Memoiren

Früher schrieben wir Tagebücher. Heute heisst es: Memoiren.
Früher schrieb jeder ein Tagebuch. Heute schreibt jeder Memoiren.
Der Unterschied zwischen dem Tagebuch und den Memoiren: Beim Tagebuch darf keiner reinschauen. Die Memoiren aber sind zum öffentlichen Genuss bestimmt.
Mein erstes Tagebuch habe ich auf meinen 10. Geburtstag geschenkt bekommen. Vater nervte sich stets über mein «Vergissmeinnicht-Album». Diese Alben waren eigentlich für liebliche Mädchen bestimmt. Da ich kein solches, wohl aber lieblich war, wollte ich auch Erinnerungssprüche meiner Banknachbarn reingekritzelt haben. Ich selber hatte sehr Poesievolles im Repertoire: In allen vier Ecken soll Liebe drin stecken. Oder etwas mathematischer:

Mach es wie die Sonnenuhr
zähl die heitren Stunden nur.

Mit dem dazugeklebten Glimmerzwerg und einem tanzenden Jesuskäfer machte sich das Ganze echt scharf aus.
Ich wollte auch tanzende Jesuskäfer haben und schleimte mich bei meinen Banknachbarn an.
Sie schrieben brav, klebten aber statt des Glimmers ein Fussballer-Foto von einem gewissen Herrn Hügi dazu und reimten nicht sonderlich begabt:

Werd? mal so ein Knaller
wie Sepp - der Starfussballer!

Das mir, wo ich im Synchronschwimmen Ambitionen hatte. Dölfi Abächerli hat es besonders nett gemeint:

Viel Erdbeercoupes, auch mit Himbeeren
möge das Leben Dir bescheren

Er ging später ins Kloster.
Vater, der punkto Poesie auf holprigen Schienen fuhr, kannte punkto Hexameter nur die deftigen Verse über eine gewisse Frau Wirtin. Er konnte mit dem süsslichen Album seines lieblichen Kindes nichts anfangen. Deshalb also kreuzte er mit dem Tagebuch zur Geburtstagstorte auf: «Da kannst du alles dreinkritzeln, was dir so durch die Birne geht?»
Mit zehn Lenzen kreisten die Sorgen eines Knaben darum, ob er Samstagabends bei Tante Gertrude fernsehen durfte. Und: «Weshalb bekomme ich nur 20 Centimes Sackgeld - alle andern haben 50!»
Ähnliches vertraute ich meinem Tagebuch an. Ich jammerte ihm schriftlich vor, wie ungerecht es sei, dass ich jedes Jahr nach Adelboden in die Ferien müsse, während Hugo, diese Ratte, wieder mit Rimini und den Walfischen nervig angeben würde.
Später wurden die Probleme dicker. Ich auch. Und ebenso die Tagebücher.
Sie handelten nun von Beziehungskisten. Und sehr Delikatem.
Obwohl das Tagebuch unter meiner Intimwäsche im Kasten versteckt war, wusste die ganze Familie Bescheid. Sie gaben die Bücher rum, wie die Memoiren der Lady Chatterly oder die Beichte des Marquis de Sade.
Und so ist mein geheimes Tagebuch zu den Memoiren geworden - öffentlich verschlungen. Sogar beim Metzger redeten sie davon.
Heute sind Poesiealben out. Tagebücher ebenso. Doch Memoiren sind in.
Rocco Siffredi, der italienische Pornostar, hat soeben «Das Leben des Hengstes» veröffentlicht.
Man könnte es auch «Stuten reiten» nennen. Auflage 100000 Mal.
Dagegen machen sich die Erinnerungen eines Dieter Bohlen eher schal aus. Musik der einfachern Tonart, quasi.
Peggy Guggenheim hingegen war eine ganz scharfe Nummer. Drei Mal memoriert. Und zwei mal vergriffen. Trotzdem - die Glimmerzwergchen fehlen bei allen ganz entscheidend.

Montag, 8. Mai 2006