Massimo Rocchi

«Mehr Selbstbewusstsein für die Schweiz!»
Er kommt nicht alleine.
Seine Begleiterin ist gross. Schön. Charmant (sie ist auch gescheit – das merke ich erst später).
Verliebt?
Sein Mund lächelt: «Darüber möchte ich nicht reden …»
Braucht er auch nicht. Seine Augen sprechen Bände. Sie glühen wie der Vesuv bei Höchstausstoss. Die tanzenden Pupillen schütten Signale aus wie Erst-August-Raketen ihre Sterne: «Jaaaa …. jaaaa …. JAAAA!»
Nun lächelt er schüchtern: «Ich habe mein Privatleben immer aus den Medien rausgehalten … bin ich stolz darauf. Kein Gewäsch in der Zeitung …»
Massimo Rocchi also: Allroundgenie. Clown. Schauspieler. Cabarettista. Regisseur. Produzent. Na ja – die ganze Palette des Genies.
Für uns ist er vor allem: der Künstler mit den italienischen Wurzeln und dem Schweizer Herzen. Der Witzemacher, der keine Witze macht – denn: «Beim Wort WITZ sehe ich gleich rot. Ein Witz zieht immer einen andern nach sich … Komik und Satire jedoch machen P a u s e n. Sie lassen die Menschen nachdenken. D a s ist der Unterschied zwischen Witz und Komik!»
Wir treffen uns bei Peter Wyss im «Schützenhaus». Rocchi bringt weisse Pfingstrosen mit. Es sind meine Lieblingsblumen. Klar, dass die blumige Geste meine Psychopumpe zum Schluchzen bringt: Das wäre jetzt wirklich nicht nötig gewesen!»
«Mio piacere, bello … sie waren sauteuer.»
Seine Pupillen hüpfen. Und ich weiss nicht, war der Satz nun ein Witz. Oder Komik.
Er ist bei seinen Grosseltern aufgewachsen. In Cesena. Das ist die Stadt, nach der eine Apfelsorte genannt wird. Und wo die meisten italienischen Erdbeeren wachsen.
Bis zu seinem sechsten Altersjahr hat er im riesigen Bett der Grosseltern geschlafen – immer in der Mitte: «Die Nonna las links aus der Bibel vor – der Grossvater hörte rechts Opern am Radio. Manchmal drehte er kurz den Knopf, um die Fussballresultate zu suchen. Dann fluchte er laut, wenn ‹unsere› auf den Sack bekommen hatten. Und die Grossmutter schaute unwillig vom Alten Testament auf: ‹Nicht vor dem Jungen, Mario!›»
Er fühlte sich zwischen den beiden geborgen, glücklich: «… es war eine wunderbare Zeit. Und ich fragte nie nach meinen Eltern.»
Sein Grossvater nahm ihn am Sonntag ins Stadion mit – die Grossmutter in die Kirche. Zu dritt ratterten sie nach dem Gottesdienst auf einer klapprigen Lambretta ans Meer. Am öffentlichen Strand äugten sie nach Muscheln (die Grossmutter) und den Beinen der jungen Frauen (Massimo und der Grossvater).
«Es waren wunderbare Kinderjahre – doch nicht nur pure Romantik. Da ratterten die Pferdekarren beladen mit Zuckerrüben an unserm Schlafzimmerfenster vorbei. Paukte eine Musik langsam dem Karren voran, wussten wir, dass keine Zuckerrüben unter der Decke waren. Sondern eine Leiche. Mir war das Melodramatische schon damals lieber als der billige Zucker …»
Weitere Erinnerungen?
«Meine Grossmutter hat die Kaninchen an den Löffeln hochgezogen und aus der ‹Bohème› theatralisch die Arie in ‹wie eiskalt ist dies Öhrchen› umgemodelt. Dann hat sie dem Karnickel trällernd eins über den Kopf gezogen – peng! Und aus! Dies vor meinen Augen – so wurde ich schon früh mit der Brutalität des Lebens konfrontiert, einer Brutalität, die aber durch die fröhlichen Töne der Nonna irgendwie abgefedert wurde.»
Die Kinderzeit wurde abrupt unterbrochen. Die beiden Alten weckten Massimo: «Deine Eltern sind da!»
Er zuckt die Schultern: «Ein Bub spürt, wann sein Kindermärchen ausgeträumt ist. Künftig schlief ich alleine in einem Bett …»
Er war ein zarter Junge, kam nie richtig in einer Gruppe an – ein Einzelgänger eben. Er liebte im Gymnasium die philosophischen Fächer, konnte aber mit Mathematik und Chemie nichts anfangen. Ein Freund nahm ihn eines Tages in einen Theaterkurs mit:
«Das war reiner Zufall. Mein Freund war in ein Mädchen verknallt, das sich ebenfalls für den Kurs interessierte. Damit es nicht so auffällt, dass er ihr nachhechelte, musste ich ihn begleiten. Und als ich den Theaterraum betrat, war das dann, als hätte ich meinen Fuss auf einen andern Planeten gesetzt …»
Massimo Rocchi lächelt in der Erinnerung: «… der Schauspiellehrer holte mich auf die Bühne. Da stand ein Stuhl. Ich musste durch das grosse Loch der Rückenlehne klettern. ‹Das kann ich nicht›, flüsterte ich dem Lehrer zu.
