Die Zugfahrt von Basel nach Altstätten ist wunderschön: Zürichsee. Walensee. Schweizer Idylle.
Die Idylle hört bei den Verspätungen auf. Der Zug wird umgeleitet. Und die Reise lang. Sehr lang.
Am Bahnhof fährt dann auch der Bus den Zuggästen vor der Nase weg.
Ein Taxi bringt mich schliesslich zur alten «Klostermühle». Das Restaurant heisst jetzt «Angolo dei Sapori». Italienische Karte, südländisches Flair. Und Garten.
«Es ist unprätentiös» – so hat Floriana Frassetto die Beiz angekündigt. «Das mag ich – Chichi liegt mir nicht!»
Ich entdecke «La Mamma» von Mummenschanz schon von Weitem. Ein kleines Persönchen – viel winziger, als ich sie mir vorgestellt habe.
Sie kommt in Schwarz. Selbst ihren Rucksack hat sie dem dunklen Outfit angepasst. Und dann streckt sie die Arme aus. Bewegt sich auf mich zu. Und es ist, als würde die Sonne aufgehen: Sie hat das grosse Herz einer italienischen Nonna. Das Temperament eines sizilianischen Vulkans. Und eine lange Geschichte, die sich immer hinter einer Maske verbirgt. Denn das Publikum kennt nur die Maske – und nie das wahre Gesicht.
Zuerst müssen wir uns auf eine Sprache einigen.
Floriana Frassetto ist in den USA geboren (Virginia). Ihre Eltern waren Italiener. Und später hat sie sich in der Schweiz niedergelassen. «Ja, die Schweiz – das ist mein Daheim.»
Floriana mixt die drei Sprachen zusammen, würzt mit ein paar Spritzern Französisch und einer Prise Spanisch – ihre Sätze werden zu einer linguistischen Peperonata.
Allerdings – im Italienischen spürt man ihre Wurzeln. In dieser Sprache ist sie heimisch. Sie kommt ins Schwärmen. Erzählt von den Farben in Rom, den wunderbaren Lichtern. Und von ihrer Tante, die ihr ein Darlehen für die Zirkusschule in Paris gab.
Heute?
Sie zuckt die Schulter: «Manchmal besuche ich meine Schwester in Rom. Aber es ist nicht mehr meine Stadt, die ich kannte. Noch immer zeigt sie sich wunderschön. Aber dennoch: verändert. Zu schrill aufgeputzt. Ein touristisches Disneyland.»
Schwerer Seufzer. Und ein verlorenes Lächeln:
«Im Alter hat man nicht mehr die Nerven, die es für Italien und seine Menschen braucht. Vielleicht hat es damit zu tun, dass man mit den Jahren ungeduldiger wird. Und nicht mehr so viel Zeit hat wie früher…»
In Rom hat sie die Teenager-Epoche gelebt. Die Eltern waren geschieden. Ihre Mutter war der musische Typ. Ihr Vater eher der konservative Kerl. Als sie ihm erzählte, sie möchte Schauspielerin oder Akrobatin werden, schlug er ihr die Türe vor der Nase zu:
«Papa war der Vernünftige. Meine Mutter die Verspielte. Schon als Kind habe ich mit ihr gebastelt, genäht, Kostüme entworfen. Das Kreative war da – und sie hat es in mir gefördert.»
Roy Bosier gab ihr Unterricht. Der Schweizer Künstler und Pantomime unterrichtete am Römer Theater Tanz und Pantomime.
«…dazu kam Akrobatik. Er fand mich talentiert. Und ich durfte in einigen seiner Produktionen auftreten. Eines Abends schleppte er mich zu ‹Avant et Perdu› – und dieser Abend veränderte mein Leben!»
Die beiden jungen Schweizer Clowns boten ein etwas anderes Programm, als man es von Spassmachern so gewohnt war:
«Sie liessen Figuren tanzen. Formten Köpfe auf offener Bühne. Da war auch schon eine Röhre, die sich skurril fortbewegte – aber es wurde noch gesprochen. Und war kein Mummenschanz. Noch nicht. Doch man schmeckte den Anfang davon, eine erste Idee…»
Floriana Frassetto blieb mit den beiden Schweizern in Kontakt:
«Eines war klar für mich: Pantomime war nicht mein Ding. Ich fand diese zarte Form der Darstellung in der verrückten Zeit des Pops zu übertrieben. Zu chargiert. Da waren diese stummen Figuren ohne menschliche Gesichtszüge viel eindrucksvoller. Magischer. Sie sprachen deutlicher zu mir als irgendwelche überzeichnete Mimik. Ich spürte, dass dies eine neue Form des Theaters werden könnte…»
Paris rief. Floriana Frassetto ging mit dem geliehenen Geld ihrer Tante vom Tiber an die Seine:
«Paris und die Lecoq-Schule waren schweineteuer. Aber ich konnte bei einer Freundin unterkommen. Sie brachte mich in das alte Haus ihrer Grossmutter. Der Putz fiel von den Wänden. Und die alte Dame machte mir ein Angebot: ‹Du streichst mir die Zimmer – und wohnst gratis hier...»
