Marc Haeberlin

Seit 45 Jahren funkeln über der Auberge de l’Ill im Elsass unentwegt drei Michelin Sterne – das ist ein gastronomischer Rekord. Marc Haeberlin poliert diese kostbaren Sterne in der 4. Generation – und mag privat die einfache Küche.

Er ist untypisch für einen Dreisternekoch.
Kein PR-Team, das ihn hysterisch abschirmt. Keine Interview-Warteliste. Keine Tabu-Fragen. Und kein Ring, den es zu küssen gilt.
Nicht mal eine Sekretärin.
NEIN. ALLES STINKNORMAL. UND OHNE VIEL RAUCH UM DIE PFANNEN.
Es gibt keine Skandale. Kein Koks in der Messerschublade. Und keine giftigen Seitenhiebe zur Konkurrenz.
Doch gerade weil er so normal geblieben ist, ist Monsieur Marc (wie sie ihn nennen) aussergewöhnlich.
Seine Urgrossmutter hat schon an diesem idyllischen Elsässer Plätzchen, wo die Ill von Trauerweiden gestreichelt wird, Fische gekocht. Ihre «Matelote» war berühmt - die Töchter haben später das Rezept übernommen.
Haeberlin: «Männer durften nicht in die Küche. Kochen war Frauensache. Auch das Putzen der Fische. Die Männer sorgten für den Hof, das Vieh, den Acker und die Beschaffung der Fische. Für den Fischfang hat mein Urgrossvater schon damals das halbe Dorf mobilisiert …»
Während des zweiten Weltkriegs, als das Restaurant der Grossmutter abgefackelt war, bewirtete man die Gäste provisorisch in einer Holzscheune. Nach dem Krieg wurde das Haus neu gebaut: «Da keine Frau da war, welche die beiden Alten ablösen und an den Herd wollte, musste nun der Sohn und Neffe das Restaurant übernehmen. Mein Vater hatte in den besten Häusern Koch gelernt …»
Natürlich redeten die Frauen ihm anfangs tüchtig in die Töpfe: «Alles war ihnen zu «neu». Zu «gewagt». Aber mein Vater liess sich nicht beirren. 1950 übernahm er das Restaurant - zwei Jahre später dekorierte ihn Guide Michelin mit dem ersten Stern.»
Das Leben im, um und fürs Restaurant hat die beiden Kinder, Marc und Danielle geprägt: «Für uns gab es nichts anderes, als für die Gäste da zu sein. Die Gäste waren die Könige – und sind es heute noch.»
Als die Auberge de l’Ill 1967 mit dem dritten Stern ausgezeichnet wurde, waren die Gäste wirkliche Könige - Queen Mum aus Grossbritannien, das schwedische, dänische, norwegische Königspaar - alles reiste zu den legendären «truffes au cendre». Die Prominenz aus Politik und Kultur, Film und Finanzwelt pilgerte zum idyllischen Ort an die Ill, wo das Leben für sie zumindest einen Nachmittag oder Abend lang unbeschwert und ohne grosses Protokoll ablief.
Marc Haeberlin erinnert sich, als die Queen angesagt und das Personal ziemlich aufgeregt war. Seine Mutter relativierte die Sache schnell und nahm den Angestellten die Furcht: «Jetzt stellt sie Euch ganz einfach auf dem gewissen Örtchen vor …»und duu stinke mer oller glych …»»
Mutter Haeberlin hätte ihren Sohn gerne studieren lassen – aber: «… die Schule war nicht meine Welt. Ich wollte kochen. Schon damals. An den Wochenenden habe ich jeweils bei meinem Vater herumgeschnippelt – und bereits erste Rezepte herausgetüftelt. Also schmiss ich die Matur. Und besuchte die Hotelfachschule von Strassbourg. Das machte mir dann weit mehr Spass als Algebra und Geometrie.»
Seine erste grosse Lehrstelle bekam er bei den Gebrüdern Trois Gros: «Jean stand am Herd, Pierre überwachte das Garde Manger – wenn alle Gäste bedient waren, haben wir im Hof Pétanque gespielt.»
Dann kam er zu Bocuse: «Der war eben daran, die nouvelle cuisine zu erfinden …»
Und wie war das?
«Schrecklich. Die Leute haben anfangs die noch harten Bohnen zurückgehen lassen. Sie stänkerten herum, weil zu wenig Ware auf den Tellern war. Und als wir den ersten halbrohen Fisch servierten, konnten sie sich kaum mehr einkriegen … dennoch wurde es eine grosse Mode, die aber bald einmal von der cuisine moléculaire abgelöst wurde. Heute kommt alles wieder zur Basis zurück. Das ist wie beim Tanz. Es gibt hunderte von modischen Neuheiten -aber das Fundament sind die klassischen Schritte.»
Marc Haeberlin hat den Schnickschnack der Moderichtungen nie mitgemacht: «Mein Vater pflegte seine traditionelle Küche, für welche ihn die Gäste liebten. Ich versuchte, meine eigenen Kreationen zu entwickeln. Ich sah wohl, dass die französische Cuisine leichter werden und sich der Zeit anpassen musste – aber explodierende Tomatenkügelchen und konzentrierter Traubengelee als Eistropfen, so etwas haben wir höchstens mal als Gag angeboten.»
Als sein Vater den Sohn nach dessen Lehrjahre bei Bocuse nach Hause holte, war das für beide nicht einfach – zwei Kochwelten prallten aufeinander. «Aber jeder respektierte die Kochart des andern. Wichtig war der Gast. Und da mussten wir zwischen Vaters traditioneller Küche und meinen neueren Kreationen eine Brücke schlagen …»
Vater wie Sohn tauchten nur selten bei den Gästen auf. Sie wirkten beide im Hintergrund.
«Mein Vater mochte die Show nicht. Er fand, ein Koch gehöre an den Herd. Und sei kein Tischzauberer. Da bin ich ähnlich gestrickt – ich bin doch kein Zirkusgaul. Als ich Bocuse fragte, wie er es geschafft habe, die Köche von den Pfannen ins Rampenlicht zu holen, da hat er geantwortet. «Das war nicht allzu schwer. Aber jetzt habe ich einige Mühe sie wieder an den Herd zurück zu pfeifen …»
Ein Dreisterne-Koch muss immer mit neuen Kreationen überraschen - woher kommen die Ideen?
«Das ist wie in der Musik oder Malerei: man lässt sich von der Umgebung, vom Gesehenen, Geatmeten, Geschmeckten inspirieren. Ich besuche in Asien beispielshalber gerne Gassenküchen. Koste die Speisen. Und bin immer wieder von den Gewürzkombinationen inspiriert.
Von den Japanern habe ich gelernt, dass nicht der K o c h der Star ist. Sondern sein Produkt - ein ganz besonders schöner, frischer Fisch. Oder eine eben noch im Tau gepflückte Essblume. All dies bringt Dir tausende von Ideen …»

