Als ich ihm zum ersten Mal begegnete, war er schüchtern. Ein bisschen linkisch. Und still. Sehr still.
Er war nicht unbedingt der Fotograf, den ich mir für das Porträt mit Martin Suter gewünscht hatte.
Dann nahm er die Kamera. Und lächelte dem berühmten Autor zu: «Lucian. Lucian Hunziker.»
Einen Tag später, als er mir die Porträts auf mein Handy schickte, musste ich meine Meinung ändern. Ich spürte: Dieser schlaksige Kerl mit den melancholischen Augen macht seinen Weg.
Ein paar Monate später wurde Lucian unziker mit seinem Buch «Basel in Portraits» berühmt. Auch seine Porträts machen Furore. Er ist ein Star unter den Porträtisten geworden.
Nun sitze ich hier im Restaurant Schützenhaus. Und warte auf ihn, der kein «er» mehr ist. Sondern eine «sie».
Für viele ist es schwierig, damit umzugehen. Doch Lucia wirkt natürlich - und macht einem das Gespräch leicht.
Lucian heisst jetzt also Lucia. Sie ist im Pass bereits eine abgestempelte Frau.
«Ich gebe mir Zeit für den Start in mein neues Leben. Es soll mich schliesslich langfristig glücklich machen. Aber ja - die amtlichen Dokumente sind bereits auf dem neuesten Stand.»
Dein Coming-out-Film hat überall Furore gemacht «Mein Coming-out war halbwegs öffentlich mit einem persönlichen Film, um die Sache nicht jedem der vielen Leute, mit denen ich zu tun hatte, persönlich erklären zu müssen. Bei Familie und Freunden machte ich das schon zwei Jahre früher. Ich war 36. Als ich mit 15 mitten in der Pubertät steckte, gab es nur wenige und schlimm endende Trans-Biografien, aber sicher eine Vorbilder für mich. Ich wollte doch kein Freak sein. Erst beim Outing von Caitlyn Jenner 2015 in Vanity Fair mit den tollen Bildern von Annie Leibovitz - ich verehre die Fotografin heiss - klingelte es bei mir erstmals wieder: Das Thema berührte mich mehr, als mir lieb war. Dann brauchte ich noch einmal ein Jahr, um mich meiner inneren Realität zu stellen: Ich bin Lucia.»
Sie macht eine Pause - und erzählt weiter:
«Die Familie und Freunde, die ich als Erste über meine Pläne eingeweiht habe, waren unglaublich wichtig. Sie haben mir Kraft gegeben, diesen Stress durchzustehen.»
Tanja Grandits, die Spitzenköchin vom Bruderholz, ist eine, die sofort dastand. Und Lucia zusprach, diesen Weg zu gehen.
Gab es nach dem Film auch bissige Kommentare, Unverständnis über deine Entscheidung?
«Die Reaktionen waren durchs Band weg positiv. Ich habe noch die gleichen Kunden wie vorher. Und das ist ein kleines Wunder für mich. Viele gratulierten mir zu dem Mut. Und zu meiner Offenheit.»
Du bist als behüteter Bub in einer gutbürgerlichen Familie aufgewachsen.
«Ja. Wir sind eine musische und musikalische Familie - ich hatte bei meiner Grossmutter Klavierunterricht und spielte intensiv Oboe. Meine Brüder haben auch einen künstlerischen Weg eingeschlagen: Einer ist Dirigent, der andere Jazzmusiker, der dritte Lichtmeister am Theater Basel.»
Somit kann man also in deiner Familie ein grosszügiges Denken voraussetzen. Und du hattest es einfach, dich zu outen Täuscht der Eindruck?
«Ja und nein. Ich lebte mit meinen Gefühlen ziemlich einsam. Ich wusste: Etwas stimmt nicht. Ich wusste aber nicht, was es war. Ich fühlte mich unwohl in meiner Haut. Dieser falsche Körper war wie ein Gefängnis. Du denkst immer, das kann doch nicht sein: tiefe Stimme, Bartwuchs. Ich zog mich zum Selbstschutz in meine eigene Blase zurück, weil ich nicht darüber sprechen konnte. Die anderen sehen das natürlich nicht, wenn du nie darüber sprichst. Verdrängung braucht viel Energie und zehrt an den Nerven.»
Aber du bist in einer sexuell sehr freizügigen Zeit aufgewachsen. Hattest du niemanden, mit dem du über deine Probleme reden konntest?
«Natürlich redeten alle über Sex. Aber das Gefühl hier war nicht Sex. Und es war auch nicht Schwulsein. Es war etwas ganz anderes: ein unbestimmtes Gefühl, das nur nach Problemen roch. Und deshalb tief begraben gehörte.»
Immerhin - mit dem Outing, dass du Männer liebst, hattest du ja keine Probleme.
