Die letzte Kalbshaxe

Ilse schnitt sich noch ein Stück vom Zopf ab.
Mit den Fingerkuppen sammelte sie die Brosamen ein. UND ÜBERLEGTE, WIE SIE KARL AM BESTEN UMBRINGEN KÖNNTE.
Das avisierte Mordopfer sass ahnungslos hinter seiner Tageszeitung. Und rülpste, so dass Frau Merkel auf der ersten Seite ins Flattern kam.
Ilse schauderte. WIE HATTE SIE SO ETWAS JE HEIRATEN KÖNNEN!

Erschienen am: 
Montag, 14. November 2011

Die kleine Insel

Ein Zittern geht durch das Schiff.
Wie hunderttausend Quellen sprudelt das Wasser ringsherum auf.
Dann legt sich der Dampfer müde auf die Seite.
Tot? wie ein erlegtes Reh.
Mauro schaut dem Spektakel stumm zu. Seine Mutter drückt den Jungen an ihren Leib. Am Hafen jagen die ersten Fischerboote zur Unglücksstelle.
Der Pater lässt die Kirchenglocken läuten.
Der Zivildienstgeneral brüllt nach Decken. Es gibt wohl kaum einen der 500 Insulaner, der jetzt nicht auf den Beinen ist.

Erschienen am: 
Montag, 4. Juni 2012

Die Katzenfalle

Als Innocent den hässlich grünen Apparat im Garten installierte, war ich Fragezeichen pur.
«Was ist denn das?» Der liebe Freund druckste ein bisschen herum. Er nuschelte Bruchstücke unter seinem frisch gefärbten Schnauz («Arden 5, Kastanientraum»): «? Katzenschreck? Sauerei, wenn diese Miezen beim Essen stets rumlungern? gestern eine gar auf dem Poulet gehockt?»
ICH HABE NUR KATZENSCHRECK VERSTANDEN!

Erschienen am: 
Montag, 18. September 2006

Die Hellseherin

Sie sah die Zukunft.
Die einen nannten es «eine Gabe».
Für Maya war es ein Fluch.
Erstmals passierte es im Kindergarten. Maya weinte. Weigerte sich, das kleine Haus zu betreten.
Und flehte die Kindergärtnerin an, draussen zu bleiben.
Also spielten sie draussen. Als dann das Haus explodierte, blieben alle heil. Gas war ausgelaufen.
Und die Tageszeitungen machten eine grosse Geschichte draus: «FÜNFJÄHRIGE RETTET 30 KINDERN DAS LEBEN? IST SIE EINE HELLSEHERIN?»

Erschienen am: 
Montag, 26. März 2012

Die Geschichte von Maria, der Meerjungfrau

In unserm kleinen Fischerort, wo die Touristen seit Jahren ausbleiben und die teuren Luxusjachten in steuerbilligere Länder weggesteuert sind ? in diesem kleinen Hafen hat man plötzlich wieder mehr Zeit.
Die vielen Männer, die fast alle keinen Job mehr haben, schauen den wenigen Glücklichen zu, die für ein paar Euros über Nacht auf dem Meer herumtuckern und zur Mittagsstunde die Netze mit silberglitzernden Fischen aus den Booten laden.

Erschienen am: 
Dienstag, 22. Oktober 2013

Die Geschichte vom Tag, als «la Gallina» starb...

Als der Trauerzug sich in der schmalen, dunklen Gasse, die dem heiligen Erasmus gewidmet ist und deshalb auch Vico San Ersamo heisst, als die schwarz gekleideten Menschen sich hier also gruppierten, als die alten Weiber des Hafenortes stumm, aber mit vorwurfsvollen Blicken, die mehr aussagten als ein italienisches Parlament, zu Don Paolo schauten, da knallte der spindeldürre Padre mit Lippen so schmal, dass nicht einmal eine Fliege darauf hätte Seiltanzen können, das Kirchenportal zu.

Erschienen am: 
Dienstag, 18. Oktober 2005

Die Freundin

Die Sonne schien erstmals warm. Eric war glücklich.
Frühling? das war immer ein Neuanfang.
Mit einer spitzen Schaufel traktierte er das Beet neben den Rosen. Hier hatte er Cécile vor gut einem Jahr begraben. Verträumt hatte sie gelächelt. Und er ihren zarten, feinen Kopf geküsst. Dann hatte er geweint. Und das Grab zugeschaufelt.

Erschienen am: 
Montag, 18. März 2013

Die breite Masse

Zu meiner Jugendzeit trugen alle noch ein Sackmesser im Sack und ein Täschchen in der Hand. Deshalb: SACK-MESSER. Und: HANDTÄSCHCHEN.
War das nun schwierig? Eben!
NUN GUT: NICHT ALLE HABEN DAS SACKMESSER GETRAGEN. ES GAB AUCH SOLCHE, DIE ES GEGEN DAS HANDTÄSCHCHEN AUSGETAUSCHT HABEN. DOCH WIR WOLLEN IHNEN MIT DEM TUNTENGEJAMMER NICHT AUF DEN GEIST GEHEN!

Erschienen am: 
Montag, 31. Januar 2011

Die Braut

Sie sass auf der harten Kirchenbank. Und betete den Rosenkranz: «Gegrüsst seist du, Maria...»
Die ersten Worte flüsterte sie nur. Erst bei «... bitte für uns Sünder. Jetzt. Und in der Stunde unseres Todes...» bebte die Stimme in einem leichten Crescendo.
Die Perlen des Rosenkranzes fielen wie Tränen durch die Finger der alten Frau. Es waren gepflegte Finger. Darauf achtete Irmgard. Es waren Finger, die Klavier spielten. Und für die Freundinnen Gobelins stickten.

Erschienen am: 
Montag, 25. März 2013

Die Angestellte

Fritzi siebte die Fleischsuppe in eine Thermos­flasche ab. Die dampfende Hühnerbrust und das Suppenfleisch gab sie in eine Alu-Schale.
ES DURFTE NICHTS VERKOMMEN. Das hatte sich ihre Familie auf die Fahne geschrieben. Und mit diesem Credo den Grundstein zum Reichtum gelegt.
Fritzi? eigentlich Frederike, aber sie hasste diesen Namen und wollte schon als Kind «Fritzi» genannt werden? wuchs in einer Familie auf, in der gespart wurde. Und niemand genau wusste, wie viel Geld eigentlich da war.

Erschienen am: 
Montag, 8. April 2013

Seiten