Die Hellseherin

Sie sah die Zukunft.
Die einen nannten es «eine Gabe».
Für Maya war es ein Fluch.
Erstmals passierte es im Kindergarten. Maya weinte. Weigerte sich, das kleine Haus zu betreten.
Und flehte die Kindergärtnerin an, draussen zu bleiben.
Also spielten sie draussen. Als dann das Haus explodierte, blieben alle heil. Gas war ausgelaufen.
Und die Tageszeitungen machten eine grosse Geschichte draus: «FÜNFJÄHRIGE RETTET 30 KINDERN DAS LEBEN? IST SIE EINE HELLSEHERIN?»
Maya hatte nichts Helles gesehen. Sie hatte einfach das Unheil gespürt. Punktum.
Erst Jahre später, wenn jemand ihr die Hand gab, stiegen da plötzlich auch Bilder vor ihren Augen auf. Sie sah die Mutterschaft ihrer Schwester voraus. Das war nichts Aussergewöhnliches. Doch die Schwester lebte als Nonne.
Dann wollte sie den Milchmann vor dem Flug nach Kairo abhalten. Sie bettelte, er möge doch die Reise um einen Tag verschieben. Er lachte nur. Und stürzte ab.
Maya hielt ihre «Begabung» unter dem Deckel? sozusagen. Sie hausierte nicht damit. Maya war Buchhalterin. Und hatte anderes zu tun, als der Welt die böse Zukunft vorauszusagen.
Nachdem sie den dritten Börsencrash vorausgesehen und vorher ihr Aktienpaket in Gold angelegt hatte, konnte sie in Ruhe die Pension geniessen.
Wenn die Leute sie baten, ihnen zu sagen, was morgen sei, lehnte sie strikte ab.
Nur bei Hanna machte sie eine Ausnahme.
Hanna war Sängerin. Und Hanna war ihr ans Herz gewachsen? vielleicht weil sie keine eigenen Kinder hatte.
Wenn Hanna einem Intendanten vorsang, wusste Maya schon vorher: Das geht schief. Hanna hatte eine wunderbare Stimme? aber schlechte Nerven.
«Ich habe morgen ein Vorsingen in Luzern... wie geht es aus?», löcherte sie die Hellseherin.
Maya nahm die Hand der jungen Frau. Spürte eine Vibration. Und sah vor ihren geschlossenen Augen, wie hundert Daumen nach unten zeigten... naja, so ungefähr.
«Versuch es einfach», sagte sie diplomatisch.
Sie hasste es, Hanna stets mit Unkenrufen traurig zu machen. Sie hätte bei ihr so gerne mal eine rosige Zukunft gesehen.
Hanna wurde in den Chor engagiert.
Und träumte immer wieder von einem Solo.
Maya sah diesbezüglich nichts vor ihrem hellen Auge. Sie hätte sich für Hanna ein grosses Haus gewünscht. Ein Solo. Viel Publikum. Aber die Daumen zeigten nach unten? nun gut, man kann das Schicksal nicht erzwingen.
Eines Tages? sie feierten Mayas 75. Geburtstag?, als die alte Frau die Hand der Sängerin nahm, da sah sie es: Hanna sang in einem wunderbaren, riesigen Raum. Sie sang ganz alleine? und die Menschen weinten.
«Hanna», flüsterte die Alte aufgeregt, «Hanna? du wirst ein Solo haben. Ich sehe dich in einem riesigen Haus... die Leute sind ergriffen... sie weinen... Hanna, du bist eine grosse Sängerin! Und ich werde bei deinem Erfolg dabei sein.»
Hanna umarmte sie lächelnd: «Ach Maya? nun bin ich für so etwas zu alt... ich bin ja ganz zufrieden...»
Einen Monat später sang Hanna das «Ave Maria».
Nicht Gounod. Sondern Verdi. SOLO.
«Eine traumschöne Stimme», flüsterte jemand in der ersten Reihe.
Die Menschen waren ergriffen. Sie weinten.
Die Kirche war bis auf den letzten Platz besetzt.
Der Pfarrer wandte sich zum Sarg: «Wir sind gekommen, um von unserer Schwester Maya Abschied zu nehmen...»

Montag, 26. März 2012