Silvia Blocher

«Du wirst dir die Zähne an ihr ausbeissen!» – das waren die Kollegen aus dem Medienchaos. Sie sehen die kleine Frau als Granitblock. Als Eisgletscher. Als Burg – unnahbar. Fallbrücke eingezogen.
Und: «Sie ist es, die ihren Mann führt. Und die Hosen anhat … sie ist die SVP!», so wurde sie mir von Politikern aller Couleur gezeichnet.
Ich habe die Frau nur ein einziges Mal vor dem jetzigen Treffen gesehen. Das war an einem Benefiz-Essen bei uns zu Hause.
Sie war den ganzen Abend still gewesen. Ihr Mann hatte Episoden gestreut. Als die Gäste gingen, kam sie in die Küche. Und bedankte sich beim Personal für den Abend. Sie war die Einzige gewesen, die sich auch vom Personal verabschiedete.
«Eine nette Frau», sagten meine Hilfen. «Das ist Frau Blocher», sagte ich.
Der Name sagte meinen Haushälterinnen nichts. Sie kommen aus dem Elsass. Und haben andere Sorgen.
Ich hätte sie eigentlich gerne in Herrliberg besucht – in dieser Villa, die ja traumschön sein soll. Und von wo man einen herrlichen Blick auf den See hat. Aber:
«… ich bin eh in Basel. Mittags redet mein Mann in Balsthal. Und am andern Tag an der Hodler-Ausstellung … dazwischen hätte ich Zeit für das Gespräch.»
Also treffen wir uns im «Schützenhaus». Sie ist pünktlich wie ein Schweizer Wecker. Und lächelt – ein Lächeln, das Wärme ausströmt. Von Eisberg keine Spur.
Wir nehmen den Tagesteller. Sie alles ohne Salz. Grund: eine Allergie. «Man gewöhnt sich daran …» Und wieder lachen die Augen: «… wir schlagen dann beide beim Dessert zu.»
Ist das die Frau, die bei Blochers die Hosen anhat – und die politischen Fäden zieht?
«Das ist natürlich Unsinn. Pures ­Geschwätz», tut sie die Frage ab, «einer in der Politik genügt. Wir haben klare Aufgabenteilung – ich halte ihm den Rücken frei. Kinder, Ferien, Geburtstagsfeste, Haushalt, Garten – das sind meine Kompetenzgebiete. Haushalt mit Familie ist ein Fulltime-Job. Dann kommen noch politische und gesellschaftliche Verpflichtungen dazu.»
Und sie hatten nie ein politisches Amt?
Wieder Auflachen: «Nein. Einmal in der Pfarrwahlkommission … das wars. Mein Mann und ich waren uns einig, dass zwei Blocher in politischen Funktionen zu viel wären …»
Immerhin – Politik hat sie stets ­interessiert. Schon ihre Mutter hat sich damit beschäftigt: «Sie war Halbwaise. Und arbeitete in der Fabrik. Dort ist sie dem Patron als aufgewecktes Mädchen aufgefallen. Er hat sie in seinen Haushalt geholt. Und so lernte sie, wie man ein herrschaftliches Haus führt.»
Silvia Blocher ist im Zürcher Oberland aufgewachsen: «Mein Vater hat ein Unternehmen gegründet. Er hat sich vom Bauernbub zum Millionär hochgearbeitet. Meine Eltern waren sehr offen. Man redete viel über Politik … meistens am Mittagstisch. Damals sass eine Familie zu den Halbeinuhrnachrichten meist gemeinsam vor dem Suppentopf …»
Als älteste Tochter besuchte Silvia Blocher in Wald die Primar- und Sekundarklasse – sie kam später in die höhere Schule nach Wetzikon:
«Da tat sich eine neue Dimension auf. Wetzikon war grösser, moderner. Es war der Einstieg in eine andere Welt. Und für ein junges Mädchen sehr spannend.»
Eines Tages sah sie im Schulhaus einen Anschlag: SCHÜLERAUSTAUSCH MIT AMERIKA!
