Claude Cueni: «Solange ich schreibe, sterbe ich nicht»

Irgendwie fühle ich mich unsicher. Wie begrüsst man einen Mann, der bereits totgesagt war? «Hello – welcome back»? Oder: «Schön, dich wiederzusehen…»

Ich stehe vor diesem eleganten Neubau in Allschwil. Schaue mich um. Und denke: «Wo hat er hier vier Mal die Asche seiner Frau umgebuddelt? … Ist doch alles nur Parkplatz. Und Beton?!» Später erzählt mir Claude Cueni, dass dies nicht hier, sondern in seinem Binninger Haus war: «Mein Schlafzimmer ging auf einen Garten. Und zum Wald. Ich wollte immer den ersten Blick morgens auf meine tote Frau haben. Also vergrub ich die Urne im Gras. Und war doch total unglücklich. Ich schaufelte ein Loch im Wald … und noch mal eines … ich holte sie aber immer wieder heraus. Ich konnte mich einfach nicht trennen…»

Annemarie war seine grosse Jugendliebe. Als sie an Krebs erkrankte, wackelte seine Welt. Nur noch die Figuren seiner Romane hielten ihn am Leben. Sie holten Cueni in ihre Scheinwelt, um ihn der ­brutalen Realität zu erhalten. Er tauchte in dieses surrealistische Beet von Erinnerungen ab – und als ihm die Ärzte 18 Monate später eröffneten, «ALL-Leukämie… Wenn Sie noch etwas zu erledigen haben, sollten sie es jetzt tun» , da beschloss er, noch einmal ein Buch zu schreiben. «Es sollte ein ehrliches Buch werden, ohne Rücksicht auf die eigene Reputation. Ich war überzeugt, solange ich an diesem Buch schreibe, werde ich nicht sterben.»

Es wurden 638 Seiten. Und es wurde ein Riesenerfolg. Nummer vier auf der Bestsellerliste. Am 8. Mai kam «Script Avenue» in die Läden – zwei Monate später war die erste Auflage ausverkauft.

«Dritter Stock», sagt die Stimme in der Gegensprechanlage.

Ein eleganter Lift surrt den Besucher nach oben. Claude Cueni steht an der Türe. Sein Gesicht hat die Farbe von verdünnter Milch: «Es tut mir leid – aber du musst zuerst die Hände sterilisieren!» Er streckt mir eine Flasche hin. Ich kenne das. Als mein Freund auf der Quarantänestation lag, haben meine Wochen nur aus «Hände sterilisieren» bestanden. Jetzt lachen seine Augen, in denen immer ein kleiner, schwarzer Humorfunke sprüht: «Dann weisst du Bescheid… komm herein! Die Herrschaften warten bereits…»

Am Fenster sitzt Kardinal Agostini. Er hält eine Pistole in den Händen. Und schaut gedankenverloren auf ein vorbeifahrendes Sechsertram. Im Arbeitszimmer winkt mir ein gut gebauter römischer Legionär zu. Claude Cueni sieht, wie ich auf seinen kurzen Rock stiere, und flüstert: «Er ist kein Schotte – er trägt so etwas wie eine Windel darunter…» Der etwas arg verhutzelte Mann vom Planet der Affen schnaubt verächtlich, während Kardinal Agostini die Pistole zieht. Und meine frischen Erdbeertörtchen vom Kuchenteller schiesst!

«WILLKOMMEN IN DER SCRIPT AVENUE!», lächelt Cueni. Er wirft ein paar Pillen ein («es sind 17 am Tag») und würzt sein Mineralwasser mit einigen Tropfen Flüssigmedizin. Dann zeigt er auf die Gäste: «Es sind Protagonisten aus meinen Büchern. Ich kaufe mir alte Schaufensterpuppen. Und kleide sie dann entsprechend ein. Am schwierigsten war es, ein Papstkleid zu bekommen – denn das sind Einzelstücke, die jeweils für den neuen Papst hergestellt werden. Also habe ich mit dem Kardinal vorliebgenommen.»

Jetzt wirbelt eine schöne, junge Frau ins Zimmer: «… und das hier ist Dina! Sie ist echt.»

Plötzlich leuchten seine Augen warm. Und für einen Moment ist es, als würde die Sonne in diesem Raum mit dem kalten Steinboden und den weissen Wänden aufgehen: Die kleine Filipina versprüht mehr Wärme als drei speiende Vulkane, so viel Fröhlichkeit wie ein Kindergeburtstag und so wunderbare Herzlichkeit wie 1000 italienische Mütter.

