Die Geschichte vom Tag, als «la Gallina» starb...

Als der Trauerzug sich in der schmalen, dunklen Gasse, die dem heiligen Erasmus gewidmet ist und deshalb auch Vico San Ersamo heisst, als die schwarz gekleideten Menschen sich hier also gruppierten, als die alten Weiber des Hafenortes stumm, aber mit vorwurfsvollen Blicken, die mehr aussagten als ein italienisches Parlament, zu Don Paolo schauten, da knallte der spindeldürre Padre mit Lippen so schmal, dass nicht einmal eine Fliege darauf hätte Seiltanzen können, das Kirchenportal zu.

Das Gesicht des Kirchenmannes in seiner schwarzen Sutane war so weiss wie die Milch der Maremma-Kühe und so verbittert, dass auch ein Zentner frisch gestossener Marzipan da nichts ausgerichtet hätte.

Die drei Mann hohe und sechs Hand dicke Türe erzitterte unter dem wuchtigen Stoss und die Weiber bekreuzigten sich. Sie zischten «zzzz» wie die Vipern in den Feldern, wenn die Wildschweine über sie hergaloppierten - dann hob die alte Maria Rosa mit ihrer metallenen Stimme das Klagelied an und es war, als würden sich 1000 weinende Sirenen in Bewegung setzen.

Rinaldo, der oberste aller Carabinieri des Ortes, ein dicklicher Tunichtgut wie alle diese schwarzen Lederstiefler, schlug auf die riesige Pauke, die wie ein Erker von seinem Bauch wegstand. Langsam und dumpf vibrierten die Schläge auf dem gelblichen Trommelfell. Und «perche?» - schrie es aus dem aufgedunsenen, verheulten Gesicht der alten Loredana immer wieder. Dieses schluchzende «Perche?» vermischte sich mit Rinaldos Paukenschlägen zum bizarren Duett - vom summenden Chor der Klageweiber begleitet.

Der Sarg, hinter dem die Menschen vom Dorf hinterhergingen, wurde von der schwarzen Limousine Romanos im Schritttempo gefahren. Es war ein teurer Sarg. Romano, der alle Leichen dieser Inseln bestattet - vom vermissten Fischer, den das Meer erst nach vier Wochen wieder hergegeben hat bis zum Bürgermeister, der sich an einem Karfreitag an sieben Hummern überfressen hatte und so rot wie diese unter den Tisch sank (worauf die Leute nickten und sagten, es sei ihm recht geschehen, denn am Tag, an dem ER für uns am Kreuz gehangen habe, sei Prasserei eine verfluchte Sünde) - Romano also hatte sich nicht lumpen lassen. Er hatte «la Gallina», wie die Menschen auf der Insel die arme Lucia nannten, drei Mal gewaschen und ihr das teuerste Leichenhemd aus Seide und mit handgestickten Rosen drauf angezogen - wohlwissend, dass die alte Loredana so etwas nie bezahlen würde können.

«Eben - was recht ist, ist recht», hatte Romano zu seiner Frau gesagt. Diese wiederum sagte nichts. Und das war schon eines der vielen Wunder, die beim Tod der armen «Gallina» passiert sind.
Lucia wurde zu «Gallina», weil ihr der Konsum von Alkohol, Nikotin und vielen schlimmeren Drogen die Haare vom Kopf schneien liess - bald war da nur noch ein magerer Büschel und die kleine Dorfhure sah aus wie das Huhn in der Mauser. Ihr grellrot geschminkter Mund war immer verschmiert, ihre Augen standen wie zwei hartgesottene Eier aus dem Kopf - und ihre Beine und Arme waren so dünn, dass man es bei jedem ihrer Schritte auf den hohen Hacken wie Castagnetten klappern hörte.

Dennoch - alle liebten Gallina. Die Frauen gingen zu ihr, wenn sie Rat wegen ihrer Männer suchten, denen die Kraft in der Wurzel erloschen war, wie das Licht der Opferkerze am 5. Tag. Und weshalb die Männer zu ihr gingen, wissen wir ja und ist nicht von Belang.

Als nun die alte Loredana ihre Tochter tot auf dem Küchenboden fand und laut schreiend zu Don Paolo rannte, damit er für Lucia die Kirchenglocken läuten lasse, verweigerte der seine Hilfe und wie ein Lauffeuer ging die Geschichte von Haus zu Haus. «Perche?» - heulte die Mutter und hämmerte mit ihren verbrauchten Händen dem Prete auf die Brust. Aber oft sind die Kanonen des Krieges weicher als das Herz eines Glaubenshüters.

Als nun der Sarg auf dem kleinen Friedhof mit den Hunderten von Lichtern ausserhalb des Dorfes in die alte Mauer eingeschoben wurde, da kam plötzlich dieser stürmische Wind über das Meer. Die Bäume verneigten sich, tausende von Rosenblüten tanzten wie wildgewordene Blutflecken durch die Luft - und da hörte man auch im Heulen des Sturmes die Kirchenglocken, die vom Wind hin- und hergeschlagen wurden.

Die Menschen und die alte Loredana bekreuzigten sich und als Federico das Mauerloch mit Rosas Sarg drin schon zupflastern wollte, da stand plötzlich Don Pedro davor. Sprach ein Gebet. Und schlug das Kreuz über den Sarg.

Still ging die Trauergemeinde wieder ins Dorf zurück. Nur die Klageweiber sangen noch immer ihre Lieder und diese Lieder mischten sich mit dem Wind, der jetzt leise mit den Menschen weinte...

Dienstag, 18. Oktober 2005