Dody Staehelin: «…und jammern hilft ja eh nix!»

Der Portier des Wiener Hotels Sacher blinzelt über den Brillenrand. Dann macht er Männchen: «Die gnädige Frau ist noch nicht eingetroffen… aber SIE kommt bestimmt sofort…»

Er beugt sich vor. Und vermeldet vertraulich: «SIE ist noch eine dieser letzten echten Damen. Mit Disziplin. Und mit der Pünktlichkeit einer Schweizer Uhr…»

Ich warte im grossen Salon. Als ich Dody Staehelin das «Sacher» vorschlug, sagte sie nur: «Fein. Auf dem roten Plüsch können wir ungestört plaudern…»

Ungestört?

Chinesen, Japaner, Russen – alles wuselt da in diesem «Salon» herum. Sucht eine Toilette. Schiesst «Selfies». Und hinterlässt die Hektik einer «Vienna – one-day Tour».

Doch dann kommt i h r Auftritt: gelassen… elegant… halb hohe Pumps… rotes Tailleur («Ich hab gedacht, ich passe mich dem Mobiliar an!»… die Haare weiss und elegant frisiert … dazu dieses Lächeln in den Augen, das immer wieder beschrieben wurde – etwa von den spitzen Zungen der Basler Freundinnen: «…eigentlich ist sie keine Schönheit. Ein Igelgesicht. Aber wenn sie einen anlächelt, hat sie dieses strahlende Etwas, das jeden sofort für sie einnimmt…»

Schriftsteller, Musiker, Wirtschafts-Magnaten, Künstler – alle haben Dody Staehelin in Memoiren oder Essays ein paar Zeilen gewidmet. Wie etwa der amerikanische Autor James Salter. In «Dusk and other stories» hat er die Wien-Baslerin in einer Kurzgeschichte («Evening in Basel») treffend skizziert. Er trifft Nini (so nennt er sie) nach 20 Jahren in ihrem Haus an der Malzgasse wieder: «She hadn’t changed. She was not beautiful, perhaps she never had been – but she had the same knowing face like Simone Signoret’s, a well travelled face upon which there readily appeared a smile…»

Später wird Dody beim Wiener Schnitzel ausführlicher werden: «Salter kam an die Basler Fasnacht – das heisst: wir hatten stets Open House. Und der amerikanische Botschafter brachte ihn zum Morgestraich an die Malzgasse. Wir wurden gute Freunde – später habe ich durch ihn auch John Irving kennen­gelernt. Das war in Zürich…»

Der Chef de Service führt uns ins Restaurant. Er will der gnädigen Frau die Tasche nehmen – sie schaut ihn ziemlich streng an: «Die bleibt bei mir!»

Und dann in meine Richtung: «…hier werden nämlich Taschen ge­­stohlen. Zumindest meine. Letztes Mal dort…»

Sie zeigt in die Ecke: «…direkt ab der Plüschbank. Also das Ganze war mehr als merkwürdig… da schwirrrten plötzlich zwei Frauen an. Eine hatte einen grossen Schal über die Schulter gelegt. Der Kellner führte sie zu uns. Er suchte deren Tisch … das war schon etwas seltsam. Ein guter Kellner weiss ja, wo die Gäste sitzen werden. Jedenfalls war meine Tasche nach dem Essen nicht mehr da. Und der Kellner auch nicht…»

Sie machte eine Pause:

«…und denken Sie, jemand hätte mir geholfen? Da sass ich fest – ohne Geld, ohne Autoschlüssel, ohne Pass. Die Besitzerin ist ja eine Freundin und immerhin habe ich nach dem Krieg hier im ‹Sacher› gewohnt. Aber sie sagte, sie könne da nichts machen. Und so musste ich auf den Polizeiposten. Ich war ziemlich sauer. Jedenfalls bin ich seither nicht mehr hier gewesen…»

Ihre Augen lachen jetzt: «… na ja, bis heute!»

Dann zum blass gewordenen Oberkellner: «Ich nehme Wiener Schnitzel – danke…»

Dody Staehelin ist ein Feuerwerk an Geschichten – ihr Leben war eine verrückte Berg-und-Tal-Fahrt durch ein Abenteuerland. Hochs und Tiefs. Doch wenn sie heute mit über 90 Jahren zurückschaut, packt sie alles in einen Satz: «Es kommt, wie es kommt … und jammern hilft eh nix.» Wie es sich für eine Wahlwienerin gehört, wurde Dody in einem Schloss geboren.

«…Schloss Ottmanach liegt am Fusse des Magdalensbergs. Es ist über 400 Jahre alt. Die ganze Familie lebte dort – auch mein Grossvater. General Mario von Franz war einer der berühmtesten Reiter seiner Zeit…»

Zwischenfrage: Kam nicht auch Udo Jürgens von Schloss Ottmanach?

