Luzius Sprüngli: Licht und Schatten der Schokoladenseite

Sprüngli? Dazu noch Zürich? Klar, dass man unwillkürlich an die Schokoladenseite der Limmatstadt denkt: Süssschaumige Luxemburgerli. Pralinés mit Paradiesfüllung. Quittenpästchen für den Weihnachtsteller.

Ich warte im «Baur au Lac» auf einen dieser Schokoladen-Nachkommen.

«Wir treffen uns im Garten. Der ist prächtig…» – hat Luzius Sprüngli gemailt. Und dann gleich mal einen Tisch gebongt.

Gottlob. Man kennt die Sprünglis in Zürich. So war die Reservierung im baumschattigen Park des Nobel-Palais kein Hindernis. Der Garten ist nämlich an diesem einen raren Sonnen-Saisontag ausgebucht. Aber für Sprünglis ist immer ein Plätzchen frei.

Von Weitem ahnt man den See. Und rund um die Tische ahnt man das Zürcher Establishment. Hinter mir sitzt ein Ehepaar. Der Mann redet nicht. Und döst. Hin und wieder seufzt er auf. Und wünschte sich vermutlich im Puff zu sein. Die Ehefrau ist frisch dauergewellt. Vor Kurzem neu geschraubt. Und von den Ohren bis zum Lack an der kleinen Zehe auf Chanel getrimmt. Sie sprudelt fröhlich daher – schäumend wie der Neuhauser Rheinfall. Die Worte durchdringen die lauschige Idylle mit diesem Dialekt, der immer wieder an eine unbarmherzige Kreissäge erinnert.

Luzius Sprüngli – von seinen Freunden Luzi gerufen – ist pünktlich wie die elegante Sportuhr am Handgelenk. Er grüsst mal kurz hier und nickt dann dort. Der perfekte Networker. Wir bewundern den fast hautengen Anzug in elegantem Nachtblau. Und wir bewundern seine rankschlanke Drahtmann-Figur.

NEID! NEID! NEID!

ICH MEINE – ISST DIESER MENSCH DENN NICHTS VON SEINER SCHOKOLADE?! UND DAS, WO DIE LINDOR-KUGELN DOCH DAS BESTE SIND.

Seine Augen blitzen: «Also, damit das gleich klar ist. Ich liebe zwar die Schokolade von Lindt. Ich bin damit aufgewachsen. Aber ich habe kaum mehr damit zu tun…»

Und ich dachte schon, ihm gehört die Bude.

Er winkt bescheiden ab. «… noch ein paar Aktien. Aber im Verwaltungsrat sitzt mein Bruder. Und Lindt ist heute eine total internationale Gesellschaft, die weltweit ihre Kugel schiebt…» (wieder dieses entwaffnende Lachen).

Aha – aber was ist mit Lindt & Sprüngli? Das ist doch wie das Läggerlihuus in Basel. Oder das Lebkuchen-Land aus dem Appenzell: der süsse Bote des Kantons.

Luzi Sprüngli macht mit dem Dummerchen vom andern Bebbi-Planeten einen Kurzrundgang durch das zürcherischen Who is who:

«Also – die erste Confiserie Sprüngli gabs bereits Anfang des 18. Jahrhunderts. Na ja – so ungefähr. Damals an der Marktgasse. Später am Paradeplatz – mein Vater hat als CEO die Schokoladenfabrik Lindt & Sprüngli geleitet. Da ging und geht es nur um industriell hergestellte Schokolade. Sein Bruder, also mein Onkel, führte die Confiserie Sprüngli am Paradeplatz. Ich wiederum pendelte in meiner Bubenzeit als Hilfskonditor zwischen beiden Betrieben hin und her … zwischen Sprüngli-Pralinen und Lindt-Vollmilch quasi.»

Das muss sicher eine Traumkindheit gewesen sein: eine Jugend auf der Schokoladenseite, quasi. Ich meine – sicher war so ein Schokoladen-Bub bei seinen Gschpänli ziemlich beliebt, weil er familienbedingt einen leichten Zugang zum Schlaraffenland hatte. Gibts noch Erinnerungen an diese Schokoladenzeit?

«Dunkle Schokolade war noch nicht so in Mode, wie heute. Heute ist das eine Glaubensfrage wie bei der Callas und der Tebaldi von damals – es gibt keinen Kompromiss. Entweder man liebt das eine oder schwärmt fürs andere.

Etwas vom Eindrücklichsten war für mich die erste Generation von Gastarbeitern aus Italien und Spanien, die mir die Maschinen in der Fabrik meines Vaters erklärten. Sie wollten mich mit der Schokolade vollstopfen. Aber ich war mehr am technischen Vorgang interessiert – an Fragen wie: «Was macht die Schokolade süsser als die bitteren Bohnen? Was besser? Wie muss so eine Maschine eingestellt sein, dass die Tafeln so schmal werden. Und wie konnte so ein Riesenapparat überhaupt so herrliche, kleine Leckereien hervorzaubern…?»

