Liftfahren

Der alte Mann am Portal schaute Marie-Louise streng an:
«Sie müssen nach unten ? dort ist der Lift!»
Die energische Alte drückte ihre Einkäufe an sich. Und knurrte: «? da sei Gott vor! ICH BENUTZE KEINE AUFZÜGE. ICH BIN GESPICKT MIT SCHLECHTEN LIFTERFAHRUNGEN ?»
«Aha», nickte der Bärtige. «Dort ist die Treppe ?»
Als Kind war Marie-Louise in einem Lift stecken geblieben. Es war in einem Warenhaus. Ein Liftboy mit Pillbox-Hütchen drehte an einem Holzgriff. Auf den runden Zahlenschildern leuchteten Etagennummern auf. Und dann gab es einen ­sanften Ruck ?
Einige der Passagiere schauten ängstlich zum ­Pillbox-Männchen. «Was jetzt?»
Der lächelte: «Kein Grund, sich aufzuregen. Das passiert immer mal wieder. Die Feuerwehr kommt sofort ?»
NA BINGO.
Die kleine Marie-Louise begann zu schreien. Sie wolle raus. RAUS!
Die Liftpassagiere schauten genervt auf das ­Mädchen. Als dieses nach fünf Minuten immer noch hysterisch herumbrüllte, gab ihm der Liftboy eine Ohrfeige. Er schaute die anderen Passagiere entschuldigend an. «Pardon. Aber so stehts im Liftboy-Lehrbuch für Panikfälle ?»
Wieder zuckelte der Lift. Wieder gellte Marie-Louises Stimme drauflos. Wieder gabs eine Backpfeife. Nach 30 Minuten waren sie befreit.
Der Direktor des Warenhauses brachte Marie-Louise nach Hause.
«Wo warst du?», schrie die Mutter das Mädchen an. «Bist du wieder stundenlang Lift gefahren ??»
Dann gabs die dritte Ohrfeige. Und Marie-Louise hat nie mehr einen Lift betreten.
Dreimal war sie verliebt. Einmal in einen Architekten. Der baute dann in den 1950er-Jahren Häuserblocks mit Lift. Das war nicht nach Marie-Louises Geschmack.
Ihr zweiter Liebhaber war ein Amerikaner. New York. 33. Stock ? er weigerte sich, mit ihr in ein Parterre-Flat zu ziehen.
Hans, der dritte Freund, war eine heisse Nummer. Hatte aber einen Herzfehler. Und durfte nicht Treppensteigen. Brauchte er auch nicht. Das Haus hatte einen Lift.
Hans wohnte Dachetage. Mit Traumaussicht. Doch wenn Marie-Louise im 14. Stock angekommen war und ihr Lover schon feurig wartete, war sie derart ausser Atem, dass dies dem Liebesakt nicht besonders bekömmlich war. Der Beziehung auch nicht. Also blieb Marie-Louise ledig.
Als Buchhalterin konnte sie sich eine schöne Wohnung in einem Jugendstilhaus leisten. 3. Stock. Prächtig geschwungene Haustreppen: «Das ist mein täglicher Fitness-Parcours», erklärte sie ihren Freundinnen.
Nach ihrer Pensionierung baute der Hausbesitzer einen Lift ein. Die schöne Jugendstiltreppe musste dran glauben. Der Mietzins fuhr mit dem Lift nach oben ? Marie-Louise nicht.
«Sie sollten den Lift nehmen», sagte die Frauenärztin nach Marie-Louises 75. Geburtstag beim Jahres-Check. «? Ihr Herz ist keine 20 mehr.»
Marie-Louise dachte an Hans. Und ob er wohl noch lebte?
Sie nahm weiterhin die nun schmale Treppe.
Als sie eines Tages die Einkäufe nach oben schleppte und sich in ihrem Kopf alles zu drehen begann, da erwachte sie erst wieder vor dem ­grossen Portal ? beim Alten mit dem Bart.
Plötzlich stand auch Hans neben ihr. Er nahm ihr die Einkäufe ab ? und reichte ihr den Arm: «Sie schicken uns nach unten. Du magst wohl nicht in den Lift?»
Marie-Louise schüttelte den Kopf.
Und so gingen die beiden zu Fuss zur Hölle.

Montag, 21. Januar 2013