Vrone Burckhardt - Wenn die Zeit eine Atemlänge stehen bleibt

Für einen Moment scheint die Welt im Lokal stillzustehen.

Das Tellergeklapper der weissbekittelten Kellner erstarrt.

Die Gespräche an den Tischen verstummen.

Man hört nur ein leises Klirren der Murano-Zapfen an den zwei grossen Lüstern.

«La Grande Dame de Bâle» hat ihren Auftritt: ein bisschen ist es Dürrenmatts alte Dame bei der Ankunft in Güllen, ein bisschen Kaiserin «Elisabeth» («die habe ich im Schultheater gespielt!»).

Aber immer füllt sie den Raum – wie hier die Stube bei «Donati».

«Ja. Theater hat mich stets fasziniert – aber nein: ich hatte keine Ambitionen für die Bühne» – sie legt ihren langen Mantel ab.

Die Kellner sind aus ihrer Starre erwacht. Eilen herbei.

«Danke!» – Vrone Burckhardt lächelt ihnen zu. Setzt sich an den Tisch. Möchte ein Glas Champagner (will aber kein zweites). Und meint als Erstes: «Man kann alles ins Positive drehen. Und ins Negative. Ich mag larmoyante, dramatische Ausbrüche nicht. Ich bin ein positiv denkender Mensch. Und nehme die Sache von der freundlichen Seite – es macht es einfacher…»

Sie lächelt wieder: «Ich hadere nicht mit der Vergangenheit – die Kinderjahre waren mitunter schwer – aber man muss das Positive daraus ziehen…»

Ihr Vater starb früh. Mit 13 war sie eine Halbwaise: «Das machte das Leben nicht nur sonnig – weder für meine Mutter noch für ihre zwei Kinder.»

Sie lebten im Kleinbasel – der Vater Akademiker. Direktor der Basler Handelskammer. Und belesen:

«Er hatte eine riesige Bibliothek – schon früh hat er mich zum Lesen ermuntert: Gottfried Keller … Conrad Ferdinand Meyer … ich liebte Bücher. Liebe sie heute noch. Ein Leben ohne Bücher kann ich mir nicht vorstellen. Ich möchte die Zeilen auch nicht von irgendeiner dieser kalten, elektronischen Lese-Maschinen ablesen – ich möchte das Buch, das Papier und seinen Inhalt spüren … auch physisch. So auch eine Zeitung…»

Apropos Zeitungen – hier ist Vrone Burckhardt erblich vorbelastet: «Mein Grossvater mütterlicherseits war Chefredaktor der Schaffhauser Nachrichten…»

Vrone Burckhardts Eltern lebten in einem Basler Haus – die Veranda war gedeckt. Darüber die offene Terrasse zum Elternschlafzimmer: «… wo vor dem Zubettgehen noch ein Abendschoppen getrunken wurde. Diese alten Basler Häuser bringen auch heute noch die ideale Wohnqualität.»

Die Mutter sprach den hellen Schaffhauser Dialekt – und ich erinnere mich, wie Vrone mit ihr redete. Sie konnte vom feinsten Baseldytsch ins «Schaffuuserische» wechseln: «Sie war Kindergärtnerin. Und liebte Sport – vor allem Wandern. Das war jetzt nicht unbedingt das Ding meines Vaters. Er sass lieber bei seinen Büchern. Und wenn wir dann doch einmal mit ihr eine Wanderung unternahmen, lief sie voraus. Und rief uns genervt zu: ‹Ihr döönt nu grüüche…›»

Ihre Kleinbasler Erinnerungen sind nicht verklärt: «Süssen Brei für uns Kinder zum Nachtessen – und der Vater: ein Stück Fleisch. Ich mag süssen Brei bis heute nicht.»

Es gab Frau Depretto mit ihrem Lädeli. Und den Konsi an der Grenzacherstrasse. Alles ruhig. Schön. Harmlos.