‹Wenn du mit dem Kopf durch bist, schaffst du es›, flüsterte der zurück. «Wenn der Kopf etwas will, folgt ihm der Körper immer …»

«Als ich dann durchgekrochen war und wieder auf der Bühne stand, applaudierte das Publikum. Es war mein erster Applaus. Und es war wie eine Droge … jedenfalls war es der Anfang!»
Als 20-Jähriger verliess er Italien. Er kam nach Paris. Und klopfte bei Etienne Decroux an, dem legendären Pantomimen. Rocchi lernte schnell. Und lernte viel. Später besuchte er auch die Schule von Marcel Marceau – hatte vier Diplome: «… aber von einem Tag auf dem andern wurde diese Kunst zum Volkssport: Kindergeburtstage … Strassenkünstler … Wohlfühlkurse – die Pantomime wurde zu diesem Gewürz, mit dem jeder seinen Salat würzte: das Aromat des Spektakels. Diese wunderbare Kunst nutzte sich in Rekordschnelle ab.
Natürlich waren meine Jahre in den Kursen nicht für die Katz – aber die Faszination, das Mystische der Pantomime, platzte wie eine Seifenblase.»

Er hatte nichts im Sack – nur einige Preise (wie den venezianischen Premio professione comico und die Goldmedaillen vom Festival International de Cannes sowie vom Festival Européen d’Humour in St-Gervais). Vor allem aber hatte er den heissen Wunsch, auf die Bühne zu gehen.
Es war Bern, das den jungen Künstler «entdeckte».
«Ich habe italienische, französische und spanische Städte angeschrieben – aber nur Bern hat mir geantwortet. Und 10 000 Franken für ein Stipendium rausgerückt. Das war unglaublich … und das werde ich den Bernern auch nie vergessen.»
Seine ersten Programme waren stumm. Italienische Strandszenen. Dann entdeckte er das Wort – und den Unterschied zum «katholischen» Theater: «Das Wort ist eben sehr deutsch. Man geht in Deutschland anders auf die Bühne als in Italien oder katholischen Ländern. Das Wort steht im Zentrum – man spielt den Leuten nichts vor. Schlüpft in keine Rolle – sondern vermittelt sich selber … und vermittelt das Wort. Hanns Dieter Hüsch hat mal über seinen bevorstehenden Kabarettabend gesagt. ‹Am Samstag habe ich Predigt.›»
Bei seinen ersten Programmen hat sich Rocchi übernommen: «Mein Bühnenbild war zu kostspielig. Ich arbeitete neben meinen Auftritten als Sprachdozent an der Uni Bern. Ich machte auch viel Fernsehen – in Italien und Spanien. So konnte ich das geliehene Geld für das Bühnenbild zurückbezahlen …»
Er hatte Erfolg. Die Schweizer liebten den Italiener mit den witzigen Dialogen und dem seltsamen Sprachengemisch. Und der Italiener begann dieses Land zu lieben, von dem er stets meinte, dass die Leute viel zu wenig Selbstvertrauen hätten. Er wurde Schweizer. Ging mit Knie auf Tournee. Spielte dort über 300 Vorstellungen in allen Kantonen – und wusste: «I did it.»
«Man sagt, dass einer, der es in New York geschafft habe, es auch in der ganzen Welt schaffen würde. Das ist Unsinn. Denn im angelsächsischen Raum brauchst du nicht so viele verschiedene Publikumsnuancen zu spüren, auszuloten und anzusprechen wie in der Schweiz. Hier ist jeder Abend, jeder Zuschauer, jeder Ort speziell – Basel reagiert anders als Zürich, Genf anders als Lausanne, die Deutschschweiz nochmals anders als die Tessiner. Wenn du es in der Schweiz schaffst, d a n n erst schaffst du es wirklich überall!»
Vor zehn Jahren kam er nach Basel – private Gründe.
Aber: «… die Stadt gefiel mir vom ersten Augenblick an. Man lässt hier die Leute atmen, löchert sie nicht wie im geschäftehuberischen Zürich: ‹Was bringst du als Nächstes.› Nein. Hier kann man sich Zeit nehmen. Das braucht ein Künstler. Das Durchatmen. Nach jedem Stück steht bei uns ENDE. So etwas ist Horror für Politiker oder Banker – die Basler aber respektieren die Schöpfungsphase der Kunst. Das macht die Stadt speziell.»
