Martin Suter: «Ich suche Geschichten. Überall»

Martin Suter 2014 (Foto: Wikipedia CC0 1.0)

Der Chef de Service hockt im dunklen Anzug hinter dem Pult. Er ist der Wachhund der heiligen Hallen. Mit scharfem Blick kontrolliert er, wer da alles reinkommt.

VOR ALLEM: WER REINDARF!

«Herr Suter wartet an seinem Tisch…», sagt er nun.

Es ist ein klares Zeichen des Erfolgs: Denn wer hat schon seinen eigenen Tisch in der Zürcher Kronenhalle?

Martin Suter schon.

Er ist der meistgelesene Schweizer Schriftsteller – seis bei uns. Seis im Ausland.

DIE ERFOLGSGESCHICHTE EINES GESCHICHTENSCHREIBERS ALSO.

Nun sitzt er da. Unter Calder und Dürrenmatt. Und nur einen Arm weg von Hulda Zumsteg. Varlin hat die Wirtsfrau einst in Öl verewigt. Und noch immer ist sie bis zur letzten Flasche präsent, diese einstige Serviertochter, die das «Hotel de la Couronne» zu einem kleinen Museum und dem Treff der kulturellen (sowie wirtschaftlichen) Haute Volée dieses Landes gemacht hat.

Martin Suter ist kleiner, als ich ihn in Erinnerung habe.

Früher habe ich seine Massanzüge (die er sich auch heute noch von einem Schneider aus dem Fernen Osten schneidern lässt) leicht schräg gefunden – zumindest für einen jungen Mann im Twen-Alter, der eben die Schweizer Werbeszene aufmischte.

Er kam in den 70ern stets wie aus dem Ei gepellt in die Basler Kunsthalle. Krawatte. Ganz nach oben gezogen («Ich hasse es, wenn man über dem Krawattenknopf den Hemdenknopf sieht»). Gilet. Schwarze, polierte Schuhe.

Auch jetzt ist er noch immer der Gentleman – vom Scheitel bis zur Sohle. O. k. Kein Scheitel. Alles nach hinten gekämmt. Und kein einziges graues Haar.

ZU SCHÖN, UM WAHR ZU SEIN?

«Nein. Du schaust nicht genau hin – es hat Silberfäden. Und nochmals nein: alles natür. Ich färbe nicht!»

Verdammt. Er hat sich dieselbe rankschlanke Figur von damals bewahrt. Keine Augensäcke, kein Bauch – nur die Stimme und sein Lächeln sind leiser geworden.

Umarmung. Und: «Wie lange ist es her?»

Sehr lange.

Damals habe ich in der Sendung «Kuchiklatsch» einen kleinen Film über ihn gedreht. Im «Trois Rois». Standesgemäss. Denn schon zu jener Zeit war Suter der Schweizer Schreiberstar, der mit «Small World» (später mit Depardieu in der Hauptrolle verfilmt) längst auch über die Grenzen hinaus sein Publikum faszinierte.

Heute habe ich ihm Mohrenköpfe mitgebracht. Er lächelt:

«Darf man dem noch so sagen? Egal. Ich liebe Süsses…»

Der Kellner beugt sich flüsternd zu Suter: «Es ist Mittwoch. Es gibt Bollito misto…»

Suter kennt das Prozedere: «Empfehle ich dir … den Zampone mag ich am liebsten…»

Er nickt dem Kellner zu: «Zwei Mal. Und einen Zweier Meier…»

Nun grinst er ein bisschen: «Es ist ein Rotwein von Dieter Meier. Du weisst schon: der Yello-Sänger. Den Meier-Zweier bestelle ich vor allem des Kalauers wegen…»

Suter schaut um sich: «Ich sitze gerne an diesem Tisch – meine Gäste können das Restaurant geniessen …sehen, wer hier ist. Und hier isst. Ich drehe dem Treiben den Rücken zu. Und bin doch etwas geschützt…»

Gut. Er ist kein Mick Jagger – aber er rockt die Buchläden. Und mit Stephan Eicher in den Songbook-Konzerten rockt er zurzeit auch die Theater. Die Songs sind zum Heulen schön. Das Buch auf der Bestseller-Liste.