Beim Mittagessen verkündete sie. «Ich werde diesen Sommer für ein Jahr in die USA gehen …»
Die Familie lachte. Als die Eltern jedoch merkten, dass es der Tochter ernst war, lachten sie nicht mehr. Sie wogen das Dafür und das Dagegen ab. Und liessen die kaum 17-Jährige ziehen: «… das war eigentlich mutig von ihnen. Immerhin war es nicht alltäglich, ein kleines Mädchen alleine über den grossen Teich zu schicken …»
Es wurde eine 14-tägige Schiffsreise. Auf dem Schiff waren «Austauschschüler» aus ganz Europa.
«Rotterdam–Southhampton–New York. Ich war dann 10 Tage lang seekrank. Aber nie mehr werde ich die Einfahrt in New York vergessen. Es war ein unglaublicher Augenblick: ein Gemisch von Freiheitsgefühl, aber auch von Verantwortungsbewusstsein. Hatte ich doch auch den Auftrag, die Schweiz gewissermassen als Botschafter zu vertreten.»
Sie kam nach Ohio. Und sie hatte anfangs stark Heimweh: «Da gabs ja noch keine Handys … ja, ich konnte nicht einmal nach Hause telefonieren. Wir haben einander nur geschrieben. Viele Briefe kamen. Viele Briefe gingen. Anfangs fühlte ich mich sehr alleine – besonders weil ich kaum Englisch konnte. Mein Austauschvater schwatzte mit mir stets deutlich und langsam, damit ich die neue Sprache gut kapierte. Aber nach drei Monaten redete er mir schon zu langsam.»
Als sie nach einem Jahr 1962 mit der Swissair zurückflog, war das ebenfalls ein Abenteuer. «Mein erster Flug … und dann war Traumwetter. Von meinem kleinen Fenster sah ich die Alpen. Das war ein so einzigartiges Gefühl. In Amerika erst habe ich all das gespürt, was mir an der Schweiz kostbar ist. Und ich habe damals gelernt, dass man mitunter zum eigenen Land Distanz haben muss, um es richtig beurteilen oder auch lieben zu können …»
Sie hatte noch Sommerferien. Und ging ins Strandbad von Wald. Dort sprach sie ein Kerl an. Und mokierte sich über ihre englischen Ausdrücke. Später sollte Blocher über seine Frau immer wieder erzählen: «Als wir uns zum ersten Mal sahen, sprach sie kaum mehr Schweizerdeutsch. Sondern so ein schreckliches Swiss-Amerikanisch-Gemisch … aber es hat gefunkt!»
Silvia Blochers Version über den ersten Beziehungs-Funken tönt anders. «Ich kam von einem Konzert in Wetzikon und sass im Zug nach Wald. Da tauchte im Abteil wieder dieser Kerl vom Schwimmbad auf. Er war Student und hatte sich im Zürcher Schauspielhaus ‹Nathan der Weise› angeschaut. Wir haben dann lange über das Stück diskutiert … und ich fand den Studenten eigentlich ganz nett!»
Sie studierte Mathematik – und im Nebenfach Chemie:
«Naturwissenschaftliche Fächer haben mich als Kind schon fasziniert – die Liebe zu den Sprachen und zur Literatur hat diese Liebe erst später übertönt.»
Die Schweiz hatte damals schon Lehrermangel. Und suchte Aushilfen, die Primarklassen unterrichten sollten: «Ich wollte das eigentlich nur kurz machen. Und sprang während der Semesterferien ohne Vorausbildung ins kalte Wasser. Es klappte irgendwie. Und mehr noch: Es machte mir Spass. Der Schulinspektor liess dann nicht locker. Ich solle ein Semester aussetzen. Und weiter Schule geben …»
Sie sagte zu: «… erstmals auf eigenen Beinen stehen … das war schon verlockend!»
Ihre Eltern bestanden darauf, dass sie, wenn sie schon das Studium abbreche, einen ordentlichen Abschluss als Primarlehrerin mache. Also schaffte sie das Diplom berufsbegleitend.
