Maya Graf

«Mit 14 konnten wir Kinder den Hof alleine führen»
Ihr Mail: «… stört es Sie, wenn ich den Hund mitbringe? Ein harmloser Pudel.»
Mein Mail: «Nein. Ich bin mit Politik und Hunden aufgewachsen …»
Irgendwo bei den Recherchearbeiten lese ich dann, dass der Kaminfeger nach ihrer Wahl zur Nationalratspräsidentin am kommenden Tag auf dem Hof zu tun hatte. Und als Erstes den kleinen Pudel begrüsste: «Aha – das ist also der höchste Hund des Landes!»
Sie kommt also mit Mia, einem wedelnden Wollknäuel. Und beide sind zu Fuss. Trotz Regen, der die heissen Sommertage wunderbar abkühlt. Und die sattgrünen Matten rund um das «Alpbad» von Sissach in eine mystische Opernlandschaft verzaubert.
Der Hof ihrer Eltern liegt hinter dem Hügel. Dort liegt auch Maya Grafs Kindheit, dort stecken ihre Wurzeln:
«… wir waren ein typischer Bauernbetrieb der damaligen Zeit. Wir lebten einfach. Aber es ging uns gut. Und vor allem: Wir sind in der Natur aufgewachsen. So etwas setzt natürlich Zeichen …»
Signale für die Natur?
«Nun ja – ich wollte schon als Kind immer draussen arbeiten. Nie drinnen. Als Mädchen wurde ich für dieselben Arbeiten eingesetzt wie meine Brüder – mit 14 konnten wir Kinder den Hof alleine führen. Und meine Eltern durften erstmals Ferien machen ... Wir haben alle überall mit angepackt. Das hat die Sippe zusammengeschweisst …»
Heute führt Maya Graf mit ihrem Mann, ihrem Bruder und ihrer Schwägerin den Hof nach biologischen Richtlinien:
«Wir sind – zusammen mit den Eltern und den Kindern – elf Leute, die in der Hofgemeinschaft leben. Ich kann dieses hektische Präsidialjahr nur deshalb so problemlos durchziehen, weil mir mein Mann und die ganze Familie den Rücken freihalten. Und weil ich hier inmitten von Natur und Tieren mit Handarbeit wieder auftanken kann. Dafür bin ich immens dankbar …»
Die Wirtin kommt an den Tisch: «Tschau, Maya …»
Auf dem Hof Alpbad, den Maya Graf für unser Essen ausgesucht hat, ist die Nationalratspräsidentin nicht nur Bio-Nachbarin (auch das «Alpbad» wird biologisch betrieben) – sie ist Freundin. Ein Stück Sissach. Und auch ein Stück Bauerngeschichte, die sie hier neu geschrieben hat.
Sie wählt einen gemischten Salat (natürlich aus dem Bio-Garten) mit überbackenem Ziegenkäse. Dann die Empfehlung des Tages: Filetspiessli mit hausgemachten Spätzli. Natürlich alles Bio: Schwein, Mehl, Ei. Und dazu die Bitte: «… kann man mir eine halbe Portion anrichten? Ich hasse es, Essen zurückzugeben und zu verschwenden. Doch eine ganze Portion schaffe ich nicht …»
Als Bio-Bäuerin kann sie mir bei einer wichtigen Frage bestimmt die saubere Antwort geben: Wie kann ich sicher sein, dass mein gekauftes Obst, Gemüse oder Ei wirklich BIO ist?
«Nun – man nimmt die Produkte mit dem Knospen-Label. Die Auflagen, die an die Bio-Suisse-Produzenten gestellt werden, sind streng. Die Kontrollen auch. Das Beste ist eh, man kauft in der Nähe direkt ab Bio-Hof …»
Viele sehen den Bauernberuf verklärt: ein schreiender Hahn … Kaninchen zum Knuddeln … hofeigener Süssmost auf der Laube …
«… Tatsache ist, dass der Bauernberuf sehr arbeitsintensiv ist. Viel Maschinenarbeit. Viel physisches Anpacken. Kirschen werden beispielshalber Stück für Stück gepflückt. Alle Früchte. Es sollte eigentlich auf der Packung im Laden heissen «mit Liebe für Sie von Hand gepflückt …»»
«Klar – es gibt immer wieder Tiefschläge – etwa, wenn das Wetter nicht mitmacht. Da zahlt keine Versicherung. Doch auf dem Hof machen solche Negativa die vielen Freiheiten und die kleinen Alltagsfreuden mehr als wett …»
Sie wirkt grazil. Zerbrechlich. DAS TÄUSCHT. DIESE FRAU IST STARK.