Die Auftritte der beiden sind längst ausverkauft. Suter und Eicher sind die Champions-League-Stürmer der Kulturszene.

Manchmal kommt Neid auf. Man verdient eben nicht als einziger Schweizer Schriftsteller ungestraft einfach so Millionen in diesem Land – da platzt Kulturkritikern der enge Kragen. Und sie sprühen Gift. Das gallige Wort heisst «Unterhaltungsliteratur». Denn Kommerz ist im deutschsprachigen Kulturbetrieb wie Mundgeruch bei einer Primadonna.

ES SCHEINT, DASS KULTUR IM DEUTSCHEN SPRACHGEBIET NUR ZÄHLT, WENN DIE SACHE KEINEN ERFOLG HAT …

Suter nimmt solches gelassen: «Das hast jetzt du gesagt. Aber ich bin froh, dass ich nicht von Pro Helvetia und staatlicher Kulturförderung abhänge – und dass die dann jene unterstützen, die weniger Glück haben als ich.

Und: «…ganz selten nerve ich mich über ungerechte Kritik. Etwa wenn jemand an einem neuen Buch etwas kritisiert, das ich gar nicht geschrieben habe… Solche Sachen kommen vor!»

Er ist in Zürich aufgewachsen. Der Grossvater war Unternehmer. Fabrikant.

Später war alles weg – nur zwei Schwestern des Grossvaters blieben aus jener Zeit zurück.

«Die Tanten wurden oft am Sonntag besucht. Sie bereiteten uns Kindern – wir waren zwei Buben und ein Mädchen – wunderbare Feste. Wenn wir erwartungsfroh an die Türe klopften, liefen sie uns strahlend entgegen: «Ja, wer kommt denn da?»

Auch später haben sie uns die Türe mit «ja, wer kommt denn da» geöffnet –aber dann war es eine richtige Frage. Da haben sie nicht mehr gewusst, wer vor ihnen steht… Irgendwie war das skurril. Und traurig.»

Das Thema «Alzheimer» hat er in «Small World» aufgenommen. Sein Vater hatte an dieser Krankheit gelitten – später hat Suter viel darüber recherchiert: «Ich hätte nach all diesen Recherchen gewollt, ich hätte all das schon früher gewusst. Vielleicht hätte ich meinen Vater dann besser verstehen können.»

Er kam als junger Bursche mit der Familie nach Basel. DAVOR: VIER JAHRE COLLEGE ST. MICHEL MIT VIEL LATEIN UND GRIECHISCH:

«…da lag das Humanistische Gymnasium auf der Hand. Aber die hatten auch Fächer wie Mathematik, Chemie, Naturwissenschaften. Das war nicht mein Ding. Ich liebte Sprachen.»

Er besuchte für ein Jahr die Minerva und machte danach englische A- und O-Levels, die allerdings von der Uni Basel nicht als Matur akzeptiert wurden. Er schrieb sich als Hörer ein: «…und natürlich wollte ich im Kolibri, der damaligen Uni-Zeitung, schreiben. Aber die meinten, ich solle zuerst mal Inserate akquirieren. Also verschickte ich entsprechende Briefe an diverse Firmen. Und bekam von einer einen zurück. In dem schrieb der Chef: «Ich inseriere nicht. Aber ihr Brief ist das Beste, was mir in dieser Form je unter die Augen gekommen ist. Sie sollten Werbetexter werden, junger Mann!».

Das tat der junge Mann. Er klopfte bei der damals grössten Werbeagentur des Landes an: der GGK.

«Markus Kutter stellte mich ein – gelernt habe ich jedoch das meiste von Robert Stalder. Er hat mir viel über das Schreiben beigebracht.

