Pia Fischer: «Hier lebe ich. Hier arbeite ich. Hier bin ich»

Stoff-Magierin Pia Fischer

«Eisenacherstrasse?» – der Taxifahrer ist etwas ratlos: «WO ISS?»

Das zumindest unterscheidet Berlin nicht von Basel.

«BERLIN-SCHÖNEBERG», sage ich.

20 Minuten später kurven wir durch ein Quartier, das eher grau als bunt ist: Bauten aus den Gründerjahren. MANCHMAL ETWAS AUFGERÜSCHTER JUGENDSTIL.

Und immer wieder Fassaden, die einmal schön waren. Und ziemlich schlampig umgebaut wurden.

NA JA – SO ÄHNLICH WIE BEI UNS AUCH.

«Dort ist Schweizer Fahne» – zeigt nun der kurdische Chauffeur auf einen schlappen Lappen in Rot.

Er kennt die Schweiz. Seine Geschwister leben in Olten. Auf der ganzen Fahrt habe ich gehört, dass die Schweiz ein Wunderland sei. Zwei Nichten würden studieren. Alles sei so viel einfacher als hier. Die Politik habe das Leben in Berlin kaputtgemacht. In der Schweiz herrsche noch Bürger-Freiheit.

Ich lasse ihm den Glauben. Verspreche Olten zu grüssen. Und salbe mit einem happigen Trinkgeld.

ICH WILL DEN SCHWEIZERTRAUM NICHT ZERSTÖREN.

Pia Fischer steht schon an der Türe ihres Art-Couture-Ateliers: ein breites Lachen … rotes, wildes Haar… grazile, kleine Lady.

«DAS IST MEIN KIEZ … HIER LEBE ICH. HIER ARBEITE ICH. HIER BIN ICH. ABER IRGENDWIE WIRD DIE SEHNSUCHT NACH MEINEM HEIMATLAND IMMER STÄRKER… ICH VERMISSE DIE SCHWEIZ!»

Mit einem Abstand von 869 Kilometern sieht Helvetien rosiger aus.

O. K.

DAS HABE ICH JETZT GESCHNALLT.

Pia ist Textil-Künstlerin. Ihre Haute Couture ist in Theaterkreisen ein Begriff: Schauspielerinnen, Comedy-Stars, Kabarett- und Performance-Künstlerinnen lassen sich für ihre Solo-Programme bei ihr einkleiden. Sie alle lieben den eigenen, schrill-schrägen Stil der Schweizer Haute-Couture-Lady in Berlin.

«ART-Couture!», verbessert sie lachend. «…UND ALLES IM UPCYCLING-STYLE – DAS IST DER ALLERNEUSTE TREND: UPCYCLING!»

Gottlob habe ich mich vorher schlaugegoogelt: UPCYCLING – da werden Abfallprodukte oder scheinbar nutzlose Stoffe in neuwertige Dinge umgewandelt. AUF DEN KURZNENNER GEBRACHT: AUS ALT WIRD NEU!

Das Geschäft ist klein – aber knallbumsvoll mit wunderbaren Spinnereien: Abendroben aus alten Herrenkrawatten … elegante Taschen aus Versace-Labels zusammengepuzzelt …Reissverschlüsse zu einer knalligen Bluse verarbeitet … EIN FEUERWERK AN IDEEN!

Irgendwo steht auch die Nähmaschine, wo die Dinge geschaffen werden.

«…und im Lager hats noch ein paar Tonnen Material. Nichts wird weggeworfen. Ob ein alter Knopf, eine zerrissene Korsettspitze, ein Hutschleier – sie bringen immer die Inspirationen für ein neues Werk.»

Es ist Mittagszeit – Lunchtime also.

Pia isst vegetarisch («nur bei Bündnerfleisch mache ich eine Ausnahme»).

Sie bringt mich zwei Strassen weiter ins «Chay Village». Das Restaurant für Vegi-Schlemmer und Vegan-Esser ist bumsvoll.

«Es gibt hier im Kiez viele solcher kleinen Restaurants mit Vegan- oder Vegi-Küche. Das ist das Gute an Berlin – man denkt schnell. Handelt schnell. Ist immer auf dem neusten Trend.

Früher war es noch einfacher, so ein kleines Restaurant zu eröffnen. Heute ist es schwieriger geworden. Aber die jungen Leute in Berlin sind einfallsreich. Und wissen immer einen Weg…»

Für ein Gericht bezahlt man zwischen sechs und sieben Euro. Ein Glas Lychee-Saft kostet 90 Cents.

DA KANN MAN NICHT MECKERN!

Wir bestellen Gemüseteller mit Couscous an Kokosnuss-Sauce. Schmeckt gut. Und der Lychee-Saft erfrischt.

Also weg vom Vierwaldstättersee nach Berlin-Schöneberg.

Weshalb?