Ihre Augen strahlen jetzt:
«Das war ein guter Deal. Mit Sprachstunden an Studenten und Schülern kam ich ganz gut über die Runden… bis sich dann Andres Bossard und Bernie Schürch Anfang der 70er-Jahre wieder meldeten. Wir standen seit Rom immer in Kontakt. Ich hatte ihren Auftritt nie vergessen können. Jetzt gastierten sie in Paris. Ich nichts wie hin … und das war dann der endgültige Schritt zu Mummenschanz!»
Haben die beiden schon dort so geheissen?
«Nein. Natürlich nicht. Aber als ich sie in dem kleinen Theater besuchte, waren sie ganz von der Rolle: Ihr Beleuchter war ausgefallen. Krank. Und mit: ‹Du musst für ihn einspringen!›, rannten mir beide aufgeregt entgegen.
Ich verstand nichts von Lichtregie. Sah aber, dass die Kostüme der beiden ziemlich viele Löcher hatten. Also holte ich Faden und Nadel. Und besserte zuerst einmal alles aus – ganz la Mamma…»
Sie sieht die entscheidende Nacht noch glasklar vor sich:
«Abends bediente ich dann die Lichthebel. Und hatte wohl mehr Lampenfieber als die beiden Clowns auf der Bühne. Aber alles lief perfekt – als der letzte Vorhang fiel, strahlen die zwei: Du bist super. Willst du nicht bei uns mitmachen?!»
Floriana Frassetto lacht jetzt:
«…und das war dann wirklich der Beginn von Mummenschanz. Vor 45 Jahren.»
Sie feilten am Programm. Kreierten neue Nummern. Neue Figuren. Dabei kamen ihnen Florianas Bastel-Tick und Kostüm-Flair zugute.
«Wir hatten schon bald hochfliegende Pläne. Wollten nach Amerika auf Tournee. Das war hoch gepokert. Und wir gaben uns keine zwei Wochen. Prompt sind wir fünf Jahre geblieben. Und in den Staaten herumgetourt… dabei haben wir, um die Kasse aufzupolieren, auch Workshops gegeben. Es war eine anstrengende, lehrreiche aber irre tolle Zeit!»
Mummenschanz klopfte damals auch bei Fredy Knie an:
«Er zauderte. War einerseits von unserm Spiel fasziniert. Anderseits nicht ganz sicher ob … oder ob nicht … also zögerte er. Und entschied sich dann: ‹lieber nicht!›»
(Erst einige Jahre später, als Mummenschanz bereits ein Welterfolg war, kam sein Telegramm: «IHR MÜSST JETZT IN DEN KNIE KOMMEN!»)
New York also?
«Ja. Das war natürlich auch so ein Spleen. Und den hatte uns ein Texaner ins Ohr gesetzt: ‹Ich bringe euch gross raus›, hatte er versprochen. Und verabschiedete sich für immer mit einem Herzinfarkt.
Aber wir waren heiss auf New York.
An einem frühen Morgen sind Bernie und ich dort über den Broadway spaziert. Und haben nach unbespielten Theatern gesucht. Da gabs nur eines: das Bijou.
Das Haus stand ziemlich baufällig da. Wir fragten den Hauswart, was es mit der Bude auf sich habe: ‹Die wird bald mal abgerissen… jetzt ist sie leer!›»
Die Truppe beschwor nun ihren Agenten: «Du musst für uns das Theater mieten!»
Wieder ertönt das heisere Lachen von Floriana:
«Also der tat sich am Anfang etwas schwer. Aber wir gaben richtig Gas: Immerhin sei Mummenschanz kein Nobody… wir würden jetzt schon fünf Jahre in den Staaten spielen… und wir seien eine neue Theaterform mit guten Kritiken… ALSO HÖCHSTE ZEIT FÜR DEN BROADWAY!»
Wie schon in der Pariser Wohnung hat Floriana auch hier wieder selber Hand angelegt:
«Wir standen im Staub von 80 Theaterjahren … alles war alt, schräg – ABER EINFACH EIN SUPER KONTRAST ZU UNSERN NUMMERN!»
Sie verschickten Karten an die Freunde in Rom, Paris, der Schweiz: «WIR SIND JETZT AM BROADWAY!»
Der Vorverkauf lief nicht rosig.
«…also verteilten wir Premieren-tickets an unsere Hausbewohner, an die Putzequipe, den Beleuchter… alle sollten mit ihrer Familie kommen.»
Sie kamen. Es war gut. Aber nicht der Super-Erfolg. Die Kritiken jubelten zwar – doch die Zuschauer fehlten.
Und dann wurde Mummenschanz von Johnny Carson in seine berühmte Fernsehsendung eingeladen.
«20 Millionen Zuschauer. Und er kommt auf uns zu: ‹Hier sind meine Schweizer Mummenschanz-Freunde mit einer sensationellen Show! Das müsst ihr sehen!› Das habe ich ihm nie vergessen! Danach – es war an Ostern – waren wir plötzlich über Nacht auf Monate hinaus ausverkauft. Und dies jahrelang …bis das Bijou am Broadway Geschichte war.»