Viel später haben wir zusammen eine Werbeagentur in Basel eröffnet.»

Mit 27 wurde Martin Suter als Creative Director in die neu eröffnete GGK Wien geschickt. Ein gutes Jahr später nahm er sich eine Auszeit. Er reiste ein Jahr durch Afrika – «es war das Resultat einer jungen, inneren Unruhe, aber auch das Resultat einer Neugierde auf Neues, anderes.»

Nun begann er für das eben frisch erschienene GEO Reiseberichte zu schreiben:

«Das war gut bezahlt, aber ich arbeitete so aufwendig, dass ich nur drei Reportagen pro Jahr zusammenbrachte. Davon konnte ich nicht leben. Und die Werbung hatte mich wieder…»

1991 zog er dann mit seiner Frau Margrith Nay (sie betrieb in Basel an der Schneidergasse eine Boutique mit ihrem eigenen Label O.N.L.Y) versuchsweise ein Jahr nach Ibiza.

In der Weltwoche startete er mit einer Kolumne: pointiert, schräg und bitterböse skizzierte er die Welt der «Business Class».

Die Sache schlug wie eine Bombe ein. Auch hier: Es wurde die erfolgreichste Spalte jener Zeit. Nein. Bis heute. Dazu die bestbezahlte. Als der Chefredaktor eines Tages rumdruckste und meinte, man müsse sparen und das Honorar etwas kürzen, liess Suter aus Spargründen den Schluss weg. Und hörte anno 2007 (nach 750 Kolumnen!) mit der «Business Class» auf.

Dürrenmatt, vor allem auch Frisch haben früher die Elite der Marktwirtschaft angeprangert – bei Suter war es eine feinere Klinge:

«Moralische Instanz – das wird von vielen als eine Aufgabe eines Schriftstellers gesehen. Aber ich bin dafür nicht geschaffen. Natürlich habe ich eine politische Meinung – doch ich äussere sie nicht ungefragt…»

Und dann nur noch Bücher?

«Bücher. Kolumnen. Artikel. Theaterstücke, Songtexte.

Ich war gut 20 Jahre hauptberuflich in der Werbung (wenn ich daneben stets auch anderes geschrieben habe). Doch seit nun 27 Jahren bin ich Schriftsteller im Hauptberuf.

Aus dem Versuchsjahr auf Ibiza sind über 20 Jahre geworden.

Margrith (wir sind jetzt auch schon 42 Jahre zusammen!) gab ihren erlernten Beruf als Modedesignerin auf. Und wurde Architektin.

In Ibiza – wenig später auch in Guatemala – konnte ich in Ruhe arbeiten. Abgeschieden.

Jean Willi, der Maler und Schriftsteller, den ich noch aus meiner Basler Zeit kannte, wohnt(e) auch auf Ibiza. Durch ihn sind wir überhaupt auf die Insel gekommen. Wir sind alte Freunde …»

Jean Willi hat damals Fasnachts-Laternen gemalt – sein «letzter Vorhang» nach dem Abriss des alten Basler Stadttheaters war ein grossartiger Wurf.

Fasnacht?

«Nein. Das war nie mein Ding. Ich habe zwar schon damals zur Basler Zeit auch Lieder geschrieben, eben Songs. Und Vreni Schmidlin, das legendäre Zyttigsanni, hat mich stets gedrängt: Gehe als Schnitzelbänggler «dr Zircher» – das wäre ein Knaller. Gut. Wäre es vielleicht geworden. Aber dafür fehlte mir einfach das nötige Feuer…»

«Du hast auch in Guatemala gewohnt.»

«Ja – beim Atitlán-See. Wir besuchten Freunde in Guatemala. Kurz darauf konnten wir dort ein Stück Land kaufen. Und Margrith baute ein schönes Haus darauf.

