Rolf Wirth: «Ich sage immer, was ich denke»

«Wir essen auf der Terrasse – einver­standen?»

Mehr als okay.

Denn die Terrasse gilt als die schönste in Rom.

Es ist ein Paradiesgarten hoch im Himmel des «Victoria» – nur armweit von der Aurelianischen Mauer entfernt.

Vom Pincio her weht der Ponentino, die römische Brise. Und unter den keuschweissen Rosen, üppigen Bougainvilleen in der Farbe von violetten Kardinalsroben vergisst jeder die Hektik, welche Rom zum Chaos macht.

Ich freue mich auf diesen Moment im römischen Gartenhimmel – ABER NATÜRLICH SCHÜTTETS A GOGO!

UND WER DEN RÖMISCHEN REGEN KENNT, WEISS, DAS ER SO ZORNIG UND UNGESTÜM IST WIE DIE AUSBRÜCHE VON GRILLO.

ODER DAS FEUERWERK DES ÄTNA.

In drei Minuten Römer Regen trieft jeder so, als wäre er durch den Tiber gezogen.

Der Concierge des Hotels nimmt meinen Schirm ab: «Signor Wirth erwartet Sie in der Privatwohnung.»

Dann schaut er fürsorglich, wie es sich für einen Butler der alten Schule gehört: «Wollen Sie zuerst die Haare föhnen?»

Im Foyer stehen etwa 20 Gäste herum. Sie haben alle ein Nachtessen auf der legendären Terrasse gebucht – aber keiner kommt gegen die Launen des römischen Wetters an. Deshalb: improvisieren. Und Dinner im Res­taurant.

Immerhin hat auch dieses seinen eigenen Reiz: Man isst «cucina italiana» – aber neu interpretiert. Und der Gast sitzt unter kostbaren Veduten aus drei Jahrhunderten. Jedes Bild ein kleiner Schatz. Alles römische Sujets.

Rolf Wirth hat ein halbes Tausend davon – die grösste Sammlung ihrer Art.

Später erzählt er mir, dass ihn der Basler Anwalt und Veduten-Spezialist Nico Zachmann bei der Zusammenstellung der Sammlung hervorragend und freundschaftlich beraten habe.

«Benvenuto!» – ruft er aus dem grossen Salon. Und dann «SCHEISSWETTER! HIER IST EBEN AUF NICHTS VERLASS!»

Dann flitzt er herbei. Sein Tempo straft die 79 Jahre Lügen. Er ist die Mischung aus explodierendem Rumpelstilzchen und einem dieser Physikteilchen, das im Cern von Genf herumjagt.

Das «Privé» ist die Wohnung, in der Rolf Wirth als kleiner Bub aufgewachsen ist. Zusammen mit seinen Geschwistern.

«Es war Krieg. Spezialtruppen der SS hatten das Hotel annektiert. In der Wohnung meiner verstorbenen Grossmutter versteckten meine Eltern verfolgte Juden und Antifaschisten – so auch die Prinzen Borghese.»

Später noch war das «Victoria» WIEDER ein Zufluchtsort und zweite Heimat von Flüchtlingen:

«Die Wirths waren immer weltoffen, demokratisch und liberal. Nach dem Krieg wurde das Hotel zur Heimat von russischen Musikern, die mit dem kommunistischen System nichts am Hut hatten: der Cellist Mstislav Rostropovich wohnte in Rom immer bei uns. Meine Eltern liebten die Musik. Hindemith, die Oistrachs – viele spielten auf diesem ­Flügel hier…»

Und der kleine Rolf Wirth?

Er lacht:

«Also der war – um es nett zu sagen – auf den Klaviertasten eine rechte Nuss. Ich malte lieber. Fotografierte später mit meiner Hasselblad die Skulpturen von Künstlern. Und habe mir so viele Kunstschaffende zu Freunden gemacht. Es war der Anfang meiner kleinen Kunst­sammlung.

Mit meinem Sackgeld habe ich mir Bilder der heutigen ‹modernen Klassik› gekauft – durch den Verkauf einiger dieser Bilder konnte ich mir später mein Anwesen in Herrliberg leisten. Man muss sich vorstellen, dass ich Radierungen wie etwa einen Matisse erstanden habe, als ich kaum 16 Jahre alt war. Na ja – jedenfalls noch nicht volljährig…»

Die Wirths gelten als älteste Hotelier-Familie der Schweiz – älter als die Ritz-Familie. Und mit der entsprechend spannenden Geschichte:

«Die ersten Aufzeichnungen gehen aufs Jahr 1770 zurück. Mein Ururgrossvater war im Salzhandel. Sein Sohn heiratete die Tochter vom ‹Hirschen› in Maulach. Das war Anfang des 19. Jahrhunderts. Sein Filius wiederum hatte elf Kinder. Er schickte diese in die Welt hinaus – einer dieser Söhne, Gottlieb Heinrich Wirth, wurde Hotelier. Er tourte durch all die grossen Häuser Europas und der Schweiz. Er war schliesslich Spiritus Rector der Bucher-Durrer-Gruppe. Und heiratete eine der Bucher-Töchter aus den Bürgenstock-Hotels. Als 21-Jähriger kam er erstmals nach Rom… ja und dann fing die Geschichte hier erst so richtig an!»