Sie hat wohl dieses liebenswerte Gesicht, das bei Männern Beschützerinstinkte weckt. Und bei Frauen Muttergefühle freilegt. Und sie hat Charme – ein Lächeln, das Einwände wegschmelzen lässt. Und auch den härtesten Gegner ins Stocken bringt.
Ist dies das Geheimnis ihres Erfolgs? Und des sagenhaften Stimmenresultats, mit dem sie im vergangenen Jahr als erste Grüne zur höchsten Frau des Landes gewählt wurde?
Sie lacht glockenhell: «Lassen Sie sich nicht täuschen. Ich liebe wohl die Menschen, habe keine Berührungsängste. Und irgendwie versuche ich eben jeden zu verstehen. Das wird vermutlich als positiv empfunden. Mit mir kann man reden – auch wenn ich das Heu nicht auf der gleichen Bühne habe wie mein Gegner.
Aber ich habe mir diesen politischen Erfolg hart erarbeitet. Seit 25 Jahren bin ich in der Politik drin. Und die Leute wissen, wofür ich einstehe. Wenns drauf ankommt, kann ich sehr bestimmt sein – ich glaube meine Kollegen in Bern werden Ihnen dies bestätigen …»

Später frage ich zwei Nationalräte. Und sie lachen: «Maya Graf ist wie ein kleiner Hund – man möchte sie am liebsten knuddeln, aber schon zeigt sie die Zähne!»
Apropos: Sie rückt dem «höchsten Hund der Schweiz» einen Putzlappen zurecht, damit er nicht auf dem kalten Steinboden liegen muss:
«… es braucht ganz klar Autorität, einen Nationalrat zu leiten. Den Begriff ‹höchste Schweizerin› finde ich übrigens unpassend für mich. In unserer Demokratie sind schliesslich alle Bürgerinnen und Bürger gleich. Die Italiener sagen es passender ‹prima cittadina› – erste Bürgerin.»
Sie hat die Arbeit auf dem Bauernhof geliebt – dennoch war Maya Graf bald klar, dass sie nie «Bäuerin» als Beruf erlernen mochte: «Ich hatte ja die Praxis von Kindheit an. Und wollte ein zweites Standbein. Das wollen heute viele junge Bauern und Bäuerinnen. Es macht flexibler und gibt dem Hof neue Möglichkeiten sowie Existenzsicherheit.»
Sie wuchs in einer politischen Familie auf. Ihr Vater war Mitgründer der Bürger-Gewerbe- und Bauernpartei BGB (später SVP). Und natürlich war sie ein Kind ihrer Zeit: «Da erwachte eine Öko-Jugend und machte mobil. Wir erlebten Kaiseraugst … Waldsterben … AJZ … Tschernobyl … die Sandoz-Katastrophe …, all dies prägte uns. Ich hatte wohl die Politik zu Hause – aber oft andere Ansichten. Das war für meinen Vater nicht immer einfach …»
Die Umwelt krankte. Und zusammen mit vielen ihrer Freunde wusste sie: «Es ist fünf vor zwölf. Da muss etwas geschehen. Also haben die jungen, politisch denkenden Sissacher die erste Aluminium-Sammelstelle in der Gemeinde eingerichtet. Natürlich haben wir auch ein autonomes Jugendlokal gefordert. Dem Gemeinderat Pläne vorgelegt. Und später eine politische Bewegung gegründet, die bis heute erfolgreich ist: die Stechpalme … der Name ist Programm: grün mit roten Beeren. Und stechend, wenn nötig.»
Auch heute noch ist Maya Graf der Überzeugung: «… jeder kann etwas erreichen. Wichtig ist, es nie alleine zu tun. Man muss Gleichgesinnte finden, sich zusammentun. Dann sollte man beharrlich bleiben, sich von Fehlschlägen nicht einschüchtern lassen. UND LÄCHELND AM BALL BLEIBEN …»
Dies ihr Rat an die Jungen.