Sie trinkt einen kräftigen Schluck von ihrem Champagner. Und zuckt dann mit der Schulter: «Der frühe Tod meines Vaters war schwer für uns. Man rief nicht gerne Witwen und Halbwaisen zu sich nach Hause. Aber ich erinnere mich, dass ich zwei Mal zu einem ‹Lämmerhupf›, wie man Kinder-Visiten damals nannte, eingeladen wurde. Die Gastgeber, beides alte Basler Familien, waren besonders nett zu mir. So etwas vergisst man nicht. Es berührt mich noch heute…

Ich habe damals als kleine Veronika Henrici nicht viel Mitleid erfahren – dafür später als Vrone Burckhardt doch einiges an Neid. Aber: es ist einfacher, Neid zu ertragen, als Mitleid…»

Sie besuchte das Mädchen-Gymnasium. Die Mutter holte sie aus der Schule, als der Vater starb: «Sie erklärte mir, bei unserer finanziellen Situation müsse ich später einmal für mich selber sorgen können. Und schickte mich in die Handelsschule.

Rektor Gessler sprach bei ihr vor – und meinte, das sei ein Fehlentscheid. Und jammerschade…»

Ihr Bruder («er stand knapp vor der Matur») durfte weiterhin ins Humanistische Gymnasium: «Ich habe ihn verehrt… er war 5 Jahre älter. Später wurde er Professor in den Staaten und an der Zürcher ETH. Aber irgendwie fand ich es nicht gerecht, dass ich als Mädchen nicht auch studieren durfte. Nun gut – vielleicht wäre so eine trockene Intellektuellen-Socke aus mir geworden, die nichts bewegt hätte. Man muss die Sache positiv sehen!»

Sie baute nach der Schule ein Französisch-Jahr in Genf und ein Englisch-Jahr in Irland ein: «Ich war bei einer irischen Industriellen-Familie untergebracht. Die Kleinen waren ein Cauchemar. Ich kam zurück und sagte: «Ich will nie Kinder!» Das hat sich gelegt. Heute habe ich eine wunderbare Tochter, einen grossartigen Sohn – und vier allerliebste Enkelkinder. Die Familie ist der Sonnenmoment in meinen Altenjahren…»

Sie war eine schöne, junge Frau. Arbeitete als Sekretärin in der Anwaltskanzlei von Louis von Planta. Und hatte alle Finger voll Verehrer.

«Es gab die grosse Liebe. Einige Jahre lang. Aber er entschied sich für Geld. Und eine andere. Als er die Verlobungs-Einladung schickte, ging ich hin. Innerlich bin ich erstarrt… aber ich setzte mein Lächeln auf. Gratulierte. Ich hatte meinen Stolz.»

Ihre Mutter stand ihr zur Seite – und winkte ab, als sie einen jungen Architektur-Studenten nach Hause brachte: «Der wird wieder dein Herz brechen…» Ein paar Tage später meinte sie: «Nun ja – er hat schöne Hände…»

Sie gingen zusammen aus: «Wir waren eine junge, fröhliche Clique – eines Tages erzählte mir Martin auf die typisch trockene Art der alten Basler, sein Freund habe ihm abgeraten, mich zu heiraten. Ich sei zu faul…»

Der Freund hat uns beide ein paar Tage später zu einem Fest eingeladen. Ich sagte ab. Martin war total vor den Kopf gestossen. Ich ging an jenem Abend dann mit andern Freunden ins ‹Trois Rois›. Damals konnte man dort noch tanzen…

Am nächsten Morgen schellte bei uns schon früh das Telefon – es war noch einer dieser Wandapparate im Gang. Martin war dran: ‹Wann wollen wir heiraten … könntest du mit deiner Mutter zum Mittagessen kommen?!›

Irgendwie musste ihn mein konsequentes Verhalten beeindruckt haben!»

Die Hochzeit war in der Niklauskapelle – das Essen im grossen Haus der Schwiegereltern: «Wir selber zogen in die kleine Backstein-Villa im Park. Hier lebe ich seit 66 Jahren!»