«Ja. 1931 hat mein Grossvater das Schloss an den Privatbankier Bockelmann verkauft. Das war der Vater von Jürgens. Er selber liess sich nach dem Krieg dort nieder…»

Ihr Vater zog weg nach Kanada – ihre Mutter mit den kleinen Kindern auf Schloss Hart bei Graz:

«Das war das Schloss der ‹Mutterseite› – also der Reininghaus-Familie. Dort habe ich die frühen Mädchenjahre verbracht. Mit zehn Jahren kam ich dann nach Wien…»

Kulturschock?

«Nun – auf dem Schloss war das Leben irgendwie freier, fröhlicher –, in Wien kam ich ins andere Leben, in eine richtige Schule. Vorher wurden wir von Privatlehrern unterrichtet. Jetzt war ich plötzlich von vielen Mädchen umgeben. Das war spannend. Und viel interessanter als der Lehrstoff. Schon damals haben mich die Menschen interessiert. Ich wurde auch nicht mehr ‹Dody› gerufen. Sondern ‹von Franz›».

Was bedeutet eigentlich Dody?

«Ach – gar nichts. Den Namen habe ich mir selber gegeben. Ich hätte ja ein Bub werden sollen. Die Kanonen auf dem Schloss waren bereits mit Böllerschüssen vollgestopft. Aber dann ging der Schuss nach hinten raus – sie hatten nicht einmal einen Mädchennamen bereit: Sie nannten mich Josefa – nach dem Pfarrer, der mich taufte…»

Josefa? Um Himmels willen…

«Eben. Es war nicht gerade das, was ich später hören wollte. Ich wollte vielmehr ein y am Schluss… wie meine Schwester Kitty. Also wurde ich Dody!»

Sie haben die Kriegszeit also in Wien erlebt ?

«…wir waren da noch Kinder… oder eben: sehr jung. Aber wir merkten, dass etwas nicht stimmte. Plötzlich ­fehlten einige in der Schule. Es waren jüdische Mädchen. Zuerst dachten wir, sie seien krank.

Daheim redete man nicht darüber – auch nicht als mein Onkel einzog. Die Familie meiner Mutter galt nach den Nürnberger Gesetzen als nicht arisiert.

Die Brauerei der Reininghaus wurde somit von den Nazis annektiert. Mein Onkel kam also zu uns … und von Wien in die Schweiz – er floh schliesslich nach Triest, weil die Nazis die Todesstrafe für ihn ausgerufen hatten. In Triest versteckte er sich bis zum Kriegsende…»

Sie waren die Sekretärin von Rudolf von Marogna-Redwitz – der hatte in Wien das Attentat auf Hitler vor­bereitet…

«…ja. Er gehörte zum engsten Kreis der Stauffenbergs und wurde nach dem Hitler-Attentat ebenfalls erhängt. Meine Eltern waren Widerständler. Und deswegen holte mich der Baron als seine Sekretärin. Aber nein – bevor Sie jetzt die Frage stellen –, ich war nicht an der Verschwörung beteiligt. Ich habe wohl manchmal Nachrichten weitergegeben… aber ich kannte niemanden, auch keine Hintergründe… ich war da einfach zu jung, um den genauen Durchblick zu haben. Später haben mich die Russen immer wieder inhaftiert und nach Namen gefragt … sogar an meiner Hochzeit liessen sie mich nicht in Ruhe. Und verhörten mich!»

Basel?

«Das fing eigentlich im Tessin an. Ich hatte den Krieg und eben eine zweite Ehe hinter mir – da wollte ich nur eines: Ruhe.

In einem Hotel-Lift lernte ich ‹Dick› Staehelin kennen. Der Rest ist Geschichte: Er schickte immer wieder Blumen. Hielt bei meinen Eltern um meine Hand an. Und aus wars mit der Ruhe!»

Sie haben dann in der Basler Malzgasse ein grosses Haus geführt:

«Die Malzgasse war und ist natürlich wunderbar. Das Haus, speziell die Trotte, ist noch heute mein Lieblingsort. Ich gab hier Empfänge für meinen Mann. Er war Direktor bei Geigy…»

Und der Basler Daig – sie waren da immerhin ein recht exotischer Vogel, der da hineinheiratete. Schillernder Adel. Neben dem manchmal doch kleinkarierten Grossbürgertum…

War das nicht schwierig? – Neid? – Eifersucht?

«Nun – davon habe ich nichts gemerkt. Dick hat mich als Erstes seiner Schwester, Jenny Vischer, vorgestellt. Und sie hat sich rührend um mich gekümmert. Ich wurde am Rhein wirklich warmherzig aufgenommen. Das ist nicht selbstverständlich. Immerhin ist der Basler Daig zutiefst protestantisch. Das ist ihnen wichtig – katholisch sind da nur Gastarbeiter.

Natürlich bin ich immer Katholikin geblieben – obwohl wir im Münster geheiratet haben…»

Sie hatten dann viele Freunde aus dem sogenannten Daig.

«…nun. Vrone und Martin Burckhardt lernte ich durch ihren damals kleinen Sohn Loni beim Skifahren kennen – ich habe ihn zur Jause eingeladen. Und er hat mich zu seinen Eltern heimgeschleppt. Vrone hat mich sofort zur Weihnachtsfeier eingeladen… ich besuche sie noch heute. Sie ist ja eine legendäre Gastgeberin!»