Früher seien üppige Portionen das A und O gewesen – heute sind die Kriterien komplexer.
«Das Wichtigste sind für uns gute Lieferanten, die perfekte Rohprodukte anbieten. Da hüten wir die Adressen wie Schatzkarten. Ein Bauer, der junge Karöttchen, die erdig und süss schmecken, liefern kann, ist Gold wert.»
Allerdings braucht es für 3 Sterne auch den richtigen Rahmen – das sind schöne Tischwäche, die passenden Teller (ein Service wird jedes 5. oder 6. Jahr total ausgewechselt), immer mal wieder ein Make-Up der Räume, neue Teppiche: «… es ist unvorstellbar, wie schnell das alles kaputt geht. Wussten Sie übrigens, das der Geschirrbruch - also das, was beim Abwasch oder Servieren in Scherben geht - uns jährlich auf 50 000 Euros zu stehen kommt …?!»
Bei solchen Beträgen müsst Ihr aber sehr reich sein?
Häberlin lacht schallend auf: «Ein normales Burger-Restaurant macht denselben Jahresumsatz wie wir - und schauen Sie sich dort den Aufwand an. Papierservietten. Und Plastiktische. Dazu Service-Personal, das neben dem Studium jobbt … MIT SO ETWAS WIRST DU REICH. Aber nicht mit einem Dreisterne-Restaurant und 50 qualifizierten, top ausgebildeten Leuten …»
Na na na …
Er grinst: «Ok. Ich will nicht klagen. Bocuse hat mal gesagt: wir sind eigentlich arme Schlucker, leben aber wie Milliardäre …«
Immerhin – geschenkt wird einem nichts. Haeberlin steht um 05.30 auf, konzentriert um 08.00 die ersten Saucen, bespricht um 09.00 mit seinen Leuten die verschiedenen «plats» – und hat erst, wenn der grosse Mittagsrun vorbei ist gegen 15.30 Uhr Mittagspause.
Zwei Stunden später ist er bereits wieder am Herd – und kommt gegen Mitternacht nach Hause: «Das hat auch seinen Vorteil - die guten Fernsehsendungen kommen erst nach elf Uhr nachts!»
Vor Weihnachten schläft er eh kaum mehr. Nicht nur weil alle Tische schon seit Monaten ausgebucht sind - im Hinterkopf hämmert auch das böse Fragezeichen: «SCHAFFEN WIR‘ S WIEDER?»
Haeberlin steht permanent unter Druck - und fiebert dem Moment entgegen, wo man ihm im März mitteilt: «Wieder drei Sterne. Zum 46. mal!».
Er weiss, dass diese Sterne nicht alles sind - und doch: «Für uns sind sie wichtig. Man darf das nie unterschätzen. Es ist wie das Urteil in der Schule: bestanden. Oder durchgefallen! Davor zitterst du …»
Entsprechend kann er auch verstehen, dass es in seiner Gilde schon mal einen Suizid gibt, wenn der Daumen nach unten ging.
Wie kann man heute ein Dreisterne-Restaurant überhaupt aufbauen?
Marc Haeberlin schaut über den kleinen Fluss: «Das kann man weder mit Geld noch mit eingekauftem Top-Personal. So etwas muss wachsen. Wie ein gesunder, schöner Baum. Erst mit den Jahren bekommt alles eine Seele. Die Seele aber ist der Geist des Hauses. So etwas ist nur möglich wenn alles miteinander harmonisiert: Küche, Service, Empfang, Sommeliers … wir müssen eine einzige, grosse Familie sein, die das alles zustande bringt. Es ist nicht der Koch - es sind a l l e. Und das muss der Koch wissen.»
Haeberlin schaltet eine Pause ein:
«Als la «Grandmère» im obern Stock im Sterben lag, liess sie mich zu sich kommen: «Y muess stäärwe Büeb … ober erscht um Mittwuch, wenn oller unserer Lytt duu sinn …»
Die alte Frau lag bis Mittwoch mit geschlossenen Augen im Bett. Dann rief sie das ganze Personal zu sich.
«… sie bedankte sich bei jedem für das, was er «fir s Hüüs» geleistet habe. Erst dann schloss sie die Augen für immer … das meine ich mit «dem Haus eine Seele geben». So etwas kann man nicht kaufen …»

Samstag, 21. Juli 2012