Also Techno-Freak?

«Nein. Eigentlich nicht. Ich war immer ein verfressener Mensch. Koche auch sehr gerne. Und so war mein Interesse an der Schokoladenherstellung genetisch bedingt. Später habe ich dann auch einige Jahre für Lindt gearbeitet. Bis ich mich als Marketingberater selbstständig machte…»

Marketingberater – was ist das?

Jetzt lacht er auf: «Also das ist jetzt wirklich zu umständlich … ich entwerfe Strategien und helfe bei deren Umsetzung … das habe ich studiert. Und dann in den USA damit meine Sporen abverdient. Da hat man sich kein Gramm um die Schweizer Schokoladenseite des Herrn Sprüngli gekümmert…»

Zurück zur Kindheit – Du bist in Zürich aufgewachsen? «Ja klar – ich bin ein richtiger ‹Seebueb›.»

Aha – ist das eine typisch spezifische Unterscheidung zwischen Seepflanzen und Hinterlandkraut?

«Das ist vielleicht ein bisschen krass ausgedrückt – aber Seebuben, die hier am Zürichsee geboren sind, haben eine starke Beziehung zum See. Das Wasser prägt uns – man sagt, wir seien etwas wetterfester, nun ja ‹währschafter›, als die andern, die nicht mit den Wellen aufgewachsen sind…»

Also bist du hier geboren?

«Um genau zu sein: Ich bin in Kilchberg geboren und dort aufgewachsen, was Nicht-Einheimische als ‹Wädi› bezeichnen…»

(Seit der Mit-Besitzer dieser Zeitung in jener Gegend wohnt, weiss ich, dass mit dem schrecklichen Wort «Wädi» eigentlich das schöne Wädenswil am Zürichsee gemeint ist).

«Dann natürlich die üblichen Schulen … das Freie Gymnasium, in Zürich. Schliesslich die Hochschule in St. Gallen… und dort der Abschluss.»

Du hast die Schweiz, respektive deine Zürcher Heimat aber schon ziemlich früh verlassen – weshalb?

«Ich wollte frei sein. Hinaus. Die Welt sehen… ich brach nach New York auf. Suchte mir einen Job. Und hatte Glück.»

Hat es auch damit zu tun gehabt, dass du dein Coming-out weit weg von zu Hause besser leben konntest? Offener und freier als im doch sehr konservativen Zürich…?»

«Um Himmels willen – es gibt doch nichts Konservativeres als die Amerikaner. Nein – wenn ich so zurückdenke, glaube ich, dass ich mir vorwiegend selber im Weg gestanden bin. Ich spürte meine Homosexualität sehr früh. Irgendwie lief da etwas anders. Wir gingen beispielshalber als Kinder zu einer «Disney on Ice»-Veranstaltung. Da habe ich für den Prinzen geschwärmt – und nicht für Schneewittchen. Das haben dann auch die andern gemerkt…»

Aber ihr habt nie darüber gesprochen.

«Nun, unser Elternhaus war durch eine katholische Mutter und einen zwinglihaften Protestantismus der Vaterseite geprägt. Aber im Freundeskreis meiner Familie gingen Schwule ein und aus. Ich hatte darunter auch – wie ich sie heute nenne – zwei schwule ‹Grossväter›. Darüber wurde offen kommuniziert. Für mich war mein Coming-out (vor allem darüber zu sprechen) schwieriger als für meine Familie.»

Er überlegt einen Moment. Dann lächelt er: «Als ich Christian, meinen Lebensgefährten, vor 24 Jahren meinen Eltern vorstellte, hellte sich das Gesicht meines Vater auf: ‹Na endlich bist du angekommen!› Man muss sich vorstellen, dass dies damals die Aids-Zeit war. Mein Vater hatte sich grosse Sorgen um seinen Sohn gemacht – und war nun ganz einfach glücklich, dass ich eine feste Beziehung eingehen wollte.»

Zürich gibt sich ja heute punkto Gay-Life sehr offen. Man tut, als wäre das schwule Leben hier erfunden worden. Tatsache aber ist doch, dass gerade Zürich und seine konservativen «Zoifter-Kreise» einem homosexuellen Leben zünftig Steine in den Weg geschleudert haben.

