Die Geschichte von Maria, der Meerjungfrau

In unserm kleinen Fischerort, wo die Touristen seit Jahren ausbleiben und die teuren Luxusjachten in steuerbilligere Länder weggesteuert sind ? in diesem kleinen Hafen hat man plötzlich wieder mehr Zeit.
Die vielen Männer, die fast alle keinen Job mehr haben, schauen den wenigen Glücklichen zu, die für ein paar Euros über Nacht auf dem Meer herumtuckern und zur Mittagsstunde die Netze mit silberglitzernden Fischen aus den Booten laden.
Wenns mal nichts zu schauen gibt, sitzen alle bei Nando in der kleinen Bar La Sirena, sie spielen Karten und verbessern die Welt. Oder sie spinnen altes Fischergarn? wie damals, als die alte Maria in ihrem Rollstuhl an diesem Ort den Kindern von singenden Meerjungfrauen und verliebten Jünglingen erzählt hat. Ohren und Augen der Kleinen hingen da an Marias Mund, wie heute an diesen Miniaturapparaten, wo man auf daumennagelgrossen Bildschirmen Spielfiguren per Knopfdruck explodieren lassen kann.
Keiner weiss genau, woher Maria damals gekommen war. Nur eines ist glasklar (und da sind sich sogar die alten Klatschweiber des Ortes einig). MARIA MUSS WUNDERSCHÖN GEWESEN SEIN.
Man erzählt sich, das junge Mädchen sei am weiten, sandigen Strand der Feniglia aus den Wellen gestiegen. Es habe sich bald einmal Rolando, den schönsten Fischer des Ortes, angelacht. Er aber hatte schon Frau und Kinder (was Maria nicht gross kümmerte). Und so wurde es eine sündige Liebe,die Don Mario von der Kanzel herunter verfluchte. Und Maria die Hölle prophezeite.
Als die beiden trotz Kirchengedonner und giftigem Getuschel im Dorf weiter miteinander schliefen, schaltete sich gar der Bischof aus Florenz ein. Er suchte die beiden Sündigen auf. Und bat die schöne Frau im Namen des hohen Vaters im Himmel, Vernunft anzunehmen und aus diesem sündigen Kaff abzureisen.
Maria lachte den Mann aus dem Klerus nur aus: Ihr Vater sei nicht hoch in den Wolken, sondern tief im Meer. Er heisse Poseidon. Und alle seine Töchter seien Meerjungfrauen. Diese Sirenen würden immer wieder die Männer dieser Welt mit ihren Geschichten und Liedern um den Verstand bringen ?
Die Alten des Fischerorts munkeln, dass selbst der keusche Kirchenmann damals beim Klang von Marias Stimme die Glocken läuten hörte. Jedenfalls soll ein ihm bis anhin unbekanntes Feuer zwischen den Beinen gelodert haben.
Wie dem auch sei? am Tag des heiligen Stefano fuhr Rolando wie üblich aufs Meer, um dort die Netze auszuwerfen. Am Abend jedoch wartete Maria am kleinen Hafen umsonst auf ihn. Einige Fischer berichteten, dass Rolando so weit wie nie hinausgefahren sei. Alle hätten ihn gewarnt, da das Wasser plötzlich weisse Schaumkronen aufzuwerfen begann, und das sei immer ein untrügliches Zeichen für einen heftigen Sturm. Tatsächlich hätten bald einmal haushohe Wellen Rolandos Boot wie eine faule Nuss hin- und hergeworfen.
Andere Augenzeugen wiederum wollten einen Dreizack, so lang wie 100 aufgereihte Vipern gesehen haben. Eine riesige Gestalt sei aus dem Meer emporgeschnellt und habe den armen Rolando mit diesem Mordinstrument aufgespiesst. Dritte flüsterten hinter vorgehaltener Hand, Rosanna, die gehörnte Gattin, habe die Nase voll gehabt und am Bug von Rolandos Schiff ein Loch gebohrt. Dieses mit Schweinefett zugeklebt. Das Fett sei in der Sonne geschmolzen. Und bald schon habe das Wasser ins Boot eindringen können, um Rolando samt Schiff und Schande auf den Meeresgrund zu ziehen.
Maria jedenfalls wartete tagelang am Ufer, wimmerte in einer allen unverständlichen Sprache ? und verfluchte Poseidon. Dann reiste sie nach Florenz, um dem Bischof zu versprechen, sie werde sich als Sühne für ihre Sünden eigenhändig die Füsse abhacken, wenn der gnädigste aller Götter ihr den Geliebten wieder schenken würde.
Danach hat man «La Sirena» nicht mehr am Hafen gesehen? erst zehn Jahre später tauchte sie nun mit schlohweissem Haar, aber immer noch mit dieser wunderbaren Stimme, die so herrlich singen und erzählen konnte, in einem Rollstuhl in Nandos Bar wieder auf. Um ihre Beine war eine blutrote Decke gewickelt. Und sie begann Geschichten zu erzählen? Geschichten, wie wir sie eben gehört haben.
So lebte sie noch gut fünf mal zehn Jahre im Ort, bis ihr Rollstuhl nicht mehr ansurrte. Und die Leute sich Sorgen um sie machten. Sie besuchten das letzte Armenhäuschen des Orts und fanden «La Sirena» eiskalt im Rollstuhl vor dem grossen Bett. Auf ihren Lippen war ein Lächeln? im Bett aber lag ein Skelett, das den goldenen Ehering Rolandos trug.
Solche Geschichten flüstern einander heute die Bewohner unserer Insel in der kleinen Bar am Hafen zu ? weil sie zwar keine Arbeit, aber etwas Kostbareres gefunden haben: die Zeit in dieser zeitlosen Zeit.
Das Einzige, was wir wirklich bezeugen können: Wer den Friedhof unserer Insel aufsucht, diesen Cimitero, der von einer blutroten Mauer umgeben wird, wo die Witwen ihren Männern jeden Dienstag nach dem grossen Blumenmarkt für einen Euro Lilien aufs Grab legen? in diesem Cimitero findet der Besucher ein Eisenkreuz, das über einer Marmorplatte wacht. «LA SIRENA? 1883?1951» ist da in den weissen Stein gehauen. Sonst nichts.
Hin und wieder legen die alten Frauen eine der verwelkten Lilien ihrer Ehemänner auf die milchige Platte ? junge Mädchen aber bringen «La Sirena» bei Liebeskummer Meeresmuscheln. Und bitten den Geist der Verstorbenen um Beistand.
Es gibt solche , die behaupten, immer am Tag des heiligen Stefano könne man nachts «La Sirena» leise singen hören. Ihre Stimme sei so klar, dass sie jedem die Tränen in die Augen treibe.
ABER NATÜRLICH IST DAS FISCHERGARN, WIE ES JETZT BEI NANDO IN DER BAR LA SIRENA GESPONNEN WIRD.
Das kommt davon, wenn die Leute zu viel Zeit haben!

Dienstag, 22. Oktober 2013