Jörg Schild

«Schön hier», sagt er. Und sein Blick geht aus dem Fenster:
KLEINBASLER SILHOUETTE ... MITTLERE BRÜCKE ... SCHWÄNE, DIE TRÄGE IHRE KREISE ZIEHEN.
Dann schauen seine Augen mit diesem etwas abgerückten Teddybären-Blick, der die Frauenherzen wie ein ­Fagottmundstück vibrieren lässt. «Ich bin nicht mehr so viel hier. Drei Basler Monate im Jahr. Das ist wenig ...»
Jörg Schild – Jögge, wie ihn die Basler nennen – lebt zurzeit auf der ganzen Welt. Und ist dennoch in Basel daheim. Dazu noch in Flims.
«O.K. – das mit Flims ist, nach zehn Jahren Falera, erst seit vier Jahren. Aber ich bin schon als Bub im Bündnerland auf den Ski gestanden. Es hat mich immer wieder dorthin gezogen ...»
Er mag die Berge, die Bündner – auch wenn ihm Letztere momentan Bauchweh bereiten –, denn: Wer weiss, wie sie am 3. März abstimmen. Und ob sie zu den Olympischen Winterspielen im Bündnerland Ja sagen werden. Lakonische Prognose des Swiss-Olympic-Präsidenten:
«Momentan sieht es nicht ganz so rosig aus. Gut. Aber es ist nicht m e i n e Kandidatur. Ein Nein wäre eine vertane Chance.»
Wieso?
«Wir hätten mit den Spielen als Schweizer wieder einmal die Möglichkeit, unser ramponiertes Image in der übrigen Welt aufzupolieren. Wir könnten zeigen, dass wir gute Gastgeber sind – etwas, das uns in Österreich viele Orte voraus­haben –, und es ist auch eine Chance, zu den eigentlichen Werten des olympischen Gedankens zurückzufinden ...»
Was heisst das?
«Nun – die Olympischen Spiele werden immer gigantischer ... die Show immer verrückter ... Herr Putin stampft in Sotschi ein Wahnsinnsprojekt aus dem Boden ... alles muss immer noch grösser, noch bombastischer, noch effektvoller sein. Die Bündner Winterspiele wären da leiser. Aber endlich wieder mit der Natur verbunden. Die Berge, der Schnee, der Winter – alles liegt vor der Haustüre ... wir können mit der Schönheit unseres Landes trumpfen.»
Und das sehen die Bündner nicht so?
«Ich werde mich hüten, als Unterländer den Bündnern dreinzureden. Und es sind ja nicht nur die Bündner. Wenn du in der Schweiz etwas machen willst, wenn das zu 90 Prozent eine positive Sache ist – dann rollen die Leute zuerst die zehn Prozent Negativa auf. So auch die Medien. Alles wird hier gleich bekrittelt, benörgelt, beneidelt. Es ist eine Krankheit in diesem Land: Elan wird im Geheimen erstickt. Anstatt dass man die 90 Prozent Positives sieht, mit Schwung an die Sache geht – und dann die Negativa wegräumt!»
Keine Freude herrscht? Nicht wie bei Ogi?
«Das ist eine andere Situation. Sitten war damals ja als Kandidat nominiert. So weit sind wir noch gar nicht ...»
Aber hätte Graubünden beim IOC überhaupt eine Chance, die Spiele zu bekommen?
«Nun – das ist dann wie beim Glücks­spiel. Dazu kann man im Voraus gar nichts sagen. Es sind etwa 106 stimmberechtigte Vertreter im Komitee, die das bestimmen – davon sind nur 15 aus nationalen Komitees. Und immerhin sind wir 204 Länder! 30 sind Verbandsleute und Athletenvertreter – die restlichen 61 werden wie in einem Serviceclub berufen und sind – oft – eine eingeschworene Seilschaft mit vielen Interessen ...»