Wir besitzen das Haus immer noch. Aber als wir uns entscheiden mussten, wo unsere kleine Tochter Ana ihre Schulausbildung machen sollte, haben wir uns für Zürich entschieden.»

«Ihr lebt auf dem Zürichberg.»

«…im Wolfbachtobel. Man steckt mitten im Grünen. Und ist in 15 Minuten zu Fuss in der Stadt. Ana hat sich gut eingelebt. Sie hat Freunde gefunden. Wir würden sie nur schwer wieder hier wegbekommen.»

…und jetzt ist da auch noch ein Riad in Marrakesch?

«…wir hatten uns während eines Ferienaufenthalts in Marrakesch in dieses Riad in der Medina verknallt. Im Innenhof ist es wie in einer Oase…»

Die Serviertochter bringt das Dessert – er nimmt Vanille-Erdbeer («alte Gewohnheit!»), ich «bsoffeni Dattle».

Wenn ich ihn so beobachte, ist er sowohl Allmen wie auch der letzte Weynfeldt – immer ein bisschen Romanfigur.

Er lacht: «Siehst du mich als Hochstapler von Allmen?»

Nein – aber dein Auftreten, der weltgewandte Grandseigneur, all das ist doch auch ein Moment deiner Romanfiguren.

Er überlegt: «Man kann sich selber in einem Roman nicht aufzeichnen – aber die Figuren sind in uns drin. Es gilt sie zu entdecken…»

Und die Geschichten?

«Ich suche weder eine Message noch irgendwelche Themen… aber ich suche Geschichten. Und die sind überall…»

Das Faszinierende an Suters Romanen ist, dass man sofort mit den Figuren vertraut ist. Und jeder denkt: Ja klar –das spielt bei uns…

«Meine Storys sind eigentlich alle in Zürich angesiedelt. Aber ich habe mir beim ersten Roman gedacht, es muss so geschrieben sein, dass es überall stattfinden könnte.

Ähnlich ist es auch mit den Themen und der Handlung. Manches ist erlebt. Vieles ist Fiktion – aber innerhalb der Fiktion muss die Geschichte stimmen. Das bedingt viele Recherchen…»

«Viele der Bücher wurden verfilmt. Du hast aber nie das Script zu einem Film geschrieben.»

«Nicht zu einem eigenen Roman. Aber viele Original-Drehbücher. Wenn ich einen Roman abgeschlossen habe, ist da der Schlusspunkt. Erledigt. Fertig. Ein klares Endprodukt.

Der Roman ist wie ein bunt gestrickter Norwegerpullover. Ziemlich schwierig, bis alles perfekt zusammengeknüpft ist.

Ein Script aber ist ein Rohprodukt –anders gesagt: Ich ziehe den Pullover wieder auf. Lege dem Film-Regisseur die Wollbündel hin. Und er kann daraus dann etwas machen…»

Das Alter?

Er überlegt nun lange: «Eigentlich war es nie ein Thema. Aber jetzt, wo das -7- auf den Rücken kommt, wirst du doch etwas nachdenklich… Als Nächstes folgt eine 8. Keine so angenehme Vorstellung.

Es stimmt nicht, dass man so alt ist, wie man sich fühlt. Aber eines ist sicher: Ich fühle mich nicht so, wie ich mit 30 gedacht habe, dass ich mich mit 70 fühlen werde…»

Der Diogenes-Verlag hat sich starkgemacht, dass wir Suter in der Kronenhalle fotografieren dürfen.

Der Chef de Service lächelt nun zuvorkommend: «Das ist natürlich eine Ausnahme. Aber Herr Suter ist ja auch nicht irgendwer…»

Er rockt sogar die Kronenhalle.

Was Martin Suter …

…mag: Essen, Trinken, Schlafen – alles nicht allein.
…nicht mag: Fast Food, Softdrinks, Powernaps – alles auch nicht allein.

Photo: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Martin_Suter.jpg

Samstag, 24. Februar 2018