Der Name Wirth ist mit vielen Hotels verbunden – ob mit dem von Rolf Wirths Onkel erbauten «Hassler/Medici», dem einstigen Grandhotel in Magglingen (die heutige Sporthochschule) oder dem «Palace» in Stresa – über all die lange Zeit spürte man den Wirth-Wind…

«Die Angestellten pendelten (zuerst bei den Bucher-, dann bei den Wirth-­Hotels) damals zwischen Luzern und Rom, je nach Saison, hin und her.

Kellner, Wäscherinnen, Sekretäre, Gärtner – das war eine grosse Familie. Sie gingen für uns durch dick und dünn – und wir für sie.

Das Hotelwesen kittete uns alle zusammen. Und gab den Häusern den ganz speziellen Geist eines Familienunternehmens…»

Sie sind also in diesen Geist hineingeboren worden? Ein klarer Hotelier-Bub?

«Ja. Und nein. Wir wuchsen wohl als kleine Kinder hier auf – als mein Grossvater 1937 starb, musste mein Vater alles übernehmen. Er war damals erst 27. Doch als dann die ersten Bomben auf Rom fielen, schickten sie meine Schwester Vera und mich nach Teufen in die Schweiz. Natürlich waren wir Fremde dort. ‹Tschingge!› Wir trugen Socken und Schuhe – die meisten unserer Mitschüler aber gingen barfuss. Zoff war vorprogrammiert. Sie haben mich immer wieder mal verprügelt. Ich musste mich als Kleinster wehren. Das hat sich dann wohl in mir festgesetzt – ‹sich durchsetzen› wurde zu einem Reflex.»

Und wie haben Sie sich gewehrt?

«Ganz einfach – ich hatte gute Zähne. Und schnappte zu. Dann war Ruhe!»

Später wieder zurück nach Rom?

«Ja – meine Schwester Vera und ich fuhren mit einem uns total fremd gewordenen Vater von der Schweiz nach Rom zurück.

Nachdem wir nun Schweizerdeutsch redeten, waren wir bei den Italienern prompt die Tedescacci. Also die ‹Sauschwaben!›. Wieder gabs Raufereien. Wir waren in jungen Jahren eigentlich immer und überall Fremde…»

Und die Schule in Rom?

«Meine Eltern gründeten hier die Schweizer Schule. Sie existiert noch heute und hat einen guten Ruf. Für mich war das ein Horror. Ich hatte nie Ferien. Wenn unsere römische Schule hier schloss, wurde ich sofort in Schweizer Schulen geschickt, um zu prüfen, wie das Niveau dort war … wie andere, gute Privatschulen hat auch ‹unsere› in einem Land mit marodem Schulsystem eine wichtige Funktion erfüllt.»

Immerhin – Sie kamen neben der Schule in Rom dann auch in den Genuss der grossartigen 50er-Jahre hier. Das «Victoria» bei der Veneto war ja einer der Treffpunkte der Stars jener Zeit.

«Stimmt. In unserer (immer noch originalen 50er-Jahre) Bar – sie ist übrigens von Wladimir Romanowsky, dem Architekten des Basler Suter-&-Suter-­Unternehmens gebaut worden –, in unserer Bar also herrschte Highlife: ­Fellini … Anita Ekberg … Mastroianni … alles war da. Alles ungezwungen. Ganz Rom traf sich zu jener Zeit in der Via Veneto – die Filmwelt, Mode, Strassendamen, der Adel. Für einen jungen Mann war das spannend – ich musste dann aber zusammen mit meiner Schwester Vera wieder in die Schweiz zurück , um zu studieren. Zuerst in Zuoz (dort traf sich die grosse Basler Clique: Küderli, die Theler-Buben und Gütnher Sachs). Dann an der Zürcher Uni. Aber natürlich bin ich immer wieder nach Rom zurückgekehrt – später auch, um hier neben dem Studium die Ferienvertretung meiner Eltern anzutreten.»

Sie haben Jura studiert. Und sind dann doch im Bankgeschäft einge­stiegen?