So kommt es dann auch, dass reiche Wüstenfürste oder ein Putin die Spiele bekommen? Wird da nichts dagegen unternommen?
Schild grinst: «Ich habe dem IOC einen Antrag gestellt, man solle doch mehr Leute aus den nationalen Komitees in ihr Gremium wählen. Und einen zweiten Antrag: Man solle bei der Vergabe vermehrt auf die Menschenrechtssituationen achten. Weisst du, was die Antwort war?»
???
«K E I N E. EINFACH KEINE ... ICH HABE NIE EINE ANTWORT ERHALTEN. La Suisse et Schild n’existent pas!»
Der «Picobello»-Kellner nimmt die Bestellungen entgegen – Schild wählt Risotto. Und einen gemischten Salat – keinen Wein.
Der Wirt entdeckt Schild, schüttelt ihm die Hände.
«Ich kenne die Beiz noch von früher, als ich auf dem Spiegelhof war. Ich bin gerne hier. Und dann eben diese Aussicht auf den Rhein ...»
In diesem Moment nehmen der Basler Polizeikommandant Geri Lips und Baschi Dürr, der neue Vorsteher des Sicherheitsdepartements, eben vier Stunden im Amt, am Nebentisch Platz. Sie jucken nochmals auf, um Jögge zu begrüssen – «jetzt bin ich also in deinem Büro», lacht Dürr.
«... und irgendwo weht noch eine kleine Pfeifenwolke von mir!», gibt Schild zurück. Dann ein paar Witzchen über Dürrs verschobenen Waschtag – und: «Rauchst du immer noch Pfeife?!»
Schild stöhnt: «Bist du verrückt ... beim Sport herrscht striktes Rauchverbot ... früher hättest du mich ja nie ohne Pfeife angetroffen!»
O.K. Er war der Basler Helmut Schmidt – immer leicht umwölkt. Sind solche Verbote, all dieses Anti-Raucher-Getue nicht auch irgendwie Hysterie?
«... nun ja, es käme alles besser, wenn die Menschen ein wenig toleranter wären!»
Wir kommen auf Schilds bissiges Mundwerk zurück. Seine Reden waren immer provokativ. Er hat nie ein Blatt vor den Mund genommen ...
«Ich habe stets das Maul aufgemacht, da kann ich nicht anders. Es ist wichtig – in einem anständigen Ton, versteht sich –, den Finger auf die wunden Punkte zu ­legen. Das tut man im Dienst der Sache!»
Aber das haben nicht immer alle goutiert? Oder begriffen?
«Als Basler machst du gerne mal einen Spruch – damit haben die übrigen Deutschschweizer mitunter Mühe. Und wissen nicht so recht damit umzugehen.»
Deine scharfen und pointierten Reden waren und sind berühmt. Am Gryffe-Mähli hast du mit deinem Vergleich zwischen Politikern und Fasnächtlern Furore gemacht.
Schild lacht: «Ich wollte einfach Pa­rallelen aufzeigen – Lämpe, also gut Deutsch Zoff, gibt es in Cliquen genauso wie in politischen Parteien. Das Resultat bei beiden: die Spaltung.
Nach der Fasnacht findet die Lämpe-Sitzung statt – dies bei den Cliquen. Nach dem Wahlkampf hat man dasselbe bei den Parteien – nur heisst es dort vornehmer Klausurtagung oder Strategieworkshop.»