Es zeichnete sich auch bald ab, dass die junge Lehrerin und der «Kerl vom Schwimmbad» heiraten würden:
«… Vater und Mutter waren eher dagegen. Sie hielten nichts davon, dass ich als Lehrerin den Lohn heimbringen würde. Und e r würde einfach nur studieren … es war eine Situation, die heute alltäglich ist. Damals aber das Rollendenken der Leute arg ins Rütteln brachte …»
Später, als ihr Mann Geld verdiente, gab sie den Beruf auf – weshalb?
«Ich habe mich für eine Familie entschlossen. Für Kinder. Das bringt Verantwortung. Und damals war ‹Mutter sein› ein Fulltime-Job. Es gab diese wunderbaren Erleichterungen von heute noch nicht. Keine Pampers. Wir haben jahrelang Stoffwindeln geschrubbt. Keine fixfertige Babynahrung. Nein. Wir haben geschöppelt, gekocht, püriert … wir haben die Pullis, Hosen, Wollsachen noch alle von Hand gewaschen …»
Silvia Blochers Augen lachen wieder. Sie streckt mir ihre Arme entgegen. «Da. Schauen Sie sich meine Hände an. Man sieht hier noch die Arbeit von früher …»
Sind Sie eine typische Glucke?
«… nun ja. Das sagt mein Mann. Ich finde es einfach wichtig, dass die Kinder eine Bezugsperson haben, die immer für sie da ist. Und die nicht konstant wechselt. Das ist meine Einstellung. Auch heute noch. Kinder brauchen Bezugspersonen. Und zwar in ihrem jüngsten Leben immer dieselben. Ich gehe nicht so weit, dass das nur die Mutter sein muss. Das kann der Vater sein. Die Grossmutter, die Tante – früher, in den Grossfamilien war das ja auch so. Aber ich finde es schändlich, wenn diese Bezugspersonen immer wieder ausgewechselt werden … vor allem kann man die Erziehung nicht total dem Staat überlassen. Das ist gefährlich.»
Wie meinen Sie das?
«Staatskrippen beispielshalber brauchen ein Reglement. Sie müssen deshalb alle gleich sein. Und das finde ich falsch. Denn Kinder sind verschieden. Sie sollten sich ihren Anlagen gemäss entwickeln können – besonders in den ersten Jahren.
Eltern sind für ihre Kinder zuständig. Sie sollten frei sein in der Entscheidung, wie sie die Erziehung gestalten, solange sie die Kinder nicht vernachlässigen. Kinder sollen selbstständig denken, eigene Meinungen bilden. Sie sollen die Freiheit haben, sich auf ihre eigene Art kreativ zu entfalten. Wir brauchen – vor allem in einer Demokratie – keine gleichförmigen Staatskinder, die angepasst an die eben geltende Staatsideologie schön konform durchs Leben gleiten.»

Finden Sie, dass die Jungen heute zu wenig kommunikativ sind?
«… man kann nie verallgemeinern. Früher waren die Menschen aufeinander angewiesen. Man machte mehr miteinander – das gab dann auch so etwas wie eine grosse Z u s a m m e n gehörigkeit. Was mir jedoch wirklich grosse Sorge macht, sind die vielen Scheidungen …»
Wo liegt der Grund?
«Nun – viele gehen mit völlig falschen Vorstellungen und Voraussetzungen in eine Ehe. Sie wollen den totalen Fernsehtraum, glauben an diese Roman-Fantastereien der Liebe. Aber das Leben ist anders, das Zusammensein bringt immer auch Probleme. Und die muss man miteinander lösen. Man kann sich nicht einfach davonmachen und ein neues Programm anwählen. Scheidungen finde ich vor allem schlimm für die Kinder. Eltern tragen da eine grosse Verantwortung …»
Haben Sie Ihre Kinder problemlos «ziehen» lassen können. Oder sind Sie auch heute noch die Übermutter, die nicht loslassen kann …
«Kinder müssen wegziehen … müssen ihr eigenes Leben leben … müssen ausfliegen. Das sagt man sich als Mutter immer wieder. Und dann steht man vor den verlassenen Kinderzimmern. Und ist traurig. Doch das Leben geht weiter. Ich habe meinem Mann gesagt: ‹Ich möchte das Haus umbauen …› Doch dann habe ich gemerkt, dass einer die Mauern, die er selber gebaut hat, nicht so schnell niederreissen kann …»
Und die Lösung?