Mummenschanz wurde jetzt zur Erfolgsstory. Die drei tourten rund um die Welt. China, Europa, Indien…
«…es gibt wohl kaum ein Land, wo wir nicht gespielt haben. Das Wunderbare: Wir berühren alle – ganz ohne Sprache. Wir brauchen nichts zu erklären. Und jeder versteht uns. Das ist das Einzigartige.
Wir spüren die Magie, spüren diese Stille im Theater – eine Stille, welche unsere laute Welt immer mehr braucht.
Wir zeigen für eine kurze Atemlänge das Leben: Liebe, Lachen, Traurigkeit – den stillen Frieden…»
Wieder scheppert ihr Lachen laut:
«Eigentlich müssten wir für den Friedensnobelpreis vorgeschlagen werden…»
Heute ist Mummenschanz nach bald 45 Jahren die Schweizer Schokolade im Kulturexport. Auf der ganzen Welt haben ihre stillen Momente die Zuschauer begeistert. Sie wurden mit Preisen überschüttet. Haben mit grossen Stars gearbeitet. Und Polanski hat einmal einfach die Bühne gestürmt: «Ich will wissen, wie ihr das mit den Masken anstellt…»
Es gab Schicksalsschläge – etwa als der Mitgründer Andres Bossard an Aids starb. Als der zweite Bühnenpartner Bernie Schürch sich von den Brettern verabschiedete. Und als Hans Jörg Tobler, Mummenschanz-Förderer und Lebensgefährte von Floriana, seiner Krankheit erlag:
«Da fühlte ich mich elend. Traurig. Und schrecklich alleine. Meine Tochter Melanya hatte schon früh klargemacht, dass sie bestimmt nicht in meine Fussstapfen treten würde. Ich konnte sie verstehen. Sie wollte Geborgenheit. Normalität. Ich war eine Telefon-Mutter – das Mädchen war ein Artistenkind. Und kam überall mit auf die Tournee…»
Dann blieb die junge Tochter daheim in Altstätten.
«Hans Jörg hat eine alte Piz-Buin-Fabrik zu unserm Zuhause umgebaut. Hier fühlte sich Melanya wohl. Und ich tourte noch immer auf der ganzen Welt herum.
Unser einziger Kontakt war abends das Telefon. Dennoch sagt sie heute zu mir: ‹Du bist die beste Mutter der Welt!› Das tut gut…»
Eigentlich wollte Floriana aufhören:
«Ich sah einfach nicht mehr, wie es weitergehen sollte. Eines Tages habe ich eine unserer alten Gummischläuche in die Entsorgungskiste geworfen. Da lagen auch zwei vergammelte Pingpongbälle. Und plötzlich wurde alles zu einem Gesicht – es war, als ob die Pingpongaugen mir zuzwinkern würden: WEITERMACHEN!»
Sie holte sich junge Leute. Führte sie in die Welt von Mummenschanz ein – wurde wieder, wie damals in New York, als sie die kleine Truppe in einer Loft bemuttert hatte, zur «Mamma universale»:
«Das ist ein unglaubliches Glück. Plötzlich waren hier begabte, junge Menschen um mich herum. Wir mussten zuerst herausfinden, was jeder wollte. Wo der Weg hinführen sollte. Dann haben wir uns an die Nummern gewagt.
Die Jungen brachten frische Ideen – ich bringe ihnen meine Erfahrung. Es ist ein Zusammenraufen. Aber dabei ist etwas Wunderbares entstanden: nicht nur das Weitermachen, die Gegenwart von Mummenschanz. Auch seine Zukunft.
Und das macht mich glücklich…»
Eine Stunde später stehen wir vor dem grossen Gebäude, wo Floriana Frassetto mit ihren Mummenschanz-Leuten arbeitet.
Im riesigen Atelier wird eben an einem Stoff-Ei – so gross wie ein ganzes Fallschirmteam – genäht.
«Mummenschanz ist immer wieder neu. Entwickelt sich jeden Tag neu. Das ist spannend. Und für mich wunderbar.»
Und sie selber? Steht sie noch immer mit den manchmal 20 Kilo schweren Masken auf der Bühne?
Sie schaut aus dem Fenster: «Mit der Zeit wird es zu anstrengend. Ich bin im Hintergrund. Aber ich habe noch immer fünf Auftritte… ich brauche dieses Gefühl… ich muss die Stille, die Faszination im Raum atmen können. Ich will das Publikum spüren…»
Sie zuckt mit der Schulter. Und lächelt:
«Das ist mein Leben.»
Sie mag: sensible Menschen, rote Rosen und Kochen
Sie mag nicht: Aubergines, Selbstüberschätzung und Missgunst
Hinweis: Mummenschanz gastiert vom 16.–21. Mai im Basler Musical-Theater mit seinem neuen Programm «you&me». www.musical.ch