Lukas/Lucia

Hilde klopft an die Türe. Im Zimmer wippt eine gebeugte Gestalt unruhig hin und her. Zwei weisse magere Arme ragen aus einer etwas schäbigen Acrylstoff-Bluse hervor. Sie drücken eine Puppe fest an die Brust.
Hilde streichelt der Puppe über das grellhelle Nylonhaar: «Hallo, Lenchen!» Dann küsst sie die Gestalt im Stuhl: «Hast du eine gute Nacht gehabt?» Keine Antwort.
Hilde hat auch keine erwartet.
Sie greift zur Bürste auf der Kommode. «Ich habe dir Shampoo mitgebracht. Und einen lila Lippenstift. Ist lila o.k.?» Wieder keine Antwort.
Hilde bürstet die wenigen Haarsträhnen auf dem mageren Kopf mit energischen Strichen: «Du willst doch schön sein. Für mich. Und Lenchen...»
Erstmals zeigt sich auf den dünnen Lippen ein zaghaftes Lächeln: «Ahemm!»
«Na also», sagt Hilde. Und knöpft ihrem Mann den Rock zu. Seit der Arzt die Dosis der Beruhigungspillen erhöht hatte, passierte es immer wieder, dass Lukas das Ankleiden der Bluse oder seines Rocks nicht mehr richtig auf die Reihe bekam.
Hilde hatte Lukas vor 40 Jahren geheiratet.
Er war ein Bild von Mann gewesen: feurige Augen und Muskeln, die er täglich mit Hantelheben in Form hielt.
Sie waren bereits acht Jahre verheiratet gewesen, als Hilde von einem Frauenabend früher heimkam.
Sie überraschte Lukas, als er vor dem Schlafzimmerspiegel ihr Negligé überzog. Ihr Mann trug ein fleischfarbiges Korsett. Und hochhackige Lackschuhe.
Hildes erster Gedanke: «Dass es solche Schuhe in Grösse 46 überhaupt gibt.»
Ihr zweiter: «Eine schwarze Corsage würde ihm besser stehen.»
Dann zog sie sich hastig zurück. Hilde verspürte Scham. Als hätte sie heimlich ein Pornoheft durchgeblättert.
Sie verlor über das Gesehene nie ein Wort. Nicht zu ihren Freundinnen. Und schon gar nicht zu ihrem Ehemann.
Lukas war nun öfters geschäftlich abwesend. Als CEO einer Grosshandelskette war die Agenda voll.
Auch sein Köfferchen. Hilde hatte nur einmal reingeschaut? BEIM ANBLICK DER SPITZENWÄSCHE UND DER GOLDBLONDEN PERÜCKE VERSPÜRTE SIE EIN ÄHNLICHES SCHAMGEFÜHL WIE DAMALS, ALS SIE IHREN MANN IM NEGLIGE ENTDECKT HATTE.
Eines Tages bestellte Professor Herzlein Hilde in die Klinik der städtischen Psychiatrie. Die Konkurrenz hatte Lukas nachspioniert. Sie ging mit kompromittierenden Bildern an die Boulevard-Presse. Der CEO versuchte sich aus dem Fenster zu stürzen? nun lag er «stillgelegt», wie sie das nannten, in der geschlossenen Abteilung. In den ersten drei Monaten redete Lukas nicht. Dann kam dieser Tag, als er das Fenster anstierte. Der Baum im Klinikgarten zeigte weisse Blüten: «Entschuldige.
Ich hätte es dir schon lange sagen sollen...»
«Nein. Ich hätte fragen sollen...», lächelte Hilde.
Und dann weinten sie. Beide.
Schon als Kind hatte er sich im falschen Körper gefühlt. Vor den Männerkleidern hat es ihn geekelt: «Dennoch liebe ich Frauen. Das macht es doppelt schwer...»
Manchmal spürte Hilde eine entsetzliche Wut.
Weshalb konnten sie nicht einfach glücklich zusammen leben? Warum konnte er nicht als Frau an ihrem Arm durch die Stadt spazieren? «Die Welt ist noch nicht so weit», sagte Herzlein.
Noch zwei Mal versuchte sich Lukas aus dem Fenster zu stürzen. «Bei uns hat er es gut», sagte Herzlein. Erhöhte die Dosis der Antidepressiva.
Vor einem Jahr wünschte sich Lukas eine Puppe.
Lenchen. Er liebkost sie seither innig. Und Hilde spürt eine leise Eifersucht auf dieses Stück Kunststoff mit den schief eingesetzten Schlafaugen.
«Der lila Lippenstift passt dir doch, Lucia?» fragt seine Frau nun.
Sie nennt Lukas neuerdings Lucia.
Er schaut aus dem Fenster. Der Apfelbaum hat wieder weisse Blüten. Zum 20. Mal.
«Lenchen muss jetzt schlafen», sagt er.

Montag, 16. April 2012