Sie kündigte bei von Planta. Der Jurist schrieb: «Sie war stets gut gelaunt…» Und meinte: «Wenn Ihnen das Zeugnis nicht gefällt, schreiben wir ein anderes…»

Vrone Burckhardt lernte, wie man ein grosses Haus führt – die Schwiegermutter, eine ledige Köchlin, half ihr dabei: «Sie war eine bemerkenswerte Frau. Blitzgescheit. Und in jeder Hinsicht begabt. Sie malte. Von ihr hat Martin wohl auch das Talent zur Malerei gelernt.

Im grossen Haus beschäftigte sie damals noch drei Hausmädchen. Und einen Gärtner. Als ich einen Kochkurs nehmen wollte, machte sie mit. Der Kochkurs fand in einer privaten Küche statt. Und sie erschien in der weissen Malerschürze.

Meine Schwiegermutter hat alle ihre Wünsche und Begabungen für die Familie in den Hintergrund gestellt. Sie führte das grosse Haus der Burckhardts wie ein CEO die Fabrik.

Frauen waren zu jener Zeit eben ans Haus gebunden. Das ist heute gottlob anders. Wenn ich in unserm Park Väter sehe, die an einem Werktagmorgen mit ihren Kindern spielen, dann rührt mich das tief. Die Rollenverteilung ist anders geworden. Und das ist gut so.»

Sie bekam Loni, den Sohn – später «Babsli», die Tochter. Im Sommer gings manchmal ans Meer: «Martin malte. Ich schwamm mit den Kindern, damit er ungestört war.»

Manchmal fuhren sie auch auf die Holznacht, das Sommergütlein im Baselbiet: «Das Haus hat mein Schwiegervater erbauen lassen. Meine Schwiegermutter bekam einen Schock, als sie es erstmals sah – dabei war es ihr Geld. Aber es gab kein Elektrisch, keinen Comfort – nichts.

Ich habe dann jeweils um halb sechs Uhr morgens die Öfen mit Holzscheiten eingeheizt, damit wir warmes Wasser zum Windelwaschen und für den Kaffee hatten. Abends kamen dann die Männer und sülzten: ‹Isch das nit scheen doo…› – na ja – für sie schon!»

Ihr Gatte brachte sie der Kunst näher: «Es war Karl Im Obersteg, der grosse Sammler, der Martin das Auge zur Betrachtung von Bildern geöffnet hat. Man muss nur ein ganz kleines Stück des Gemäldes ins Visier nehmen – lange betrachten. Und den Künstler so verstehen lernen.»

Dieter Koepplin beriet Martin Burckhardt dann bei Ankäufen der Köchlin-Sammlung, die dem Museum angegliedert war: «Aber mich zog es schon früh zur Moderne, zur reduzierten, abstrakten Kunst. Solche Werke geben mir Ruhe, Klarheit, irgendwie auch Sicherheit…»

Sie lernte bei ihren Galerie-Besuchen Trudl Bruckner und Felix Handschin kennen. Es war dann auch Trudl, die sie bei den ersten Art-Events einspannte:

«Die ganze Art war ja ihre Idee gewesen. Man sagt immer, Ernst Beyeler hätte die Sache ins Leben gerufen. Doch der war anfangs nicht unbedingt glücklich über den Plan – und hatte ja auch keine Kunstmesse nötig. Seine Galerie lief damals schon gut.

Ich weiss noch, wie die Galeristen und auch die Künstler ihre Werke Pi mal Handgelenk in der alten Basler Halle gehängt haben. Einzig Denise René und der junge Hannes Meier wirkten schon bei dieser ersten Art absolut professionell – sie präsentierten ihre Kunst grossartig…»

Trudl Bruckner wollte, dass man den Galeristen und Künstlern nach einem Messetag etwas bieten könne:

«Natürlich war Basel da punkto Nightlife arge Provinz – nach zehn: alles geschlossen. Und Stühle auf dem Tisch.

Da meine Schwiegereltern gestorben waren und die grosse Villa im Park leer stand, hat Martin sie etwas behelfsmässig dekorieren lassen. Ich habe bei Bell «Würstli» bestellt. Dazu Bier und Wein. Es wurde ein wirklich gelungenes Fest – die erste Art-Party!»