«Nun – so kann man das wohl nicht verallgemeinern. Es gab und gibt auch unter dem Zürcher Establishment sehr viel offen und aufgeschlossen denkende Leute. Wie überall übrigens. In Basel ist das sicher nicht anders…»

Um ehrlich zu sein – ich glaube in diesem Punkt war Basel immer ein Stück voraus. Die Stadt zeigte sich von jeher offener. Wir hatten am Rheinknie stets berühmte Leute, oft auch aus dem sogenannten Daig, welche zeigten, dass ein schwules Leben nicht unbedingt anders sein muss als ein Hetero-Leben. Das half.

In Zürich aber baut man – nachdem alles jahrzehntelang nur ein geflüstertes Thema hinter verschlossenen Türen war – jetzt gleich mal eine laue Oper daraus. So nach der Melodie: «Wer hats erfunden?»

Jetzt lacht Sprüngli auf: «Ist doch aber gut, dass man so offen über alles reden kann – es gibt immerhin noch 75 Länder auf diese Welt, in denen schwule Handlungen (und ich rede nicht von Missbrauch an Minderjährigen) und Liebesakte unter Gleichgeschlecht­lichen verfolgt und bestraft werden. Zum Teil gar mit dem Tode…»

Network kämpft gegen solche Zustände an. Du bist ihr Präsident. Was ist Network eigentlich?

«Network ist ein Verein schwuler Führungskräfte und Unternehmer, Politiker und Künstler. Wir haben heute etwa 450 Mitglieder.»

Weltweit?

«Stopp. Nein. Network ist ein schweizerischer Verein – wir sind in fast allen grösseren Städten vertreten. Aber natürlich gibt es ähnliche Gruppierungen in andern Ländern, auch in Übersee. Wir sind alle miteinander vernetzt. Und kämpfen für dieselben Anliegen…»

Frauen?

«Sie sind in der Organisation ‹Wybernet› gruppiert. Übrigens – wir haben bei uns natürlich auch bisexuelle Männer. Familienväter, das ganze Programm…»

Du wirfst heute zwei bis drei Tage in der Woche für dieses Präsidialamt auf. Dies honorarlos. Was treibt dich da an?

«Nun – die Situation der Schwulen ist ja in der Schweiz im Vergleich zu vielen andern Ländern privilegiert. Zumindest auf den ersten Blick hin. Wir haben die registrierte Partnerschaft. Das war und ist ein Erfolg. Insbesondere, dass bei uns ja jeder darüber abstimmen konnte. Und bis zum Schluss nicht richtig klar war, wie das Resultat ausgehen würde. Damals haben wir politisch gekämpft. Und die Pro-Leute unterstützt…»

Man hat also etwas erreicht?

«Ja. Und nein. Denn natürlich sind wir auch im Gesetz immer noch ‹zweite Klasse› – es gibt stets ein Wenn und Aber. Wir haben als registriertes Paar nicht dasselbe Recht wie in einer Ehe … denken wir nur an die Adoptionsfrage, an das Namensrecht … die Leute geben sich zwar offen. Aber sie sagen zu mir auch: ‹So. Ihr habt ja jetzt viel erreicht. Jetzt gebt endlich mal Ruhe.› – Solche Töne machen misstrauisch…»

Wie bist du zu Network gekommen?

«Ich hörte vom Gründer, Jan Willen van Lynden, davon. Das war nach meiner New-Yorker-Zeit. Ich lebte damals in Wien. Dann kam der nächste Job in England. Als ich endgültig nach Zürich zurückkam, rief mich Max Wiener, eine bekannte Erscheinung in der Networkszene an. ‹Jetzt wird es aber Zeit…›»

So kam Luzi Sprüngli 2009 in den Vorstand der Schweizer Networker. Und ist seit Anfang Jahr nun deren Präsident.

«Wir haben verschiedene Sektionen, schwergewichtig sind Politik, Schwule in der Arbeitswelt und Kultur. Irgendwie ist es typisch, dass bei uns viele Kulturleute mitmachen. Ich selber war lange Zeit im Vorstand der Zürcher Ballettfreunde…»

Und der politische Bereich? Oder der Bereich «Arbeitswelt»?

«Hier kämpfen wir vorwiegend gegen Diskriminierungen. Noch heute gibt es in gewissen Firmen einen Karrierestau, die sogenannte gläserne Decke, wenn auskommt, dass ein angehender Direktor schwul ist … gegen solche Dinge gehen wir an.»

Und gegen Verfolgungen?

«Das ist unser jetziges Projekt – zusammen mit Human Rights Watch gehen wir gegen die Zustände in Russland an. Eine schwere und grosse Aufgabe. Natürlich müssten wir auch gegen die schreckliche Situation schwuler Männer mit Islam-Hintergrund an­kämpfen… gegen die mörderische Hetzjagd gegen Homosexuelle in Uganda…»

Er lächelt: «Wir haben einiges erreicht – aber es gibt noch viel zu tun!»

Samstag, 8. November 2014