Memoiren

Früher schrieben wir Tagebücher. Heute heisst es: Memoiren.
Früher schrieb jeder ein Tagebuch. Heute schreibt jeder Memoiren.
Der Unterschied zwischen dem Tagebuch und den Memoiren: Beim Tagebuch darf keiner reinschauen. Die Memoiren aber sind zum öffentlichen Genuss bestimmt.

Erschienen am: 
Montag, 8. Mai 2006

Mega-Party

Basel liegt punkto Attraktivität hinten.
Zumindest wenn einer den Ratings glauben will. Denn heute wird eine Stadt nach ihrer Party-Meile, dem Hip-Zustand und dem Cüpli-Verschleiss bewertet.
NA DANN PROST!
Die Jungen quengeln hier am Rheinknie: «Nix los? tote Hose? da geht einem ja das Ei ab!»
Ich verweise auf Ausstellungen, Schauspielhaus und Konzerte, Bohème (wowww? super!) und 130 Kegelbahnen. Dazu eine der grössten Meissen-Porzellan-Sammlungen Europas.

Erschienen am: 
Montag, 6. Oktober 2008

Mango-Bar

Als Liu ihn zum ersten Mal sah, kam sie kichernd auf Rolf zu: «Schweiz Mann wollen fickfick.»
Er wollte.
DESWEGEN WAREN SIE SCHLIESSLICH ALLE HIER.
Der Ort: eine kleine, dunkle Bar in Patong auf Phuket. Die Situation: der Appenzeller Kegelclub «Die lustigen 9!» lässt seine Kugeln rollen. Diesmal nicht, um zu kegeln.
Nachdem das Kulturprogramm am Nachmittag mit einem Ausflug zum nahen Buddha-Tempel eher mager besucht war (2 von 9), hatte der nächtliche Ausflug in die Mango-Bar alle Neune buchen können.

Erschienen am: 
Montag, 22. Oktober 2012

Macht ihr wieder einen Baum?

Nelly schenkte Kaffee nach. Und schaute ihre Gäste an: «Macht ihr wieder einen Baum?» Walter blinzelte zu Elsie. Diese zuckte leicht zusammen.
Sie hatten immer einen Weihnachtsbaum gehabt. Elsie war bäumig aufgewachsen? sozusagen. Mit Lametta­ und Glasvögelchen­Tradition. Bei Walti waren es Rottannen und weisse Kerzen gewesen. Einziger Schmuck: Quittenwürstchen an den Ästen.

Erschienen am: 
Montag, 19. November 2012

Lukas/Lucia

Hilde klopft an die Türe. Im Zimmer wippt eine gebeugte Gestalt unruhig hin und her. Zwei weisse magere Arme ragen aus einer etwas schäbigen Acrylstoff-Bluse hervor. Sie drücken eine Puppe fest an die Brust.
Hilde streichelt der Puppe über das grellhelle Nylonhaar: «Hallo, Lenchen!» Dann küsst sie die Gestalt im Stuhl: «Hast du eine gute Nacht gehabt?» Keine Antwort.
Hilde hat auch keine erwartet.

Erschienen am: 
Montag, 16. April 2012

Lügen-Lorchen

Lorchen lügt.
Lorchen hat schon als kleine Lore gelogen.
Erstmals, als es um das Konfitürenglas ging.
Das kleine, allerliebste Mädchen überfiel beim Anblick eines Glases Konfitüre Heisshunger.
DER REST WAR DANN EINE VERFRESSENE GÖRE MIT ROTEN FLECKEN IM GESICHT.
Die Mutter entdeckte das leere Konfitürenglas.
Daneben rote Klebspuren. Die Frau fand Lorchen im Bad, wo es die Kloschüssel vollkotzte.
«LORE!»
«Mir ist schlecht, Mammi!», jammerte das Mädchen.

Erschienen am: 
Montag, 7. Mai 2012

Lolas letzte Fahrt

«?uuund tschüüüss!»? die 87-jährige Alte gab Gas. Ihre wenigen, weissen Haare flatterten im Winde.
So jagte sie an den Rand der Fluh.
«Oma Gerber?», rief der schwarze Pfleger aus Kenia geschockt. «Oma Geeerber? nicht machen das!»
Oma Gerber hiess eigentlich Lola.
Sie hatte ein fröhliches, rasantes Leben hinter sich. Als 20-Jährige machte sie den Führerschein. Und mit 22 musste sie ihn zum ersten Mal abgeben. Grund: «ZU SCHNELLES FAHREN!»
Lola war nicht nur eine heisse, sie war auch eine schnelle Nummer.

Erschienen am: 
Montag, 9. September 2013

Liftfahren

Der alte Mann am Portal schaute Marie-Louise streng an:
«Sie müssen nach unten ? dort ist der Lift!»
Die energische Alte drückte ihre Einkäufe an sich. Und knurrte: «? da sei Gott vor! ICH BENUTZE KEINE AUFZÜGE. ICH BIN GESPICKT MIT SCHLECHTEN LIFTERFAHRUNGEN ?»
«Aha», nickte der Bärtige. «Dort ist die Treppe ?»

Erschienen am: 
Montag, 21. Januar 2013

Lesung

«Was werden Sie lesen??», fragte die Schwester Oberin am Telefon. Einen Moment zögerte ich. Das Bild einer etwas säuerlichen Haubenschwester im Altenheim tauchte vor mir auf. Um den Hals ein Kettchen mit Kreuz. Am Finger den schlichten Ring, mit dem sie IHM Treue und Hingebung versprochen hatte. Im Rücken ein halbes Hundert Alte, denen die Pampers und die lottrigen Zähne drei Mal täglich gewechselt werden mussten.

Erschienen am: 
Montag, 24. April 2006

Lesen

Es gab nichts Schöneres. Draussen: Tannenrauschen und Nieselregen. Drinnen: das kleine Kajütenbett im Chalet. Und ein Buch.
Ich war eines dieser Kinder, die schon lesen konnten, als sie in den Kindergarten kamen.
Kam so: Märchen waren meine Welt. In Märchen geschahen alle diese Wunder, die ich mir in meinem noch sehr jungen Leben so stark erhoffte: Dass aus einem geküssten Frosch ein Prinz explodiert, dass im Hexenwald ein Haus voller Lebkuchenläden steht, dass ich drei Wünsche frei habe.

Erschienen am: 
Montag, 25. Oktober 2010

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