Hanspeter Müller-Drossaart: «Stress ist nun mal mein Leben»

Man hört ein feines Surren.

Der Rollstuhl gleitet lautlos wie ein Mondmobil durchs Zimmer.

Der Mann im rollenden Sessel bewegt nur die Augen. Er ist querschnittsgelähmt. Und hält den Blick auf seinen Diener gerichtet.

Ruf vom Regiepult: «…Hanspeter, dein linker Fuss! DU HAST IHN WIEDER BEWEGT!»

Hanspeter Müller-Drossaart erhebt sich seufzend aus dem Rollstuhl: «Also einfach ist das nicht…»

Nein. Die Rolle des querschnittsgelähmten Philippe verlangt einem Schauspieler so einiges ab. Der Film «Intouchables» wurde zu einem Welterfolg. Müller-Drossaart spielt die Hauptfigur im Winterthurer Casinotheater – eine ziemlich schwierige Challenge für die «ziemlich besten Freunde».

Später erklärt er: «Als Schauspieler benutzt du auch Hände und Arme für deinen Ausdruck. Sie sind ein Teil deines Werkzeugs. Ein verzögerter Schritt kann einen dramatischen Moment unterstreichen – aber hier ist alles pure Mimik. Ich bin ein Abend lang auf die Gestik meines Gesichts konzentriert – mein Gesichtsausdruck ist die einzige Farbpalette in dieser Rolle. Das ist ungewöhnlich. Aber natürlich auch spannend. Und eine Herausforderung. Ich muss mich total in den Querschnittsgelähmten einfühlen können. Er muss mein zweites Ich werden… erst wenn ich das geschafft habe, kann ich an der Gestik feilen…»

«Der Stuhl kostet so viel wie ein Kleinwagen», flüstert mir Paul Burkhalter zu.

Der einstige Leiter des Casinotheaters hat alle Fäden gesponnen, damit die schweizerische Uraufführung möglich wurde. «Für mich war von Anfang an klar, dass Hanspeter diese Rolle spielen muss… er hat nicht nur den typisch trockenen Humor des Philippes. Er besitzt auch die nötige Sensibilität…»

Die Crew gönnt sich eine kleine Mittagspause.

Müller-Drossaart schickt eine SMS nach Hause – seit seinem Herzinfarkt vor zwei Jahren haben sich die Werte verschoben: «Alles ist anders… die Gewichte sind neu verteilt. Als ich da auf dem Schragen lag, jagte vor meinen Augen das ganze Leben vorbei. Ich spürte, dass die Familie das Wichtigste ist … dieser feste Hafen, in den man aus einer Scheinwelt stets zurückkehren kann. Und der einem die nötige Sicherheit gibt…»

Es war in Halle. Er hat dort ein Hörbuch aufgenommen. Und spürte plötzlich ungewohnte Brustschmerzen. Heftig:

«Da denkst du zuerst, das Hotelbett sei zu weich … und tust alles nur als Bagatelle ab!»

Als er dann aber den Kopf kaum mehr bewegen konnte, brachte ihn ein Taxifahrer in die Notfallklinik

«Sie untersuchten mich. Und den Moment, als mich der Arzt am Arm nahm und erklärte: ‹Wir müssen operieren – sofort›, der ist in meinem Kopf für immer eingemeisselt…»

Es kam die OP. Dann Reha. Und die unvermeidlichen Auflagen: vernünftiges Essen… sportliches Training… vor allem: STRESS ABBAUEN!

Er lacht auf: «Du kennst ja meine Agenda… Stress ist nun mal mein Leben. Er gehört zu mir wie die Bühne. Und die Scheinwerfer…»

Immerhin – er trainiert zweimal wöchentlich – «…und ich versuche, mich gesund zu ernähren. Nicht einfach – besonders nicht für Stressfresser, die sich gerne mit einer Tafel Schokolade beruhigen!»

Müller-Drossaart ist ein begnadeter Unterhalter, ein wunderbarer Talkpartner: «Mein Elternhaus war eher schweigsam. Die Unterhaltungen gestalteten sich verschlüsselt. Auch verschämt. Mit der Schauspielerei konnte ich mich davon absetzen…»

Und wie war das, als du ihnen eröffnetest, dass du auf die Bühne möchtest…

Er grinst:

«Sie haben es heimlich freudig zugelassen…»

Die Lust, sich zu produzieren, war immer da. Geboren in Obwalden, wuchs er in Erstfeld (Uri) auf. Dort besuchte er die Primarschule, dann wieder in Sarnen das Gymnasium. Am dortigen Schultheater spielte er seine erste grosse Rolle in Goldonis «Diener zweier Herren».

«Ich war 17. Und mein Auftritt als Truffaldino wurde das grosse Aha-Erlebnis: D a s ist es! Ich wusste jetzt klar: Ich wollte Schauspieler werden!»