«Nachdem ich ein Jahr lang nach einem andern Haus gesucht habe und keines fand, habe ich heimlich ein Chiffre-Inserat aufgegeben: Land gesucht! Ich wollte ein neues Heim bauen …»
Heimlich?
«Nun ja – mein Mann sollte es nicht wissen. Er fand eh, ich hätte einen Spleen. Das alte Haus sei doch wunderbar …»
… und dann hat das Schicksal zugeschlagen?
«Ja. Ein Landeigentümer wollte uns Land verkaufen. Da habe ich meinen Mann eingeweiht. Und plötzlich standen wir vor einem Haus. DEM Haus, von dem ich immer geträumt hatte. Es gehörte auch dem Landverkäufer … heute gehört es uns.»
Silvia Blocher ist ein Garten-Freak: «Als wir heirateten, habe ich meinem Mann, der ja zuerst Bauer gelernt hat und immer einen Garten wollte, gesagt: ‹Ich mache alles für dich – aber im Garten: nein›. Heute ist die Gartenarbeit für mich etwas vom Kreativsten. Und schönsten.»
Andere Vorlieben, Steckenpferde?
«Ich gründete vor Jahrzehnten schon einen Literaturclub. Wir waren alles junge Mütter, die nicht einfach nur Kinderwagen stossen wollten. Wir trafen uns zu Literaturstunden, arbeiteten uns durch Romanpassagen und Literatenleben – wir treffen einander heute noch.»
Sie liebt es zu wandern, zu reisen – sie liebt Sprachen und hat jetzt noch Italienisch gebüffelt. Vor zwei Jahren ist sie einem französischen cercle de littérature beigetreten, wo sie die welsche Sprache und deren Kultur studiert. Und da sind auch noch acht Grosskinder …
Sie strahlt: «… das Verhältnis zu Grosskindern ist etwas Wunderbares. Es ist ganz anders als früher zu den eigenen Kindern, als diese noch klein waren – man geht jetzt alles weniger aufgeregt an: Es kommt schon gut …»
Die letzte Frage. Blocher. Für viele Schweizer ein Reizwort. Speziell für Medienleute. Wie lebt man damit?
Für einen Moment schweigt die einstige First Lady der Schweiz. Dann gibt sie sich einen Ruck: «Sie haben recht: Das ist nicht immer einfach. Viele verherrlichen den Namen Blocher – andere verdammen ihn. Es gibt die Anhimmler. Und es gibt die Neider. Beides ist gefährlich. Und irgendwie falsch. Wichtig ist es deshalb, alles mit etwas Abstand zu betrachten. Sich selbst zu sein.»
Sie spricht nun leise: «Man muss mit sich selber im Reinen sein, muss wissen, wo man steht. Und wohin man gehen will. Die Jahre schenken einem da eine gewisse Erfahrung, Weitsicht – das bringt die erwähnte Gelassenheit. Und ist zumindest e i n Positivum im Alter …»
Silvia Blochers Handy düdelt. Ihre Augen strahlen wieder. «Ja, ja – ich komme …» Dann: «Das war Mirjam. Ich treffe sie jetzt. Sie macht ihre Sache wirklich gut. Und ist mit Kopf und Fuss Unternehmerin für Basels süsseste Seite …»
Nun lacht sie auf. «Mirjam war schon als Kind total verrückt nach Süssem …»
Sagts. Und verschwindet zur Tramhaltestelle, wo die kleine Frau mit dem manchmal etwas unsicheren Lächeln bald vom Alltag verschluckt wird …
Was Silvia Blocher mag
Farben Rot und Blau
Blumen Lilien und Rosen
Schriftsteller Dürrenmatt («den habe ich wieder neu entdeckt»)
Maler Hodler («Nein. Das ist nicht die Domäne meines Mannes. Er ist durch mich auf Hodler gekommen …»)

Samstag, 30. März 2013