsphase. Da kommen zwischen 50 und 80 interessierte Köche und Servicekräfte.»

Nun ist das Schloss nicht mehr das allein selig machende Gedankengut für dich - du bist zum Unternehmer geworden. Kürzlich hat das dritte «Igniv Restaurant» im Zürcher Nieder dorf eröffnet. RIESENINTERESSE! Was muss man unter diesen Ablegern verstehen?

«Igniv» bedeutet «Nest» - und das ist es für Gäste, aber auch für einige talentierte «Jungvögel» aus dem Team. «Sie brüten ihre eigenen Ideen aus, während wir Sicherheit und ein paar stilistische Vorgaben als Leit linien geben - wenn der Corona- Albtraum vorbei ist, wird ein Nest in Bangkok folgen. St. Moritz und Bad Ragaz wurden beide erst jüngst mit dem zweiten Michelin-Stern ausgezeichnet.»

Und die Lockerheit? «Die ist immer noch da. Ich bin keiner, der sich leicht stressen lässt. Gut. Diese Situation jetzt ist extrem. Aber sie bringt auch Positives: Ich habe endlich genug Zeit für die Familie, für meine Kinder. Wir unternehmen Spaziergänge. Wir spielen - Dinge, die früher untergingen. Die Zwangspause tut gut, zwingt uns auch, über neue Werte nachzudenken.»

Die blauen Augen lächeln: «Ich hoffe trotzdem, dass bald eine gute Fee oder der tapfere Prinz aus dem Forscherland mit der erlösenden Impfspritze unser Schloss und damit die ganze Welt aus diesem schwarzen Dorn röschenschlaf aufwecken werden.»

Die kleinste Stadt der Welt ist totenstill. Ausgestorben. Die Fröhlichkeit erloschen - wie eine abgestellte Herdplatte.

«Wenn mir die Decke auf den Kopf fällt, gehe ich zum Golfplatz», sagt er leise. «Irgendwann werde ich da wieder einmal spielen.»

Er hat Handicap 6.

Hier ist Caminada die unbestrittene Nummer 1 unter den Spitzenköchen dieser Welt.

Vorlieben und Abneigungen

Er mag: Lockerkeit, Kreativität, Gastgeber sein

Er mag nicht: Unprofessionalität und Neid

Samstag, 18. April 2020