Nach der Matura rief ihn jedoch das Militär ins Scheinwerferlicht der Rekrutenschule: «Ich habe mit der Schweizer Armee den roten Feind bekämpft – damals war der Feind ja immer rot. Heute ist er weg…» – Er lächelt leise ironisch: «…immerhin hat das Militär mir einige Charaktere für spätere Rollen vorgezeichnet.»

Nach der Zürcher Schauspielschule offerierte ihm Volker Hesse eine Anstellung in Düsseldorf:

«Ich hatte aber einfach Angst – und zwar Schiss, die heimatlichen Täler zu verlassen. Ich sagte also: ‹Nein – ich will auch noch Theaterpädagoge werden.›»

THEATERPÄDAGOGE?

«Ja, das ist einer, der mit Laien Bühnenprojekte inszeniert… Felix Rellstab, der damalige Leiter der Schauspielakademie, hielt mich für verrückt: ‹Sie gehören doch auf die Bühne. Und dorthin werden Sie ganz bestimmt auch zurückkehren!›»

Müller-Drossaart lacht: «Ich war damals einfach noch nicht so weit… ein helvetisch verwurzeltes Landei eben.»

Er hat also andere zum Spielen gebracht. Und bald: «…wurde mir klar, dass ich doch lieber selber in die Rolle schlüpfen wollte. Ich brauchte das Spiel, die Verwandlung – brauche es noch heute. ICH WILL DAS PUBLIKUM WEGFÜHREN, V E R FÜHREN – MIT IHM ZUSAMMEN EINE ANDERE DIMENSION BESTEIGEN…»

Zuerst tingelte er frei herum. Machte auch Kabarett – und wurde schliesslich Ensemblemitglied beim Neumarkt-Theater in Zürich. Aber auch Burgschauspieler in Wien.

Daneben lebte er seinen Hang zu feinen Pointen und dem Spiel mit Worten aus – 2008 startete er erstmals mit einem Kabarettprogramm.

«Ich habe die kleine Bühne immer geliebt – man ist nahe beim Publikum. Kabarett war da ideal. Heute bin ich von der Schiene der heiteren Figuren etwas abgekommen. Sie schränken mich in der Spielform zu fest ein. Das Pointenjagen ist nicht meine Art… es wird da alles zu oft zum einschichtigen Unterhaltungsabend.»

Aber Wort und Sprache sind Müller-­Drossaart noch immer wichtig – sehr wichtig. Seine lyrische Soirée «dichter klang» mit dem Klarinettisten Matthias Müller ist ein Riesenerfolg – auch hier spielt Müller-Drossaart virtuos mit der Sprache:

«Ich habe vorher Tonnen von Dichtern durchgeackert. Querbeet. Von Ingeborg Bachmann bis Goethe. Die lyrischen Momente haben alle einen Nachklang in sich – sie brauchen Raum. Deshalb die Klarinette von Matthias als Zwischenspiel … damit die Zuhörer über das Gesagte nachdenken können…»

Auf seinen 60. Geburtstag hin hat er einen ersten Band mit Gedichten in Obwaldner Mundart herausgegeben. Die Gedanken – alle in Kleinbuchstaben – sind auf wenige Worte konzentriert. Fast schon Aphorismen. Müller-­Drossaart spielt mit dem Klang der Worte, mit den bunten Farben des Dialekts.

«Dialekte sind einfach wunderbar…»

Er gibt eine Kostprobe. Mimt einen Berner Hornusser, der mir sein Spiel zu erklären versucht… dann aber auch einen affektierten Wiener Schauspieler vom Burgtheater.

Apropos: Wie war das an der Wiener Burg? Immerhin ist Müller-Drossaart einer der wenigen Schweizer Schauspieler, die den Weg dorthin geschafft haben.

Er grinst: «Also – ich bin dann bald wieder gegangen. Dieses höfische Denken und Monarchen-Kuschen waren nicht so mein Ding…»

Schon früh hat Müller-Drossaart auch bei Fernsehspielen und Filmen mitgewirkt (die erste «Tatort»-Rolle erhielt er anno 1994) – entscheidend war aber das Jahr 2006, als er mit «Grounding» (die Rolle des Mario Corti) und den «Herbstzeitlosen» (als bigotter Sohn und Pfarrer) sowie in «Cannabis» plötzlich als Schweizer Schauspieler auch im Ausland aufhorchen liess.

Heute ist er auf allen Bühnen zu Gast. Er spielt in Fernsehserien wie «Kripo Bozen», dann in der Winnetou-­Verfilmung von Philipp Stölzl und im Gotthard-Zweiteiler von Urs Egger (hier die Rolle des Bundesrats Welti).

Trotz den vielen Filmen ist seine grosse Liebe noch immer die Bühne – das spürte man speziell in seiner Darstellung als Dällebach Kari bei den Thuner Seespielen. Die Figur war hier besser ausgelotet als später in Kollers Film – Müller-Drossaart untermalte auf der Bühne auch die bissige, bösartige Seite des Berner Originals.

