Lügen-Lorchen

Lorchen lügt.
Lorchen hat schon als kleine Lore gelogen.
Erstmals, als es um das Konfitürenglas ging.
Das kleine, allerliebste Mädchen überfiel beim Anblick eines Glases Konfitüre Heisshunger.
DER REST WAR DANN EINE VERFRESSENE GÖRE MIT ROTEN FLECKEN IM GESICHT.
Die Mutter entdeckte das leere Konfitürenglas.
Daneben rote Klebspuren. Die Frau fand Lorchen im Bad, wo es die Kloschüssel vollkotzte.
«LORE!»
«Mir ist schlecht, Mammi!», jammerte das Mädchen.
«LORE? WAS HAST DU MIT DER KONFITÜRE GEMACHT?!»
«Welche Konfitüre, Mammi?»
Später, beim Nachtessen, gabs in Kohlblätter eingewickeltes Hackfleisch. «LAUBFRÖSCHE» nannte es die Mutter.
LORE LIEBTE LAUBFRÖSCHE.
Aber die waren nun nicht für das Kind. Denn: «Mädchen, die lügen, bekommen keine Kohlwickel», sagte die Mutter streng. Und dann zum Vater: «Lore hat heute heimlich ein halbes Glas Konfitüre aufgegessen. Und dann gelogen, sie wisse von nichts. Was sagt denn der Papi zu so einer Tochter, die lügt...»
Natürlich war der Alte schon vorher gebrieft worden. Er schaute wie ein kranker Bernhardiner sein Töchterchen an: «Der Papi mag kein Lügen-Lorchen...»
Lorchen seufzte: «Also gut. Es hat an der Türe geklopft. Da war ein Bettler. Er hat geweint, weil er sieben hungernde Kinder zu ernähren hat. Und ob ich ihm nicht etwas geben könnte. Da habe ich ihm die Konfitüre abgefüllt und...»
DIE ELTERN STAUNTEN. LORE WAR DIE GEBORENE GESCHICHTENERZÄHLERIN.
Natürlich log sie. Aber immerhin nett verpackt.
«Ach, Lorchen!», seufzten nun beide. Der Vater schob dem Kind den allerletzten Laubfrosch zu: «Aber lass es dir nicht zur Gewohnheit werden!»
In der Schule erfand sie Lügengeschichten über ihre Lehrer. Herr Maser vom Sport wollte ihr stets an die Wäsche. Frau Schmid war eine lesbische Kuh, die ein Verhältnis mit der Abwartsfrau hatte.
Somit war Herr Buser, der Abwart, ein gehörnter Trottel. Die Mitschüler hingen an Lorchens Lügenlippen.
Im Werkunterricht, wenn die andern strickten, durfte sie vom Lehrerpult aus Geschichten erzählen. Meistens waren es Schauerkrimis mit ziemlich vielen Toten. Lorchen liebte den Schauer. Und hasste Stricken.
Sie angelte sich Max, weil sie ihm vorlog, sie sei schwanger. VON IHM. Dabei war es Urs gewesen.
Max war zwar verlobt. Mit richtigem Verlobungsring.
Zu jenen Zeiten hiess das noch etwas...
Lorchen aber räumte die Verlobte aus dem Weg, indem sie ihr einen Hang zur Tierquälerei andichtete.
«Ich habe gesehen, wie sie das arme Vögelchen erwürgte...», log sie. Und als Lorchen dann doch keinen Bauch bekam, zuckte das Lügenmädchen nur die Schultern: «Auf diese Schwangerschaftstests ist überhaupt kein Verlass...»
Man nahm nun reihherum Lorchens Lügen als Geschichten. Und lächelte etwas mühsam: «Ist halt Lorchen...»
Als Lore dann auf einem Dschungeltrip (das Geburtstagsgeschenk der Familie auf ihren 50.) aufschrie: «Eine Schlange hat mich gebissen!», da beruhigte Max grinsend die Reisegruppe: «Das ist wieder mal meine Lore! Immer für eine Geschichte gut...»
Die Leute lachten.
Lore jammerte: «Ist wirklich wahr!»
Dann wurde sie still. Und aus wars mit Lore.
Immerhin haben wir hier noch ihre letzte Geschichte.
(Aber auch die ist erlogen. Lore starb mit 94 an einer Lungenentzündung.)

Montag, 7. Mai 2012