«Wir fuhren in Hongkong in derselben U-Bahn. Sie kam von der Arbeit. Ich habe sie angesprochen… und wir wurden Freunde! Ich war damals topfit.»

Dina streichelt seinen Nacken.

«… ich lud Dina in die Schweiz ein. Für Ferien. Aber das Script des Lebens wollte es anders: Als sie in der Schweiz landete, war ich bereits todkrank. Als ich aus dem Koma aufwachte, war sie an meinem Bett. Überall tickten Apparate. An allen Ecken und Enden hing ich an blubbernden Schläuchen. Als Spitex-Schwester war Dina jedoch Kranke gewohnt. Sie setzte sich an mein Bett und blieb.»

Er nimmt zwei weitere Pillen:

«Ich bat sie zurückzufliegen und mich zu vergessen. Mein Sohn würde ihr genügend Geld geben, damit sie in den Philippinen ein Business aufbauen konnte. Doch sie sagte, Filipinas laufen nicht davon. Und was morgen geschehe, ge­­schehe nicht heute. Sie würde bleiben. Und es gemeinsam mit mir durch­stehen.»

Cueni ergreift ihre Hand: «Filipinas wirken oft zart und zerbrechlich, aber sie sind mental sehr stark und belastungs­fähig. Sie haben den unerschütterlichen Glauben, dass am Ende alles gut wird.»

Die Wohnung ist hell. Heiter. Unten rollt der Verkehr: «Ich brauche das … es ist ganz anders als in unserem früheren Haus. Hier gibts Autos, Trams, Verkehr, Passanten, Flugzeuge, Annemarie wäre bei dieser Hektik durchgedreht. Mir tut das gut: Hier ist Leben – und du bist ein Teil davon!»

Er weiss, dass dies nicht selbstverständlich ist. Nachdem die Leukämie nach sechs Monaten Isolationsstation und Chemos und Bestrahlungen immer noch nachweisbar war, standen die Überlebenschancen sehr schlecht.

Sein Sohn brachte ihm Musik ins Spital – Soundmomente der letzten 50 bis 60 Jahre. Sie weckten in Cueni Erinnerungen: «Von den Infusionen benebelt, brachten die Songs Erinnerungen an die letzten 50 Jahre, Filme, Dialoge, politische Schlagzeilen, das war fast wie ein Drogentrip … mir eröffnete sich die Pa­rallelwelt, die ‹Script Avenue›, die ich mir als Kind erschaffen hatte, um meinem Umfeld zu entkommen.

Mein Sohn sagte: Du wolltest doch immer diese ‹Script Avenue› schreiben. Das solltest du jetzt tun.»

Das Verhältnis zu Sohn Clovis war immer sehr eng. Da er nach der Geburt eine spastische Lähmung erlitt, trainierten Annemarie und Cueni ihren Sohn vier bis fünf Stunden täglich nach den Anweisungen eines Neurologen. Der Mann lebte allerdings 10 000 Kilometer weit entfernt. Die Therapie wurde zum enormen Kostenfaktor. «… ich musste plötzlich enorm viel Geld verdienen. Also habe ich Werbetexte geschrieben, später Scripts für Filme und Fernsehen, ich wurde nur aus Liebe zu meinem Sohn fleissig und erfolgreich.»

Er schrieb das Script zum ersten SRG-Film «Der Millionenfund» mit Stephanie Glaser und Walo Lüönd. Einschaltquote: eine Million. Davon kann man heute nur träumen.

Deutschland wurde auf den Drehbuchschreiber aufmerksam – also erfand er die Geschichten für «Peter Strohm», «Eurocops» («Ich habe lange darum gekämpft, dass die Serienfolgen in Basel gedreht werden!»). Schliesslich kamen «Tatort», «Alarm für Cobra II» und «Der Clown». Die Filme sind in mehr als 140 Ländern ausgestrahlt worden.

Parallel dazu entwickelte Cueni Computerspiele für interaktives Telefonie-Fernsehen. Die Formate wurden bis nach Japan verkauft: «Ich habe diese Computerspiele – das erste war eine Wirtschaftssimulation über den 2. Punischen Krieg – eigentlich nur erfunden, weil sich mein Sohn bei traditionellen Brettspielen langweilte …»

Trotz all dieser Drehbuchschreibereien arbeitete Cueni immer wieder an seinen Romanen. 1998 gelang ihm mit «Cäsars Druide» der erste internationale Erfolg. Weshalb eigentlich immer geschichtliche Themen?

