Sie sass auf der harten Kirchenbank. Und betete den Rosenkranz: «Gegrüsst seist du, Maria...»
Die ersten Worte flüsterte sie nur. Erst bei «... bitte für uns Sünder. Jetzt. Und in der Stunde unseres Todes...» bebte die Stimme in einem leichten Crescendo.
Die Perlen des Rosenkranzes fielen wie Tränen durch die Finger der alten Frau. Es waren gepflegte Finger. Darauf achtete Irmgard. Es waren Finger, die Klavier spielten. Und für die Freundinnen Gobelins stickten.
Bei der Handarbeit machten die Augen nun nicht mehr mit. Aber mitunter setzte sich Irmgard an den Flügel. Spielte ein paar Minuten Chopin. Oder Bach. Bach mochte sie nicht besonders. Seine schweren Töne liessen sie die Einsamkeit in der übermöblierten Villa spüren? 14 Zimmer, in denen sie ein Leben lang zu Hause gewesen war. Und aus denen schon lange kein Leben mehr atmete.
Schon als kleines Kind war sie gerne in die Kirche gegangen. Eigentlich war das ihr Zuhause gewesen. Hier hatte sie sich wohlgefühlt. Irgendwie getröstet.
Daheim übersah man sie. Die Eltern führten ein offenes Haus. Künstler. Maler, Musiker, Dichter? alles ging ein und aus. Man streichelte der kleinen Irmgard über die Locken. Aber man beachtete sie nicht. Die Künstler waren mit sich selber beschäftigt. Und die Eltern mit den Künstlern.
Sie wollte eine Braut Christi werden. Und ins Kloster eintreten. Die Eltern lachten nur: «Das gibt sich alles... warte, bis du gross bist. Da können gar nicht genug Männer um dich herumtanzen.»
Mit 30 war sie für die Altarblumen zuständig. Und hatte den Klostergedanken aufgegeben.
Zum ersten Mal kümmerten sich die Eltern um Irmgard. Sie schleppten einen Bankier an. Und gaben den Tarif durch: «Er hat Geld. Nur so können wir das Haus halten...»
Sie war gewohnt, zu gehorchen. Also gab es eine Hochzeit. Aber keine Hochzeitsnacht? Irmgard war eine Braut Christi. Und gehörte niemandem sonst.
So gab die Braut nach dem letzten Tanz dem bereits etwas atemlosen Bräutigam einige Tropfen ins Champagnerglas. Er fiel wie ein gefällter Baum. «Herzversagen»? diagnostizierte der alte Hausarzt.
Sie hatte nun Geld und das Haus? und kein schlechtes Gewissen. ER hatte sie zu seiner Braut erwählt? es war in SEINEM Sinne gewesen.
Nach dem Tode ihrer Eltern schloss sie die Zimmer der Villa. Obwohl es jetzt still war, waren die Erinnerungen an die lärmigen Gesellschaftsabende zu laut.
Sie engagierte sich für Arme. Lehrte Tamilen- Kindern die Bibel. Und bezahlte? ohne dass ihr Name genannt wurde? die Renovationskosten der Sakristei.
Zweimal wöchentlich ging sie zu Pater Leo, um zu beichten. Obwohl es nichts zu beichten gab. Denn die Sache mit den Gifttropfen behielt sie ein Leben lang für sich? das war ein Ding zwischen IHM und ihr. Und ging die Pater-Ohren nichts an.
Im Alter kühlte die Liebe zu IHM etwas ab. Dafür glühte die Verehrung zu Maria auf. Es schien, als würde ihr Lächeln alles verstehen, alles verzeihen.
So betete sie auch an dieser Vesper zum Altarbild: «... bitte für uns Sünder. Jetzt. Und in der Stunde des Todes!»
Als Pater Leo die Kirche schliessen wollte, entdeckte er die Tote in der Kirchenbank.
«Sie hatte ein glückliches Lächeln», erzählte er später seinen Mitbrüdern.
Die Braut
Montag, 25. März 2013