Was macht denn das Spezielle auf der Bühne aus?

«Es ist einfach anders. Vielschichtiger. Und anregender. Der Schauspieler kann mit einem einzigen Wort die Menschen in eine andere Umgebung entführen. Ich sage WALD – und die Menschen sehen Bäume und die Sonne, welche durch die Blätter funkelt. Das Fernsehen muss für so etwas stundenlang einen ganzen Set aufbauen. Ziemlich mühsam. Auf der Bühne wollen wir die Menschen, die um uns oder vor uns sitzen, auf eine Alltagsreise mitnehmen. Wir wollen, dass sie das JETZT vergessen – und zusammen mit dem Schauspieler auf eine andere Ebene mitkommen. Das gelingt nicht immer. Aber wir versuchen es…»

Der Schauspieler ist das eine – aber wichtig ist auch der Regisseur.

«Stimmt. Er muss die Schauspieler lieben – mehr als sich selber. Er muss sie führen, aber doch machen lassen. Es gibt da ein wunderbares On-Dit, das man den Coen-Brüdern zuschreibt. Jeff Bridge sollte über die Regiearbeit der Coens Auskunft geben. Er meinte: «Die sind super. Die sagen nichts – aber im genau richtigen Ton!»

Politik?

Immerhin hat er sich immer wieder öffentlich politisch geäussert… etwa an der 1.-Mai-Rede auf dem Dietiker Kirchplatz, wo er die Leute aufforderte, nicht in politischen Schablonen zu denken (und mit dem Votum schloss, man sollte eigentlich die Parteien abschaffen und zur reinen Personenwahl zurückkehren).

Und da war auch dieser kleine, wichtige Film in der Abstimmung zur Abschaffungs-Initiative…

Müller-Drossaart überlegt: «Ich bin in keiner Partei – aber natürlich stehe ich eher links. Und bin ein kritisch denkender Mensch. Menschen, die sich Fragen zum Leben stellen, sind immer irgendwie politisch… hoffe ich zumindest!»

Und weshalb Müller-Drossaart. Tuts der Müller alleine nicht.

Er lacht: «Natürlich tut ers auch. Aber es ist der Name meiner Frau. Und sie ist der wichtige Teil in meinem Leben. Sie stammt aus den Niederlanden. Ich habe sie als Kostümbildnerin im Theater am Neumarkt kennengelernt. Das war anno 2000. Wir haben zwei Kinder. Die tragen ebenfalls wunderbare Namen: Daphne-Olivia und Livius-Elia. Daphne hat übrigens in dem kleinen ‹Wahl-Film› meine Schülerin gespielt. Sie ist begabt. Und sie hat keine Probleme mit dem Scheinwerferlicht… sie geniesst es, wenn ich sie an Premieren mitnehme. Ganz der Papa! Und unser Sohn rockt zurzeit als ‹Bad Guy› in der Verfilmung von Papa Moll. Die Schauspielerei bleibt also in der Familie…»

«Ziemlich beste Freunde» läuft nun ein ganzer Monat in Winterthur…

«Ja. Das Haus ist eine echte ‹Theaterherberge› für mich. Hierher kehrt man als Künstler immer wieder gerne zurück…»

Bringt der Filmerfolg von «Les Intouchables» nicht eine enorme Belastung. Etwa, dass man den Erwartungen des Publikums nicht genügen kann…?

«Natürlich ist der Erfolgsdruck gross. Aber wir haben eine wunderbare Crew – und ich finde das Stück fantastisch. Es werden gleich zwei Tabus gebrochen: Der farbige Outsider, der aus dem Gefängnis kommt… der Behinderte, der kein Mitleid will … dazu bringen wir noch die dritte Dimension der geistig Eingeschränkten durch die Darsteller der Gruppe Hora … es wird also sicher sehr spannend…»

Und im Oktober, wenn alles wieder vorbei ist …?

Er zeigt auf seine Agenda: «Lesungen… vorbereiten auf ein neues Bühnenstück, in dem ich als Totengräber einen Monolog halte und mit den Verstorbenen spreche. Es ist von Markus Bundi – und es hat eine wunderbare Sprache…»

ABER WAR NICHT STRESSABBAU ANGESAGT?

Hanspeter Müller-Drossaart lächelt nun leise: «Mein Leben ist Bewegung. Aufwühlung. Rhythmus. Neugierde – ohne all das wärs langweilig. Gottlob habe ich eine Familie, die das versteht – sie nimmt mich, wie ich bin…»

Er mag:

Risotto Milanese, die Farbe Taubenblau und Kochen als Kulturgut

Er mag nicht:

Innereien, grelles ­Resedagrün und Intoleranz

Samstag, 10. September 2016