Du bist Fasnächtler. Pfeifer bei der Wettstai-Clique ...
«... und früher auch bei der Rotstab-Clique Liestal. Im Rotstab-Cabaret habe ich gar ‹Stiggli› gespielt und getextet. Texten war eh immer mein Ding. Ich stand kurz davor, in eine Werbeagentur einzutreten …»
… dann haben sie dich als Staatsanwalt nach Basel geholt?
«Ja. Alle diese Berufungen – seis jetzt als Staatsanwalt in Basel ... oder nach Bern zur Drogenfahndung ... dann zum Regierungsratskandidaten ... sie kamen immer irgendwie zur richtigen Zeit. Es war meist Zeit für einen Wechsel.»
Man liest immer, du seist als Staatsanwalt ein Hardliner gewesen – was meint man damit?
«Nun – als Staatsanwalt musst du anklagen, wenn die Unschuld nicht erwiesen ist. Das ist immer die harte Gangart. Deshalb hängen sie dir den Mantel ‹Hard­liner› um …»
Aber im Grunde genommen bist du pflaumenweich?
Er zögert kurz: «... ich glaube einfach, dass ich wohl viel sensibler bin, als ich wirke. Eines Tages habe ich mich gefragt: Woher habe ich eigentlich das Recht, für diesen Mann 15 Jahre Zuchthaus zu beantragen? Und wenn dir mal solche Zweifel kommen, musst du als Staatsanwalt aufhören ...»
Kann man als Politiker sensibel sein?
«Es wäre schön, wenn man es ein bisschen mehr wäre. Unsere Politiker spielen heute alle in einer – B-Liga. Es gibt kaum mehr grosse Köpfe – das kann ich auch gut verstehen. Das Klima ist anders geworden – man schiesst heute Mann auf Mann. In der Sonntagspresse werden Politiker wie Primarschüler benotet. Soll man sich so einen Job noch antun?»
Als du im November 2005 zum Präsidenten der Swiss Olympics gewählt wurdest (und immer noch Basler Regierungsrat warst), haben viele gesagt. «Der Jögge ist müde geworden. Er will nicht mehr …»
«... mag sein, dass ich diesen Eindruck vermittelt habe. Das hatte aber sicher auch mit meinen gesundheitlichen Problemen, diesen ewigen Rückenschmerzen zu tun. Sicher ist, dass ich die ‹Schugger› auf dem Posten, ja mein ganzes Umfeld mehr als geschätzt habe. Es war toll, mit diesen Leuten zu arbeiten. Es war eine Familie. Aber das politische Klima wurde kälter – damals war der Anfang. Die Tonart im Rat wurde aggressiver. Da fiel es leicht aufzuhören – die Berufung war für mich wie ein Sechser im Lotto: Ich kehrte zum Sport zurück, wo ich ja angefangen hatte.»
Du warst Handballer in der Nationalmannschaft und ...
«... ja, das war einmal. Die Bälle wurden dann immer kleiner: zuerst noch Tennis. Heute bin ich beim Golfball angelangt. Aber da komme ich wegen meiner Rückenprobleme kaum mehr zum Spielen. Meine Frau schlägt mich haushoch ...»
Er hat eben wieder eine Operation hinter sich – und noch immer Schmerzen: «Ich bin aus künstlichen Gelenken zusammengesetzt – Schrauben noch und noch. Wenn ich beim Flughafen durchs Untersuchungstörchen muss, blinkt es wie eine Scooterbahn. Mittlerweile kann ich bereits in zwölf Sprachen erklären: ‹Ich habe künstliche Gelenke und Schrauben›.»
Sport ist gesund?
«Es ist nicht gesagt, dass die Schäden vom Sport kommen. Mein Vater hatte auch ...»
Ja. Aber er war ja auch Fussballer bei den YB-Junioren ...
«Stimmt. Und mir wollte er den Fussball verbieten ...»
Du bist in Basel und Liestal aufgewachsen – hast mit den ersten Maturanden im Kanton Landschaft abgeschlossen, aber das Elternhaus in Basel nie aufgegeben. Glückliche Kindheit?
«Nun – Liestal war eine gute Zeit. Ich trieb viel Sport, Leichtathletik – daneben zum Ausgleich Handball. Einmal wurde ich gar kantonaler Meister im Siebenkampf. Dies alles neben der Schule.»
Nun schaut er wieder aus dem Fenster: «Als ich die Matur im Sack hatte, eröffnete mir mein Vater, dass die Eltern sich trennen würden. Das war ein Schock – irgendwie hat es mich zu jener Zeit total aus dem Geleise geworfen. Die Normalität war weg – ich war jetzt für meine drei Schwestern und meine Mutter das Familienoberhaupt, sozusagen. So etwas steckt man nicht einfach locker weg ...»
Da ist sie – die sensible Seite im Hardliner.
Machst du noch Politik?
«Ums Himmels willen – ich bin noch in der FDP. Aber für Politik hätte ich kaum Zeit. Ich bin schon froh, wenn ich wieder mal in Basel bin. Und alte Freunde treffe ... die zünden mich dann natürlich sofort an und jammern über die schlechten Resultate unserer Sportler. Und dass ich da etwas tun müsse ...»
Und?
«Was und? Das ist nicht die Aufgabe des Nationalen Olympischen Komitees. Das sind die Aufgaben der Verbände. Dort muss über die Bücher gegangen werden.
Unser Komitee ist lediglich der Dachverband. U n s e r e Pflicht ist es, für die Athleten gute Rahmenbedingungen zu schaffen. Das tun wir.»

Du bist eben wieder für vier Jahre gewählt. Was heisst das?
«Eben: vier Jahre weiterhin Stress. Rumjetten. Und natürlich macht das auch viel Spass. Mit 70 Jahren auf dem Tacho ist bei uns dann Schluss – also werde ich vermutlich nach Rio 2016 zurücktreten ...»

Jörg Schild mag
Musik: Jazz, Classics
Essen: Italienische Küche. Und keine Innereien (ausser Leberli)
Getränk: Rotwein und Malt Whisky
Verabscheut: Die Frage, mit welchem Politiker er nie an derselben Tafel essen möchte: «Ich habe in meinem Leben gelernt, mit allen Menschen an einen Tisch zu sitzen ...»

Samstag, 2. März 2013