Mit den Jahren und Jahrzehnten wurde Vrone Burckhardt die grosse Kultur-Lady, die hinter den Kulissen Network macht, die richtigen Leute zusammenbringt und schon selber auch mal auf die Szene tritt, wenn es gilt, für das Kunstmuseum einzustehen:

«Ich habe zu meinem Sohn gesagt: ‹Loni – ich komme pudelnackt in den Grossen Rat und verlange mehr Geld fürs Museum!› Er hat mir dann ganz sanft zu einer Petition geraten. Und erklärt: ‹Sei nett zur Kommission!›»

Tatsächlich wurden sie und ihre Freundin, die Kunstkritikerin Annemarie Monteil, empfangen:

«Ich habe ihnen erzählt, wie mein Mann in der Kunstkommission des Grossen Rates um die 800 000 Franken für einen Torso von Brancusi gerungen hatte. Ich war bei jener Abstimmung das erste Mal auf der Tribüne im Grossen Rat. Und als sich dann der Abgeordnete der SP meldete, dachte ich: Aus! Vorbei! Der Torso ist für Basel verloren.

Aber der Mann schaute in die Runde. Und verkündete: ‹Auch wir SP-Leute schätzen die Kunst. Und stehen dafür ein. Die Kunst ist für alle. Deshalb votieren wir dafür…›»

Vrone hat nun tatsächlich Tränen in den Augen: «Ich bin immer noch ganz bewegt, wenn ich an die Worte dieses Mannes zurückdenke…»

Und die Petitions-Kommission?

Sie lacht: «Wir haben immerhin etwas erreicht – und sie haben uns zwei alten Schachteln mit Würde verabschiedet!»

Alte Schachtel? Sie wird 90 – hat aber den Esprit eines Jungdenkers und den Drive eines Anarchisten.

Sie ist neugierig auf Neues («Ich will diese Welt von heute einfach verstehen können – und will auch meinen Kopf ernähren…»).

Sie besucht Theater, sieht sich Filme an. Und ist im Urteil unbestechlich: entweder Daumen nach oben. Oder Daumen nach unten. Kein Zwischending!

Sie verfolgt die Politik, interessiert sich auch für Frauenfragen: «Nun – die Frauenrolle ist heute etwas verbiestert und verbissen … da wird stur um die Quotenregelung gerungen. Mir fehlt ein Quäntchen Humor. Humor ist eine der besten Waffen. Vor allem kannst du deine Gegner wundervoll damit entwaffnen…»

Sie veranstaltet in ihrer Remise, in der sie «toute la suisse culturelle» begrüsst hat, auch Autorenabende und Lesungen. Manchmal zieht sie gewagte Register – und lässt etwa Mike Müller Gottfried Kellers «Fähnlein der sieben Aufrechten» vorlesen. Doch wie immer bei ihr: ein Erfolg.

Dennoch findet sie das Alter mühsam:

«Ich bin müder als früher … habe für vieles keine Kraft mehr. Das ist ärgerlich…»

Sie wird etwas leiser: «Die Welt um mich herum wird immer kleiner… Die vertrauten Köpfe und Gesichter sterben weg … gut, ich suche mir neue, junge Freunde. Und natürlich habe ich meine Kinder und Enkel, die immer um mich herum und für mich da sind … das ist wunderbar.

Aber manchmal ertappe ich mich dabei, dass ich gerne mit jemandem aus meiner Vergangenheit über eine Episode gelacht hätte … doch die Menschen von damals sind jetzt alle tot!»

Sie steht auf.

Wieder klingeln die Glasglöckchen am Donati-Leuchter. Sie schaut den alten Lüster an: «Wunderschön. Wie vor 50 Jahren schon.

Manchmal ist es auch gut, wenn die Zeit eine Atemlänge stehen bleibt…»


Vrone Burckhardt

Sie mag: Kugeln, abstrakte Kunst und Sachlichkeit
Sie mag nicht: Übertriebenen Pathos und Süssbrei

Samstag, 21. April 2018