Er lacht: «Ich bin jetzt zehn Jahre hier. Ein einziges Mal habe ich mir überlegt, ob ich nach München ziehen soll. Ich finde München eine witzige, wunderbare Stadt. Wie ich in Gedanken versunken über die Johanniterbrücke radelte, überholte mich ein Metzgerei-Lastwagen mit Tonnen von Würsten. Der Fahrer liess das Fenster runter und brüllte: ‹Massimo – machs guet, stammi bene!› Da wusste ich, dass ich hier angekommen war. Und dass Basel eben mein Zuhause ist.»
Er möchte viel: eine Oper inszenieren (dass er darin Meister ist, hat er in Basel bewiesen) … ein neues Programm aufbauen («Ich befasse mich zurzeit mit den drei Themen Gefühle … Gehirn … Emotionen und lese sehr viel darüber.») … «Forza del destino» (seine Lieblingsoper) ganz neu umsetzen. Aber er gibt sich Zeit. Und geniesst jetzt vor allem auch s e i n e Gefühle. S e i n e Emotionen: «… ich bin 56. Und muss nichts mehr. Das ist Lebensqualität. Und wunderbar.»
Immerhin hat das Unternehmen Massimo Rocchi nicht etwa den eisernen Vorhang runtergelassen. Da sind noch immer ein halbes Dutzend Leute, die mit dem Comedian-Star täglich an neuen Projekten arbeiten. Eines davon wird nächsten Sommer in Bern zu sehen sein …
«… und einen Making-of-Film kann man bereits im September auf meiner Homepage anschauen.» (www.massimorocchi.ch)
Politik?
«Wo gibt es noch Politik? Es gibt nur noch Verwaltung …»
Immerhin kommt er aus dem Land von Berlusconi und …
«Berlusoni steckt wie ein Virus in jedem Italiener. Sie hassen ihn. Aber sie bewundern ihn auch, weil er Bunga-Bunga feiert und all dies macht, was die Kirche verbietet. Die Italiener müssten endlich ihr Coming-out leben – nicht einfach nur die Faust machen. Und die Köpfe in den Sand stecken. Sie haben – im Gegensatz zu den Deutschen – ihre Vergangenheit nie ‹aufgearbeitet›. Sie glauben noch heute, dass wir im Zweiten Weltkrieg ‹unentschieden› gemacht haben. Mussolini war einfach ein Clown für sie …»
Apropos Clown: Grillo?
«Ich würde ihn nie wählen. Ich habe mit ihm in Basel gegessen. Er hat mir 1988 den Komiker-Preis übergeben. Damals fuhr er mit einem roten Ferrari vor. Ich hatte ihn damals lieber, auch wenn er jetzt ein Hybridauto fährt …»
Das tönt zynisch.
«Ist es nicht. Ich glaube einfach nicht, dass Italien nur von e i n e r Person regiert und beeinflusst werden sollte. Das Land kommt vom Berlusconi-Puff über die Kirche ins lustige Wunderland von Grillo. Das ist alles zu ungekocht, zu unrealistisch. Die Schweiz schaffte bis jetzt etwas Besonderes: Verschiedene politische Richtungen raufen sich zusammen. Und bringen schliesslich den besten Konsens alias Kompromiss – das muss nicht immer nur gut sein. Aber es ist ganz selten schlecht.»
Italiener sind aber keine Kopf-, sondern Bauch- und Herzensmenschen.
Er zögert einen Moment: «Das mag sein. Meine Grossmutter hat während des Zweiten Weltkriegs eine Woche lang einen Deutschen versteckt. Als ich sie einmal fragte, weshalb, da hat sie nur geweint: ‹In seinen Augen war so viel Angst – was hätte ich anderes tun sollen …›»
Und dann lacht er. «Meine Mutter – also die Tochter jener Nonna – ist jetzt recht betagt, humpelt aber noch immer jeden Tag zur Kirche, um für mich zu beten. Eine Muslima, die sich um sie kümmert, führt sie hin. Und wenn ich sie besuche, flüstert la Mamma mir zu: ‹Also die hat aber eine sehr seltsame Religion.›»
Gibt es Zukunftswünsche für unser Land?
Er überlegt nur kurz: «Es gibt im Land ein Marignano-Rückzug-Gefühl. Mein Wunsch an unsere Schweiz ist: mehr Selbstbewusstsein. Auch ich brauchte den Mut zur Veränderung: vom klassischen Unternehmen Massimo Rocchi zum T e a m Massimo Rocchi – ein Balanceakt zwischen Kontinuität und Innovation.»
Ein Wunsch von und für Massimo Rocchi …?
Seine Augen blitzen wieder zu seiner schönen Begleiterin. «Dass alles so bleibt, wie es jetzt ist … einfach wunderbar …»
Dann lacht er auf: «Meine Mutter wollte ihren Namen wissen. Ich sagte: Debora. Ich hörte am Telefon ihr Schnaufen. Dann: ‹Debora? – und auf Italienisch …?›»
Was Massimo Rocchi mag
Musik: Verdi, vor allem «Die Macht des Schicksals».
Verabscheut
Korrupte Politiker. Und Randen.

Samstag, 17. August 2013