Man wählte die blutjunge Frau zuerst in die Kirchenpflege, dann in die Gemeindekommission. Schliesslich in den Landrat. Ihr Vater sass auch dort – für die SVP. Sie wiederum stimmte bei den Grünen ab. So passierte es immer mal wieder: Der Vater stimmte Ja. Die Tochter stimmte Nein. Und der Senior brummte: «Da hätten wir beide auch daheim bleiben können …»
Politische Diskussionen am Esstisch waren programmiert: «… das konnte man nicht ausklammern. Und natürlich sind hin und wieder die Fetzen geflogen. Aber wir haben stets die Meinung des andern respektiert. Und meine Eltern haben mich immer unterstützt …»
Und jetzt? Maya Graf ist Mutter einer Tochter, die in einem Malergeschäft ihre Lehre macht. Und eines Sohns, der sich als Hochbauzeichner auf die Berufsmatur vorbereitet – ob die beiden auch politisch interessiert seien?
Maya Graf zögert: «Nun, mein Sohn geht stimmen. Die meisten seiner Freunde gehen gar nicht an die Urne. Es interessiert sie nicht – wie leider die meisten jungen Leute unter 25. Ich dränge dann meinen Jungen, er solle die Freunde wenigstens animieren ihre politische Pflicht zu erfüllen … doch mit solchen Vorschlägen komme ich natürlich ganz schlecht an.»
Und die Tochter?
«Sie hat mit Politik gar nichts am Hut …»
Das kann ich verstehen.
Maya Graf grinst: «Ich auch.»
Niggi, ihr Mann – «HINTER JEDER STARKEN FRAU STECKT EIN STARKER MANN!» –, ist immer da. Die beiden haben einander bei der Sozialarbeiter-Ausbildung kennengelernt: «Die Hauspflichten wurden gemeinsam angegangen – er hat die Kinder genauso betreut wie ich. Er kocht – und tut dies viel besser als ich –, er ist der wirklich grosse Glücksfall in meinem Leben.»
An offiziellen Anlässen? Ist er da auch dabei?
«Man ist da heute in der Schweiz offener. Meistens heisst es in den Einladungen einfach «mit Begleitung». Das ist wunderbar. So kann ich auch mal meinen Sohn oder eine Freundin an einen Empfang mitnehmen. Aber natürlich gibt es Auftritte, wo ich gerne meinen Mann neben mir habe …»
Drei Viertel der Zeit als «Prima cittadina» der Schweiz sind schon fast vorbei …
«… ja. Die Zeit ist geflogen. Sie war und ist intensiv. Ich habe viel gesehen und erleben dürfen. In so einem Amt wird einem die Vielfalt unseres Landes erst richtig bewusst … Besonders hat mich die Anerkennung von den Menschen vor Ort gefreut. Das trägt mich …»
Wie auf Stichwort streckt der «Alpbad»-Bauer Maya Graf einen Blumenstrauss hin: «Da – aus dem Garten …»
Die Präsidentin strahlt: «Der ist ja prächtig …»
Vom hintersten Tisch, wo zwei Frauen einen Kaffee mit Schokoladenkuchen reinziehen und die Szene verfolgen, tönts. «Ja, Frau Graf … Sie haben sich diese Blumen wirklich verdient. Sie machen es grossartig …»
Wieder das Strahlen – nicht aufgesetzt, aber doch mit der Erfahrung einer Habituée, die solche Huldigungen nun schon seit fast neun Monaten entgegennimmt …
Die Authentizität von Maya Graf ist erstaunlich – sie ist sich selber. Immer. Und in allen Situationen. So verzichtet sie auch auf einen Staatswagen mit Chauffeur:
«Ich fahre seit je mit dem Zug zur Session. Und auch sonst überallhin. Ich habe die Gotthardröhre noch nie gesehen. Kürzlich bin ich mit dem Velo zu einem Dorffest in den Aargau geradelt – um dort meine Ansprache zu halten. Wir haben auf dem Hof wohl einen Roller, dessen Batterie mit hofeigenem Sonnenstrom getrieben wird – und drei Familien teilen sich da ein Auto … DAS IST LEBENSQUALITÄT!»
