Lesung

«Was werden Sie lesen??», fragte die Schwester Oberin am Telefon. Einen Moment zögerte ich. Das Bild einer etwas säuerlichen Haubenschwester im Altenheim tauchte vor mir auf. Um den Hals ein Kettchen mit Kreuz. Am Finger den schlichten Ring, mit dem sie IHM Treue und Hingebung versprochen hatte. Im Rücken ein halbes Hundert Alte, denen die Pampers und die lottrigen Zähne drei Mal täglich gewechselt werden mussten.

Kurz: kein erfreuliches Bild.
Es war diese Schablone von Melissengeist umwehter Haubenschwester, die den Teufel in mir stupfte. Ich wollte eben sagen: «Ich hätte ein paar lustige Porno-Geschichten aus dem Reich der Dampfbäder?», als die Schwester fortfuhr: «Ist eh egal. Die alten Menschen bekommen es eh nicht recht mit.» Danke. Das tönte so erfreulich, als würde der Friedhof zum Cocktail bitten.

Bea hatte mir die Sache eingebrockt. Sie hatte der Oberin vom Alterspflege-Heim «ZUM FROHEN SONNENUNTERGANG » schamlos erklärt, es würde mich bestimmt freuen, vorlesen zu dürfen. Die Selbstdarstellung des Autors sei so etwas wie ein neurotischer Zwang. Und - nein, Honorare würde ich keine akzeptieren. Die Freude, die ich den alten Menschen bereiten könne, sei Lohn genug.
VERMUTLICH HAT SIE AUCH NOCH AMEN GESAGT.
Na ja - ich war jedenfalls auf hundert. «? jetzt hör schon auf, die Primadonna rauszukehren. Sei froh, wenn du mal etwas von deinem Mist loswirst.» Darauf habe ich beschlossen, Bea keine Pralinen mehr auf Weihnachten zu schenken.

Das Altersheim lag wunderbar im Grünen. Es war diese Art von stiller Oase, wo Meditierende mit glasigen Augen ihre Mitte finden. Aber ich weiss, nicht ob der Platz im «FROHEN SONNENUNTERGANG» den Untergehenden den richtigen Kick gibt. Na ja - Ansichtssache.

Empfangen wurde ich von einer heissen Braut im Lederjupe, der höher war als meine Erwartungen. Man sah das Tatoo auf dem Oberschenkel. Und «wo ist die Oberin?», streckte ich ganz Macho die Hände in den Sack und schoss einen Blick, den ich mal von Peter Kraus im Film «Heisse Öfen in Alaska» abgebackert hatte. «Die Oberin steht vor Ihnen», strahlte der Inhalt des Leder-Outfits: «Ich weiss - alle erwarten eine gestärkte Leinenhaube, seit Louis de Funès die Oberschwester auf dem Motorrad rumflattern liess.

Im kleinen Saal piepsten die Hörapparate wie tausend Amseln im Frühling. Bei der ersten Geschichte vom «verlaufenen Osterhasen» riefen noch einige: «WAS? - WER IST AUS DEM HEIM ABGEHAUEN?» Bei der zweiten wirkten bereits die Pillen. Und dann schnarchte das Publikum reihenweise.

«Sie hätten etwas Heisseres vorlesen sollen», entschuldigte sich die Oberin für ihre Penner. «Haben Sie denn gar nichts mit ordentlichem Sex??» Vermutlich hätten die Saunageschichten das Publikum wacher gehalten. Aber es bleibt dabei: Bea bekommt keine Pralinen mehr.

Montag, 24. April 2006