«… weil mich Geschichte immer interessiert hat. Ich war schon als Bub süchtig nach Wissen. Geschichte hilft uns, die Gegenwart richtig einzuordnen. Für meinen Helvetierroman ‹Das Gold der Kelten› habe ich zehn Jahre lang in Bibliotheken und Museen recherchiert. Heute ist Recherchieren einfacher geworden …»

Er hat aus der Geschichte Geschichten gemacht – sie packend verpackt. Und auch heute noch steht er zum Credo: «Jede Art zu schreiben ist erlaubt – nur nicht die langweilige!»

Der Kulturbetrieb übersah ihn («Ein Drehbuchschreiber war damals suspekt. Heute jedoch wollen alle Schriftsteller Drehbücher schreiben!»). Das Verhalten des schweizerischen Kulturkuchens liess ihn jedoch kalt: «Ich musste ein Leben lang sehr viel arbeiten und Verantwortung übernehmen – und hatte keine Zeit, zu antichambrieren und an einem oft realitätsfremden Kulturbetrieb teilzunehmen.»

Dina bringt eine Platte mit Frühlingsrollen. Hausgemacht. «Also, die schmecken so, wie sie wirklich schmecken müssen. Was wir hier kaufen können, hat mit richtigen ‹Springrolls› nichts gemein.»

Tatsächlich krachen die schmalen Dinger zwischen den Zähnen. Und schon explodieren auf dem Gaumen wunderbare Gewürze.

Dina lächelt: «Das beste Gewürz ist immer die Liebe. Liebe ist die wichtigste Pille.»

Cueni sagt: «Man kann die Krankheit nicht ändern, aber die Einstellung dazu. Dina hilft mir dabei. Aber vor allem verdanke ich mein Leben allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Hämatologie des Unispitals Basel und einem anonymen Knochenmarkspender.»

Ob er wirklich in einer Nagelkiste seine Babywochen verbracht habe?

«Nun – ich habe da keine eigenen Erinnerungen, es gibt kein Selfie. Aber Verwandte haben mir das immer erzählt. Ich kam in Basel in der Josefsklinik zur Welt. Weil meine Mutter jahrelang krank war, verbrachte ich die ersten Babyjahre bei einer ihrer Schwestern im Jura. Der Onkel hatte eine Lagerhalle auf einer Weide. Dort setzten Arbeiter kleinste Teile in ein Uhrwerk ein – man bettete mich angeblich in eine Kiste. Und immer wenn die Arbeiter von der Toilette kamen, fuhren sie mir übers Gesicht …»

Und sie hatten die Hände nicht gewaschen?

Er grinst: «Die Toilettenszene und die Behauptung, das habe mein Immun­system gestärkt, ist dichterische Freiheit … Die ‹Script Avenue› ist mit viel Selbstironie geschrieben.»

Die Eltern holten ihn nach Basel zurück. In die Sommergasse:

«Meine Mutter praktizierte eine Patchwork-Religion aus Katholizismus, Exorzismus und mittelalterlichem Aberglauben. Einmal stierten meine Schul­kameraden auf meine Turnhosen. Überall waren Madonnenbildchen eingestickt. Da merkte ich erst, dass dies nicht ganz normal war.»

Der Primarlehrer des Merian-Iselin-Schulhauses hielt ihn zum Lesen an: «Damals fand ich ihn zu streng, aber aus heutiger Sicht habe ich ihm sehr viel zu verdanken. Dank ihm fand ich Zugang zu Büchern und konnte erstmals dieser elterlichen Blase entfliehen. Und dank Onkel Arthur … er zeigte mir mehr als die etwas düstere Welt des Juras…»

Allerdings hatte der Haudegen und einstige Fremdenlegionär ihn später zu vergewaltigen versucht – so wie er sich an alle jüngeren Cousins von Cueni heranmachte:

«… Er war ein Tier. Aber die jurassische Verwandtschaft schaute einfach weg. Das Thema ist bis heute tabu. Das änderte sich auch nicht, als einer meiner Cousins sich deswegen das Leben nahm …»

Später besuchte Cueni das Realgymnasium: «Ich flog. Und mir war das nur recht – denn ich flog in die erste gemischte Klasse …»

Er war jedoch zu schüchtern, um die Mädchen anzusprechen. Er flog wieder – diesmal für ein paar Monate in ein Internat nach Schwyz. «… ich durchlebte eine ziemlich wilde Pubertät und lehnte jegliche Form von Autorität ab.»

Als Cuenis verstorbene Frau in den 90er-Jahren ein Kapitel aus der späteren «Script Avenue» las, das im Jura angesiedelt war, schüttelte sie vehement den Kopf: «Das darfst du nie ver­öffentlichen … denke an deine Verwandtschaft!»