Sie ist stolz darauf, im kostengünstigsten Parlament der Welt zu wirken:
«… als Nationalratspräsidentin bin ich noch stärker von unserm System überzeugt worden … bei uns hält keiner die Macht in den Händen … man gibt das höchste Amt nach einem Jahr wieder weiter … so kommen alle politischen Lager mal zum Zug. Wir haben schliesslich auch keine Regierung mit Opposition – sondern wir haben zurzeit fünf Parteien, die sich zu einem Konsens zusammenraufen müssen. Denn wir a l l e sind die Regierung …»
Als Präsidentin müssen Sie Ihre Meinung nun zurückbehalten und …
«Nein. Das muss ich gar nicht. Jeder weiss, wofür ich stehe – klar, dass die Parteipolitik in meinem Amt zurückgesteckt wird. Aber nicht mein Engagement. Das ist doch das Wunderbare in diesem Land – man akzeptiert die Meinung des andern, auch wenn man sie vielleicht nicht teilt …»
Ist es nicht absurd, dass sie j e t z t für die Grünen als Präsidentin dem Nationalrat vorsteht? Nach den letzten Wahlen kam der Erfolg dieser Partei doch etwas ins Wanken …
«Nein. Die Grünen engagieren sich seit mehr als 30 Jahren im Parlament. Ihre Anerkennung war höchste Zeit. Kantonal punkteten wir wohl. Schweizerisch haben wir etwas verloren – andere Parteien haben nach Fukushima schnell auch den Atomausstieg gefordert …»
Gut. Der Atomausstieg ist da – braucht es die Grünen da überhaupt noch?
«Sicher. Denn wo werden die andern Parteien bei der konkreten Umsetzung der Energiewende sein. Die Grünen sind verlässlich. Keine Eintagsfliegen. Es wird diese Grünen noch lange brauchen … denken Sie nur an unsern Ressourcenverschleiss. Wir leben hier, als hätten wir drei Erden zur Verfügung … es wird viel geredet und wenig gehandelt!»
Wie beim Kyoto-Protokoll?
«Was wollen Sie? Effizienter wäre vermutlich eine Weltdiktatur, welche die Umweltziele durchsetzt – aber eine Diktatur wollen wir alle nicht. Deshalb braucht es die Kyoto-Konferenz, wo die Staatschefs und Experten wenigstens an einem Tisch sitzen. Es braucht auch globale Lösungen …»
Sie spielen Fussball und …
«Nein. Ich spielte lange Handball und habe die erste Damenmannschaft der Handballriege Sissach mitgegründet. Aber natürlich habe ich schon als Mädchen auf unserem Hof-Mätteli Fussball rumgekickt. Und bin heute beim FC Nationalrat …»
Und der FCB?
«Ich gehe zwar kaum an einen Match – aber es vergeht auch kein Spiel, ohne dass ich mich nicht sofort nach dem Resultat des FCB erkundige. Da schlägt eben doch das Herz der Region …»
Was wünschen Sie sich für die Schlussperiode nun im Nationalrat:
«… dass ich mein Amt weiterhin mit so viel Freude erfüllen kann – und für mein Land wünsche ich mir, dass wir künftig Themen wie EU, Steuer- und Finanzfragen selbstbewusst diskutieren, ohne uns kleinzumachen. Aber auch ohne dass manchmal typisch schweizerische Misstrauen, von den andern über den Tisch gezogen zu werden …»
Ein Wunsch für sich selber?
«Gesundheit. Gesundheit für meine Familie, für meine Freunde – für die ganze Welt. Auf gesunden Grundlagen basiert doch alles …»
Mittlerweile lacht wieder die Sonne über den Feldern unter der Sissacher Fluh.
Maya Graf läuft mit ihrem Pudel querfeldein. Auf ihrem Hof wartet Arbeit – Strohballen müssen abgeladen werden: «Ich geniesse diese körperliche Herausforderung. Genauso wie die politische …»
Sie schaut nochmals zurück. Winkt: «Irgendwie schmeckt man schon den Herbst …»
Am Montag beginnt ihre Herbstsession.
Was Maya Graf mag
Essen: Käse und Brot über alles
Verabscheut
Meeresfrüchte und Machtspielereien

Samstag, 7. September 2013