Nelly schenkte Kaffee nach. Und schaute ihre Gäste an: «Macht ihr wieder einen Baum?» Walter blinzelte zu Elsie. Diese zuckte leicht zusammen.
Sie hatten immer einen Weihnachtsbaum gehabt. Elsie war bäumig aufgewachsen? sozusagen. Mit Lametta und GlasvögelchenTradition. Bei Walti waren es Rottannen und weisse Kerzen gewesen. Einziger Schmuck: Quittenwürstchen an den Ästen.
Als sie heirateten, wurde der Baum eine Fusion der beiden Familientraditionen. Elsie machte sich auf die Suche nach dem letzten Konditor, der noch Quittenwürstchen herstellte. Und Walti schaute sich nach Glasvögeln um.
Als die Kinder kamen, durfte sich jedes auf dem Weihnachtsmarkt eine Kugel für den Baum aussuchen. Jahr für Jahr. Und natürlich musste die Tanne die Decke kratzen. Darunter ging nichts. Dann wurden die Kleinen gross. Und die Bäume kleiner.
Es gab noch einmal einen tannigen Schub, als die Enkel auf die Welt kamen. Noch einmal Deckenkratzbaum. Noch einmal das volle Programm. Doch als die Jungen verkündeten, sie wollten an Weihnachten mit den Kindern in die Berge zum Skifahren weggehen? da war plötzlich eine grosse Leere in den beiden Alten. «Wir machen keinen Baum», hatte Elsie getrotzt. «Wenn du meinst», hatte Walti seufzend erwidert. Und bedrohlich kam der 24. Dezember näher, ohne dass eine Tanne auf der Terrasse wartete. Die Kartonschachtel mit den Glasvögeln blieb im Keller. Die Stimmung auch.
Zwar kaufte Elsie zur moralischen Sicherheit ein kleines Kunststoffbäumchen, kaum zwei Hand gross mit allerlei Plastikschmuck dran. ES WAR EIN ABSOLUTER HORROR? ABER IMMER NOCH BESSER ALS GAR KEIN BAUM.
Es war dann ebenfalls Elsie, die drei Tage vor dem Heiligen Abend zu Herrn Tobler, dem Tannenbaumverkäufer hastete: «Haben Sie noch eine Tanne für mich?» Er lachte laut heraus: «Aber sicher, Frau Schmid... das gibt aber eine Überraschung!»
Sie liess den Baum bis zum Heiligen Abend bei Händler Tobler. Als sie den bereits nadelnden Besen jedoch am Morgen des 24. keuchend in den 5. Stock schleppte, stand in der Stube bereits ein Baum im Ständer.
«Ach Elsie...», grinste Walti, als er seine Frau mit der Tanne sah.
«Ach Walti!»? Elsie schnäuzte sich die Nase. Da wussten sie beide, weshalb Herr Tobler so laut gelacht hatte...
«Ich habe dieses Jahr eine Überraschung...», strahlte Walti nun zu Nelly. «... eigentlich wollte ich sie bis zum 2. Advent noch für mich behalten. Aber da du das Thema schon angeschnitten hast: NEIN. ES GIBT KEINEN BAUM? ICH HABE EINE REISE NACH MADEIRA GEBUCHT!» «Walti», rief Elsie halb entzückt, halb entsetzt. Madeira war immer ihre Wunschdestination gewesen: die vielen Blumen, das milde Klima? vor allem: sich an einen gedeckten Tisch setzen zu können. VERLOCKEND. Aber an Weihnachten?! Nelly schaute ihre Freundin neidvoll an: «Ach Elsie, hast du ein Glück!»
Wieder zu Hause wählte Walti in seinem Bürozimmer die Nummer der Stadt-Konditorei: «Kann man eure Quittenwürstchen so einschweissen, das sie transportfähig sind...?» flüsterte er in den Hörer.
Elsie aber rumpelte auf dem Estrich herum. Schliesslich entdeckte sie den kleinen, verstaubten Kunststoffhorror. Pustete den Staub weg. Und schaute, ob er in ihrem Reisekoffer Platz haben würde...«Besser als gar kein Baum», sagte sie zufrieden.
Macht ihr wieder einen Baum?
Montag, 19. November 2012