«Nun, als ich meine Frau kennenlernte, sagte sie, sie wolle nur einen Mann heiraten, der auch einen anständigen Beruf habe. Also meldete ich mich bei befreundeten Bankiers – Bär, Vontobel und auch bei der Schweizerischen Kreditanstalt. Letztere bot mir eine ausserordentliche Ausbildungschance. So begann meine Banker-Karriere…»

Aber die kam anfangs nicht so richtig in Schwung?

«Stimmt. Ich war wohl zu direkt. Mir fehlt die nötige Diplomatie. Ich sage auch heute noch, was ich denke. Das ist im Bankgeschäft nicht förderlich…»

Dennoch haben Sies später bis zum obersten Stockwerk der Deutschen Bank Schweiz geschafft.

«Ja. Und nach meiner Pensionierung habe ich mich wieder des ‹Victorias› angenommen. Und es sukzessive aus seinem Römer Dornröschenschlaf geweckt…»

Tatsächlich ist das Haus hinter der Veneto heute dank der 5. Hotelier-Generation Wirth wieder zu einer der führenden Adressen in Rom geworden. Kulturbeflissene gehen hier ein und aus – die Freunde der römischen Geschichte…

«Ja. Aber die Veränderungen, Verbesserungen, all diese Arbeiten verschlingen nicht nur viel Zeit und Nerven – sondern auch viel Geld. Für eine Familie ist dies in einem unternehmerfeindlichen Banken- und Staatsumfeld wie in Italien kaum zu stemmen. Meine Schwester Vera und ihr Mann – sie hat meinen Zuozer Jugendfreund Rainer von Falkenstein geheiratet – unterstützen mich. Aber es ist schwer in Rom…»

Zum Beispiel?

«Chaotisch. Ich glaube, Italien ist jetzt wirklich an seinem tiefsten Punkt angelangt. Alle sagen, es gehe wieder aufwärts. Ich sehe da kein Licht am Horizont…»

Aber der Tourismus im Heiligen Jahr wird florieren und…

«Ja. Für die Kirche. Die katholische Kirche besitzt über 60 Hotels in der Stadt. Und meinen Sie, die bezahlen darauf Taxen? Der Vatikan und seine Filialen müssen keine Steuern hinblättern – die normalen Unternehmer aber schröpft der Staat. Kein Politiker wagt es, den Mund zu öffnen, wenns um die Kirche geht…»

Okay. Aber es gibt neben den Politikern auch das Volk…

«Die Italiener haben keine Tradition zu einer Zivilgesellschaft – diesbezüglich fehlt ihr Verständnis. Sie foutieren sich um die Lage. Sie malen sich alles schön. Gestern hat ein Römer Anwalt doch allen Ernstes behauptet, Italien habe die weltbesten Schulen…»

Und?

«Als ich ihn fragte, wo er denn so etwas herhabe, meinte er, er habe es im Berlusconi-Fernsehen gehört… so geht das hier!»

Ich möchte dann doch noch die berühmte Terrasse sehen.

Rolf Wirth ist für sein Gartenhobby berühmt. Er hat auf dem Dach des «Victorias» nicht nur die schönste Terrasse in Rom eingerichtet, die Familie besitzt am Lago di Bracciano – 40 Autominuten ausserhalb der Stadt – ein Gut, über dessen Park mit den einzigartigen Pflanzen in Zeitschriften und Büchern immer wieder berichtet wird.

Wirth gilt in Fachkreisen als «grossartiger Gartenkenner».

Er lacht: «Ich kann nicht anders, als mich einer Sache immer sehr umfassend anzunehmen: Man vertieft sich in die Materie – und sie wird immer spannender. Nicht nur bei Pflanzen. Überhaupt. Um Dinge zu verstehen und entsprechend sachgerecht zu handeln, muss man sie à fond kapieren – also muss man sich reinknien!»

Vielleicht ist das der Schlüssel zu seinem Erfolg?

Das Unwetter ist vorbei.

Die weiss gedeckten Tische sind nass, vollgetränkt – aber die Blumenpracht darum herum macht sich auch mit tropfenden Blüten grossartig.

«Irgendwann hört jedes Unwetter einmal auf – selbst in Italien…», lacht Wirth. «…doch dann ist das nächste bereits wieder im Anrollen!»

Sagts.

Und von ferne hört man ein leises Donnergrollen über der Ewigen Stadt.




Was Rolf Wirth mag oder nicht mag

Er mag: Gute Weine, Veduten mit Römer Sujets und das Anlegen von Parks und Gärten.

Er mag nicht, dass der Vatikan in Rom keine Steuern bezahlen muss, ­mangelnde Zivilcourage und Duckmäuser …

Samstag, 10. Oktober 2015