«Das stimmt. Aber wenn du das Gefühl hast, dich sieht ja keiner hinter der Hülle deines Körpers, ist Flirten eine besondere Herausforderung. Männer reden mit dir, wie Männer eben mit Männern reden und umgehen. Gleichzeitig verdrängst du das eigentliche Problem bis auf eine geradezu homöopathische Dosis. Trotzdem möchte ich meine neun Jahre lange Beziehung mit einem Mann nicht missen. Wenn du aber wirklich kreativ arbeiten willst, ist Verdrängen keine Option. So liess ich mich nach und nach auf mich selber ein.»
Du hast deine Matur gemacht - dann studiert.
«Ja. Geschichte. Ich dachte mir, eine gute Allgemeinbildung kann nicht schaden - und strukturiertes Denken auch nicht. Das Studium war mir allerdings zu trocken. Ich zog es aber bis zum Abschluss durch.»
Und die Fotografie? Sie ist doch deine Berufung, dein zweites Ich - war das kein Ausweg?
«Nun - ein Freund der Familie hat immer wieder Fotos geschossen. Gute Fotos. Ich fand die Fotografie faszinierend. Er verzweifelte aber fast daran, mir den Zusammenhang von Zeit, Lichtempfindlichkeit eines Films und Blende verständlich zu machen. Während meines Studiums lebte ich ein Jahr in Paris. Nach dem Sommer semester bekam ich bei einem Fotostudio einen Praktikumsjob - unbezahlt, wohlgemerkt. Dort gingen die grossen Namen der Modefotografie ein uns aus. Ich lernte viel. Und fand dabei heraus: Die kochen auch nur mit Wasser. Solche Fotos kann ich auch schiessen.»
Sie lacht: «Ich habe dann einen Volkshochschulkurs in Fotografie belegt, mein Studium abgeschlossen und mit den ersten Shootings begonnen.»
Wieder ein Lachen: «Und ich war promigeil, so übel das auch klingen mag. Davon bin ich heute geheilt. Aber damals haben mich berühmte Leute fasziniert.»
Immerhin hast du dir in Promikreisen bald einmal einen Namen gemacht und alle grossen Tiere vor die Linse bekommen - wie hast du das nur angestellt?
«Ich bin ziemlich hartnäckig. Und ich habe eine Vorstellung davon, wie ich jemanden in Szene setzen möchte. Ich komme mit einer Idee. Es entsteht ein Dialog. Und dann wird das Bild gemacht. Es gibt keine bösen Über raschungen.»
Lucia hat ihr Melonensüppchen ausgelöffelt. Nun schnipselt sie an einem Paillard de veau und spricht weiter.
«Seit ich für Gault & Millau fotografiere, verstehe ich auch etwas mehr von guter Küche.»
Ich beobachte die junge Frau mir gegenüber. Das Gesicht ist fein, der Teint zart - die Haare lockig, hinten zu einem Schwanz gebunden. Und ihr Outfit - weisses Hemd, lockere Hose - ein bisschen «garçonne», knabenhaft, jugendlich. Lucia schaut auf.
«Jetzt wirds kompliziert: Ich sehe mich modisch gern als Tomboy...»
Tomboy?
«So nennt man ein Mädchen, das sich Klamotten seines Freundes anzieht. Gleichwohl wirkt es eindeutig feminin. Ich sehe mich als androgyne Frau.»
Wie lange wird es gehen, bis du die komplette Frau bist?
«Dieser Tag wird nie kommen. Ich kann mich mittlerweile recht gut damit abfinden, einen transfemininen Körper zu haben. Ich bin auf dem richtigen Weg der sanften Transition. Und ich fühle mich gut dabei. Es ist ein Privileg, in der Schweiz zu leben, wo das gesellschaftliche Klima, der Rechtsstaat und der medizinische Standard eine Transition überhaupt erst ermöglichen.»
Und die totale Geschlechtsumwandlung - ich meine die grosse Operation. Wann soll die kommen? Angst davor?
«Was zwischen meinen Beinen passiert, ist Privatsache. Geschlecht ist eh etwas, was vor allem zwischen den Ohren stattfindet. Zumindest als Frau.»
Du hast schon jetzt Veränderungen machen lassen, oder?
«Nun ja - Haare am richtigen Ort...»
Dir ist wichtig, wie du als Frau ausschaust.
«Natürlich. Ästhetik ist ein Teil von mir und von meinem Beruf.»
Lucia steht auf. «Ich muss mal kurz.»
Und dann ist da plötzlich ein Schalk in diesen Augen, die so lange nur traurig abgelöscht in diese Welt geschaut haben. «Ich zögere noch immer, ob ich auf Herren oder Damen gehen soll...»
Dann schaut sie auf meine Notizen: «Hast du genug für deinen Text? Ich habe übrigens auch noch ein Leben neben diesem Thema hier.»
Was Lucia Hunziker mag
Sie mag: Fotografieren ihre Familie und Menschen wie Karl Lagerfeld
Sie mag nicht: Minestrone Fundamentalisten und das Unwort «Transe»