Sie haben auch die Mäzenin Antoinette Vischer gut gekannt.

«Sie war eine wunderbare Cembalistin. Und ich bin an ihre Konzerte gereist. Markus Kutter, der später die berühmte Werbeagentur GGK gründete, war ihr ständiger Begleiter. Als er heiratete, hatte Antoinette plötzlich etwas seltsame junge Männer um sich. Und wollte denen ihr beachtliches Vermögen vermachen…»

Sie haben das verhindert?

«Nun, ich habe mit ihr geredet. Und erklärt, dass sie mit Kutter eine gute Zeit gehabt hätte. Sie solle sich das mit dem Testament noch einmal überlegen…»

Dody lacht nun hell auf: «… also h a t sie es sich überlegt. Und nach ihrem Tod rief mich Kutter zu sich. Er bedankte sich bei mir und hielt mir ein Schmuckpendant hin: Ohrringe und Halsband: ‹Such dir etwas aus!›

Also ich meine: Für dieses Vermögen hätte er mir sehr wohl beides schenken können…»

Es sind solche «Dodismen» oder eben «Dodicta» wie es die Schauspielerin Reinhild Solf einmal in einer Geburtstagsrede erwähnte, die den Witz der Wienerin funkeln lassen.

Die Hollmanns gehen unter dem, was Dody Staehelin in ihren Memoiren als «ziemlich beste Freunde» aufführt. Hans Hollmann hat in Basel das neue Theater eröffnet: «Er ist einfach genial. Ich reise noch heute allen seinen Aufführungen nach. Und Puschi, seine Frau, ist eine grossartige Schauspielerin…»

Sie haben einander nicht in Basel kennengelernt:

«…dabei waren die beide schon längere Zeit hier. Aber ich machte ihre Bekanntschaft auf Elba. Und fuhr in ihrem brandneuen Rover heim. Es war heiss wie in einem Backofen – und vor Como machte der Wagen schlapp. Reinhild ging zu Fuss zur nächsten Tankstelle. Und schleppte Wasser herbei. Sie hätte nicht vor uns getrunken, obwohl sie auch unglaublich durstig war. Da wusste ich: Die hat Stil… die ist ­perfekt!»

Die Freundschaft machte auch viele gemeinsame dunkle Momente durch: «…ich war die Patin ihres Sohnes. Er kam bei einem Lawinenunglück ums Leben. Das war unglaublich tragisch. Aber es hat uns zusammengeschweisst.

Später haben wir in Sri Lanka den Tsunami miterlebt…»

Und wie war das?

«Grauenvoll. Ich hatte eben eine Massage, als man von draussen ein seltsames Geräusch hörte – wie das Aus­laden eines Kieselschleppers. Die Leute jagten auf und davon. Ich hatte ja nur ein Höschen an. Und einen Bademantel. Man schleppte mich mit. Und wir rannten einen Berg hoch – über Stacheldraht und Bahngeleis, dort, wo später der Zug einfach umgespült wurde…»

Wie wurden Sie gerettet?

«Die Leute waren unglaublich lieb und hilfsbereit. Dabei hatten sie ja selber nichts mehr. Nach drei Tagen kam ich in ein Flugzeug – noch immer nur den Morgenrock und das Höschen am Leib. In der Maschine fror ich entsetzlich. Schliesslich empfing uns in Zürich ein Care-Team. Die fragten als Erstes, ob wir psychologische Betreuung brauchten. PSYCHOLOGISCHE BETREUUNG! Dabei standen wir da, hatten vor Kälte blaue Lippen und sahen aus wie zerrupfte Hühner. Da war ich dann doch ziemlich wütend. Und erklärte: «Das Einzige, was ich brauche, sind ein Paar Schuhe!»

Sie leben jetzt in Wien – pendeln manchmal nach Basel…

«Ja. Wien ist wunderschön. Und Basel liebe ich. Aber in Wien habe ich die Verwandtschaft. Wenn ich die zur Jause einlade, muss ich nicht gleich eine Bank überfallen… wenn man so alt wird wie ich, wird das Leben nämlich teuer.»

Sie hat eben ihre Autoprüfung wieder gemacht. Mit 91.

Und sie pendelt von ihrer Residenz am Steuer zu ihren heiss geliebten Bridge-Nachmittagen in die Stadt.

«Wie bleibt man so vital?», wird Dody immer wieder gefragt. Dann drückt sie das Kreuz durch. Und lächelt: «Eiserne Disziplin … ich schwimme jeden Morgen…»

Ein Lamentieren gibt es nicht. Ihre Generation und ihre Schule hat gelernt, persönliche Gefühle für sich zu behalten.

Sie steht auf. Nimmt die Hand­tasche. Und nickt dem Oberkellner freundlich zu: «Das Essen ist jetzt viel besser als früher…»

Ein klares Dodictum. Quelle: «Liber Dody» von Anna Offner, Verfasserin der Memoiren (vergriffen).

Samstag, 5. September 2015