«Ich lebe seit 1991 hier. IMMER IN DIESEM QUARTIER. Und natürlich wars die Liebe, die mich hierhergezogen hat…»

Sie ist in einer Arzt-Familie aufgewachsen. In Dagmersellen.

«Tolle Kindheit. Grosszügige Eltern. Viel Freiheit – wir spielten draussen auf den Feldern. Oder im Wald. Man war nicht eingesperrt – ich will damit sagen: wir fühlten uns wirklich frei. Diese Freiheit war vor der Haustüre. So etwas prägt…»

DIE KREATIVITÄT KOMMT VON DER MUTTERSEITE: «Die Mamma bastelte mit uns Kindern. Sie war unglaublich geschickt, voll von Einfällen. Sie hat uns dieses Talent mitgegeben – die Liebe zum kreativen Schaffen. Mein Bruder, Bruno Fischer, ist ein bekannter Keramiker geworden…»

Sie selber hätte gerne das Goldschmied-Handwerk erlernt.

«ABER ICH HATTE KEINE MATUR. UND MELDETE MICH FÜR DIE MODEFACHSCHULE IN BASEL AN…»

Schon als Kind hat sie gerne genäht. Und gute Materialien verarbeitet: «Meine Grossmutter besass eine Bluse aus teurem Stoff. Man hatte damals wenige Sachen – aber die eben aus bester Qualität. Ich nähte der Oma dann die Knopflöcher der Blusen-Ärmel neu. Sie war begeistert von meiner Arbeit. In der Kirche hat sie daraufhin das Jackett immer ein bisschen nach hinten gezogen, damit man die schönen Knopflöcher am Blusenarm sah. Das hat mich unglaublich stolz gemacht…»

SCHON ALS KIND HAT PIA MIT STOFFEN DINGE KREIERT – ALSO MACHTE SIE DIE «STIFTI» ALS COUTURIERE IN LUZERN.

«DAS WAR STRENG – ABER EINE GUTE BASIS FÜR SPÄTER. Ich hatte jetzt das ‹Werkzeug› von Grund auf intus. Ich kam dann an die ‹Modefachklasse› – heute nennen sie das ‹Hochschule›. Jedenfalls: Meine Basler Zeit begann. Und ich war voll von Ideen. BASEL INSPIRIERTE MICH KÜNSTLERISCH UNGLAUBLICH – NICHT NUR DIE MUSEEN UND DIE BILDER DORT. VOR ALLEM AUCH DIE FASNACHT!»

Sie ging an einen Morgestraich: «Und ich war hin und weg. Ich kannte Fasnachts-Momente aus Luzern. Schon dort hat mich dieser Spuk der Einzelmasken immer fasziniert. Ich sah die Liebe, welche in die Masken vernäht wurde, die Einfälle, den Witz … ich kreierte dann sofort meine eigenen Kostüme. Gewann an Bällen auch Preise. Und lernte Piccolo. Ich wollte auch musikalisch an der Strassenfasnacht aktiv dabei sein…»

PICCOLO?

«Klar. Wunderbares Instrument. Ich spiele es immer noch. Und habe auch Kontakt zu meiner Clique von früher …DAMALS HABE ICH EINE WOCHE IN LUZERN FASNACHT GEMACHT. DANN DREI TAGE IN BASEL. UND ICH HABE MICH SO AUSGEGEBEN, DASS ICH DANACH MEISTENS EINE WOCHE KRANK WAR…»

Nach Basel kam Wien:

«Ja. Ich wollte mich zur Bühnenbildnerin ausbilden. Und besuchte die Wiener Kunstakademie.

Aber alles war so streng. So geregelt. In mir explodierten jeden Tag tausend Ideen – die wollten das nicht zulassen. Sie gaben mir keine Freiheit, diese Gedanken auszuspinnen.

Wien war ein Fehlentscheid. Aber immerhin habe ich auch dort etwas dazugelernt: Man muss den jungen Studenten und Praktikanten so viel Spielraum als möglich geben. In meinen Workshops plädiere ich stets dafür, die Studenten einfach machen zu lassen. Die Ideen kommen dann ganz von selber …FREIHEIT BRINGT KREATIVITÄT, DAS IST EINE ALTE WEISHEIT…»

Sie hat nach dem Fehlschlag in Wien in einem Luzerner Aussenquartier ihre erste Boutique eröffnet. Kabarettist Emil war Kunde der ersten Stunde:

«Er kam. Und fand meine Kreationen witzig… Er kaufte so viel zusammen, dass die Ladenmiete für die ersten drei Monate gesichert war. Ich bin ihm heute noch dankbar…»

Die Boutique mit Haute Couture rentierte?

Pia lacht hell auf: «Bei mir hat nie etwas gross rentiert. Ich habe damals Schulhäuser geputzt, um überleben zu können. Hat mir nichts ausgemacht. Ich war glücklich, meine Ideen ausleben zu können. Und führte die Couture über sechs Jahre. Aber dann hat mich eine Freundin nach Berlin eingeladen…»

Aha. Und dort wartete die grosse Liebe?

