Mega-Party

Basel liegt punkto Attraktivität hinten.
Zumindest wenn einer den Ratings glauben will. Denn heute wird eine Stadt nach ihrer Party-Meile, dem Hip-Zustand und dem Cüpli-Verschleiss bewertet.
NA DANN PROST!
Die Jungen quengeln hier am Rheinknie: «Nix los? tote Hose? da geht einem ja das Ei ab!»
Ich verweise auf Ausstellungen, Schauspielhaus und Konzerte, Bohème (wowww? super!) und 130 Kegelbahnen. Dazu eine der grössten Meissen-Porzellan-Sammlungen Europas.
Oliver schüttelt sich. «In Zürich geht die Post ab? dort braust die Jause? hier können wir ja auch gleich auf dem Friedhof abtanzen!»
Ach so - das habe ich ganz vergessen: Wir haben hier in Basel auch ein Friedhofmuseum!
Der heutige Schrei unserer Jungen heisst «geil Chillen!!!». Und weiter «Mega-Party».
Herr Google sagt mir, was die verblühte 60er-Jahre-Generation unter «chillen» zu verstehen habe. Nämlich: «? abkühlen. Kommt vom amerikanischen?sich beruhigen?? vor allem in der Jugendsprache verwendet».
NUN ALSO AUCH HIER IM ALTENTEIL.
Oliver deutet es anders: «Na ja: Chillen ist chillen? ein bisschen?nur sein?. Manchmal ein Jointlein drehen. Abheben. Der Welt den kalten Arsch zeigen?»
Zürich ist Helvetiens Chilling-down-town-Metropole. Ich stelle mir die schrillchillenden Börsianer und Bankkaufleute vor, die nach dem Weltuntergangsgeschrei am Tag nachts allen den kalten Arsch zeigen. Vielleicht ist chillen ihr einziger Ausweg?
«Party» konnte Oliver dann nicht so genau definieren. Also nahm er mich zu einer mit.
Die Party startete, als über mich schon vor Stunden die bleierne Müdigkeit eines arbeitsreichen Tages gefallen war. Wir standen in einer Lagerhalle. Junge Menschen schenkten hinter einer Bar, die sie aus unschönen Ikea-Brettern zusammengeschustert hatten, ebenso unschön zusammengeschusterte Cocktails aus. Tätowierte Arme schüttelten bombenförmige Gefässe aus Talmi-Silber.
«Nastrovje!»? schrien die Menschen einander zu. Denn: Die Basis des Gebräus war Wodka. Und «Komasaufen» das Ziel.
«A la vôtre!», sagte ich.
Keiner hörte es. Die eleganten Worte gingen im tausendfach verstärkten Gejaule einer elektronischen Gitarre unter.
«GEIL!»? brüllte mein Patenknabe, der noch vor 15 Jahren im Kinderchor «In dulce jubilo?» gesungen hatte.
Und dann stand ich da. Stundenlang.
Die andern standen ebenfalls da. Auch stundenlang.
Eine Konversation war unmöglich. Wiener Walzer ebenso. Einige hampelten zwar mit verkifftem Lächeln vor sich hin. Aber alle tanzten mit sich selber. Und jetzt erst wurde mir die erweiterte Bedeutung der Onanie klar: mit sich allein zufrieden sein!
Dafür brauchen wir also Chillen. Und Partys. Ich gebs zu: Das lang gezogene hohe D der Bohème wäre hier fehl am Platz gewesen. Und die filzigen Kartoffelchips auf den Papptellerchen hätten auch im Meissener-Schälchen nicht knackiger geschmeckt.
«Und?», brüllte Oliver. Er zeigte mit strahlender, ausladender Geste über all das Wunderbare. «Mega-Party oder was?»
Ich versuchte ihm brüllend zu schildern, wie wir vor 50 Jahren bei einer Party, die wir damals einfach nur «Fest» nannten, die Eltern ins Kino geschickt und zu Hause die Stubenteppiche eingerollt hatten. Der Pick-up wurde gestartet. Und mit den Mädchen aus der Tanzschule Cha-Cha-Cha oder Rumba geübt.
Es sangen: Caterina Valente, Conny und das Hazy Osterwald Sextett. Alle auf 45-Touren.
Die einen der Party-Gäste knutschten dann nach zehn Minuten schon in irgendeinem Schlafzimmer herum. Andere hockten sich an den Stubentisch und tauschten die Lösungen für die kommende Physikarbeit aus. Die dritten füllten sich mit diesem süsslichen Rotwein voll, den man «Pyrenäenglut» nannte. Und der sich trefflich kotzen liess.
Irgendwie waren wir aber einander doch näher als die Chiller von heute. In jeder Beziehung.
«UUUND?!», rief Oliver noch einmal über sein Glas mit dem russischen Wasweissdennich?-Cocktail drin.
«Wir haben früher die Stubenteppiche eingerollt?», brüllte ich erneut zurück. Aber ich las in seinem Gesicht, dass er mich nicht verstand.
Also schrie ich: «MEGA-PARTY!»
Das hatte Oliver kapiert. Und grinste zufrieden.

Montag, 6. Oktober 2008