Also hat er das Manuskript auf die Seite gelegt. Erst die Songs, die ihm sein Sohn Clovis jeweils ins Spital brachte, haben diese Figuren wieder aufleben lassen: «Clovis hat meine Texte schon als Kind mitverfolgt. Er sass oft in meinem Büro und las neugierig das Blatt, das soeben geschrieben worden war. Er ist der Einzige, der das darf, denn er hat eine sehr charmante Art, mir mitzuteilen, wenn ein Abschnitt nicht so gelungen ist.

Er ist auch heute noch mein erster Lektor. Als Leseratte verfügt er über eine grosse Erfahrung mit Stoffen.»

Die schwierigste Zeit hatte Cueni beim Tod seiner ersten Frau durchzumachen. Er reiste mit seinem Sohn nach Hongkong. Dort wollte er Abstand gewinnen: «Ich wusste, es konnte nicht mehr so weitergehen. Ein Geschäftsfreund, mit dem ich Tag für Tag mailte, lud mich ein. Und stellte die Bedingung: ‹Kein Wort über deine verstorbene Frau! Du brauchst jetzt einen Neustart, das kann ich dir bieten, eine neue Welt!›.»

Hongkong faszinierte ihn. Seinen Sohn, den jungen Juristen, ebenfalls. Er lernte neue Schattierungen einer ihm fremden Welt kennen – neue Lebensarten. Andere Frauenbilder.

Sohn Clovis verliebte sich in eine Chinesin: «Die beiden sind heute glücklich verheiratet. Clovis führt zusammen mit seinem Jugendfreund die Advokatur zum Schloss in Binningen.»

Cueni selber sagt, ohne seine jetzige Frau Dina, seinen Sohn Clovis und seinen Freund Emmanuel Goetschel hätte er dies alles nicht geschafft:

«Dank einer Knochenmarktransplantation ist die Leukämie heute nicht mehr nachweisbar. Aber die fremden Blutstammzellen stossen Organe ab. Das ist bei mir so, das muss bei andern nicht so sein. Ich habe nur noch 40 Prozent Lungenvolumen. Aber zurzeit ist alles wieder stabil. Einmal im Monat gehe ich einen Morgen zur Kontrolle und täglich absolviere ich ein intensives Rehabprogramm. Ich muss dabei nicht etwa e i n e n Schweinehund überwinden, sondern gleich ein ganzes Rudel von Schweinehunden.»

Nun schaut er aus dem Fenster: «Im Alltag ist die Krankheit aber kein Thema. Wir haben jeden Tag viel zu lachen. Dina strahlt so viel Lebensfreude aus, dass man nicht in Versuchung gerät, Trübsal zu blasen.»

Seine Stimme wird leiser, müder: «Man muss damit leben, dass sich die Situation von einem Tag auf den andern ändern kann. Aber das ist machbar. Wenn die Laborwerte gut sind, verdrücke ich gleich einen ganzen Pariserring. Dann merke ich, dass mich die Monatskontrolle doch sehr gestresst hat.»

Er träumt davon, Dina Europa zu zeigen. Oder nach Malta zu fliegen: «Schon drei Mal haben wir gebucht. Und wieder stornieren müssen. Bei dieser Krankheit gibts halt ständig Komplikationen. Aber irgendwann werden wir es schaffen!»

Als «Script Avenue» fertig war, machte er sich sofort an die Überarbeitung eines neuen Buchs, das er in der Schublade liegen hatte. Und schrieb und schrieb und schrieb. «Es ist die Geschichte von Eiffel und Bartoldi. Zwei Giganten treffen aufeinander. Ich hatte den Roman zugunsten der ‹Script Avenue› zurückbehalten. Die ‹Script Avenue› hatte oberste Priorität. Es ist mein bestes Buch.»

Jemand, der so viele Tode gestorben sei, mache sich vermutlich nicht mehr allzu viele Gedanken darüber, was nachher kommt. Er zuckt die Schultern: «Wer Gott sehen will, muss einen Blick durch das Hubble-Teleskop werfen: Man sieht ein Gemisch aus Staub und Gas. Ein kosmischer Furz. Und man muss akzeptieren, dass mit unserer Geburt das Schicksal besiegelt ist: Alle müssen eines Tages sterben. Es ist das Normalste der Welt, dass man plötzlich zu existieren aufhört.

Deshalb geniesse ich jeden Tag und tauche frühmorgens in meine Geschichten ein. Aufgeben war noch nie eine Option. Als Fussballfan sehe ich das Leben eh als sportliche Herausforderung.»

Im November ist wieder Malta gebucht.

Samstag, 23. August 2014