«Ja. Ich lernte meinen Mann an einem Fest in Berlin kennen. Es packte uns beide sofort. Ich fuhr in die Schweiz zurück, um zu packen. Und kam dann hierher nach Schöneberg.

Die Mauer war vor knapp zwei Jahren gefallen … Alles war noch im Umbruch. Und für mich fremd und krass. Das Leben war nicht so einfach. Trotz der Aufbruchstimmung herrschte eine gewisse Tristezza… Es gab kaum Farben… Die Farben habe ich am meisten vermisst… und gutes Essen.»

Sie war zuerst Hausfrau:

«Ich hatte drei Buben. Mein Mann fand, ich solle daheim wirken. Und zwar nur für die Familie. Das tat ich dann auch – aber die Decke fiel mir auf den Kopf.

Ich fühlte mich wie ein Vogel, dem man die Flügel gestutzt hatte.

Mein Gatte sah jetzt , dass ich litt. Er willigte ein, dass ich in einem kleinen Atelier, hier an der Eisenacherstrasse, meine Einfälle verwirklichen konnte…»

Sie arbeitete wild drauflos:

«Es war, als wäre ein Damm gebrochen… Ich wollte nur noch Modelle kreieren… Ideen verwirklichen. Als ich mich für die Aufnahme in der Künstlervereinigung bewarb, entschied die Jury: ‹Nähen und Haute Couture alleine genügen nicht… Kreieren Sie einen eigenen Stoff…›»

Ich habe dann 1700 Knöpfe bestellt. Und daraus ein Kleid gewoben.

750 Reissverschlüsse habe ich ebenfalls zu einem Stoff verarbeitet. Jetzt wurde ich von der Jury ‹für gut befunden›.»

Berühmt bist du aber für Kleider mit Label-Etiketten. Darüber hat man auch einen Fernsehfilm gedreht …

«Das mit den Labels hat den Ursprung in der Schweiz. Meine Grossmutter war Heimnäherin in Beromünster. Und zwar für Calida. Sie nähte die Calida-Etikette in die Wäsche … und da lagen immer Hunderte von diesen Labels herum. Schon damals hatte ich die Idee, daraus einen Stoff zu kreieren…»

DIE LABEL-KREATIONEN SIND DER GROSSE RENNER VON PIA FISCHER.

Aber ihre verrückten anderen Ideen mischen jede Modemesse auf. Als «schriller Couture-Vogel» ist sie heute in ganz Deutschland bekannt.

Allerdings – der Erfolg kostete auch seinen Preis. Die Ehe ging bachab … SIE WAR JETZT NUR NOCH FÜR DIE ARBEIT DA. UND SETZT SICH AUCH HEUTE 100-PROZENTIG FÜR IHRE KREATIONEN EIN.

«Ich schlafe sogar in meinem Atelier!» Sie lacht. «Es ist alles ein Ganzes – das Atelier vom privaten Leben nicht trennbar. Dies alles bin ICH. Ziemlich bunt. Und ziemlich wild durcheinandergewürfelt… Manchmal hocke ich mich auf mein Velo und radle drei Mal durch den Kiez, um von all den Dingen hier wegzukommen.

Aber man kann sich selber nicht davonlaufen…»

UND DIE SCHWEIZ? WÄRE DAS NICHT EINE OPTION?

SIE WIRD LEISER:

«Ja. Das Heimweh nach den Wurzeln wird immer stärker. Aber meine Freunde raten mir, hierzubleiben – vor allem meine Schweizer Freunde. Ich kann mir einen Neuanfang in meinem eigenen Land nicht mehr leisten.

Ich bin zu alt für die Schweiz.

Das tönt vielleicht verrückt – aber ich müsste schon eine Stelle als Kostümbildnerin an einem Theater oder als Dozentin an einer Hochschule bekommen. Doch in meinem Alter sind das Tagträume…»

Wir gehen langsam wieder vom kleinen Restaurant in ihre Eisenacherstrasse zurück. Eine Kundin wartet schon.

Pia lächelt nun: «Die Leute sind sehr treu … Meine Kundinnen kommen immer wieder. Die Dame hier hat wunderbare, teure Kleider – alles Haute Couture. Von Dior bis Versace. Nun sind ihr die Sachen etwas zu eng geworden. Also legt sie alles vertrauensvoll in meine Hände. Und ich mache aus dem Dior-Kleid mit andern Materialien, Stoffen, Spitzen eine Neu-Kreation, ohne dass ich den ursprünglichen Stil gross verändere. Upcycling – eben…»

Pia Fischer schliesst die Türe zu ihrem Atelier auf. Sie winkt nochmals fröhlich – ihr rotes Haar leuchtet in der Sonne. Und die Schweizer Fahne flackert jetzt im Wind.

Es sind die zwei einzigen Farb-tupfer in dieser etwas grauen Strasse von Berlin.

Montag, 5. Februar 2018