Die breite Masse

Zu meiner Jugendzeit trugen alle noch ein Sackmesser im Sack und ein Täschchen in der Hand. Deshalb: SACK-MESSER. Und: HANDTÄSCHCHEN.
War das nun schwierig? Eben!
NUN GUT: NICHT ALLE HABEN DAS SACKMESSER GETRAGEN. ES GAB AUCH SOLCHE, DIE ES GEGEN DAS HANDTÄSCHCHEN AUSGETAUSCHT HABEN. DOCH WIR WOLLEN IHNEN MIT DEM TUNTENGEJAMMER NICHT AUF DEN GEIST GEHEN!
Heute tragen sie statt Handtäschchen eine Dose Bier. Und statt des Sackmessers den Joint in der Hose. Manchmal inhalieren sie auch dieses Gesöff, das Flügel verleiht. Und nur in den ganz seltensten Fällen Himbeerbrause. Es sei denn, die Brause bringe den FULLFLASH.
Nennen wir es mal beim Namen: Die Jugend säuft sich breit. Und törnt sich so zu, dass die Welt eine einzige fröhliche Eierkuchen-Party wird. Die Alten lächeln milde: «Wir waren doch auch mal jung!»
JA, DANKE. ABER DA HABEN WIR LIKÖRE AUS DEM GLÄSCHEN GENUGGELT. UND ROTWEIN MIT ZUCKER GESÜSST. Das war es dann auch schon.
Ich meine: ZU MEINER KINDERZEIT HAT MAN NOCH DEN SILVESTERCHAMPAGNER FÜR DIE KLEINEN ERFUNDEN. Damit durften wir anstossen. Er hatte null Prozent. NULL. NIX. Wir gaben uns nach dem dritten Glas jedoch, als wären wir veilchenblau. Wir wollten schliesslich auch dazugehören.
VOR 50 JAHREN BRAUCHTE EIN KIND TATSÄCHLICH SCHAUSPIELERISCHES TALENT, UM BREIT ZU SEIN. HEUTE WIRD ES BEREITS MIT ACHT LENZEN VON DEN ALTEN MIT DOM PERIGNAND ABGEFÜLLT.
Es war in Adelboden. Vor drei Wochen. Und es war der grosse Skizirkus angesagt.
Die Wetterlage prophezeite Wunderbares: wenig Schnee. Und viel Alkohol.
Derweil die tapferen Männer des Ortes die Skipiste am Kuonisbergli flach traten, soffen sich die Skifans im Örtchen rund. Das Resultat konnte man später weitherum erkennen: gekotzte Fondueschnitten neben vergilbten Pissspuren und steif gefrorenen Kondomen.
JA, DANKE? ICH WEISS AUCH, DASS DIES ZU IHREM MORGENKAFFEE NICHT UNBEDINGT DIE RICHTIGE KOST IST. ABER STELLEN SIE SICH DAS MAL ZUM TAGESBEGINN IN MEINEM KUONISBERGLI-VORGARTEN VOR. UND DIES AUF NÜCHTERNEN MAGEN!
Es kann heute kein Fest mehr abgehen, ohne dass die Jungen gleich am Tresen in die Vollen greifen. Und wenn das Schweizer Fernsehen sowie die Veranstalter später von den «hochprozentigsten Skitagen dieser Saison» berichten, treffen sie für einmal ins Schwarze. DA WAR DIE GANZE BREITE MASSE BREIT. Noch mehr Prozente und man hätte für die Schnapsleichen nicht nur die Spitäler von Frutigen und Interlaken, sondern auch gleich noch die von Thun und Biel füllen müssen.

Geschlossene Bar. Onkel Alphonse soff auch. Und eine meiner Tanten hatte ein klares Alkoholproblem. Über solche Dinge jedoch sprach man zu jener Zeit nicht. Die Frauen der Familie schickten einander nur Blicke zu, wenn die beiden auftauchten. Hastig wurden die Flaschen weggeräumt. Und die kleine Bar im Stubenbuffet abgeschlossen. Dann klatschten sie mit gekünsteltem Elan in die Hände: «Lotti hat eben Teewasser aufgesetzt...»
Onkel Alphonse klatschte nicht. Er griff fahrig zum Flachmann, den er? statt des Sackmessers? in der Hose mit sich trug: «Meine Nottropfen!»
Als die lieben Eltern ihr Abo-Zweiter-Rang absassen und sich eine lustige Operette reinzogen, nutzte der Kleine die Gelegenheit. In der Stubenbuffetbar standen bunte Karaffen mit Bananenlikör, grünlichem Minzenschnaps und etwas Hochprozentigem, das mit Mandarinen und noch mehr Zucker gebraut worden war. ES GAB AUCH EIERCOGNAC. HAUSGEDÜDELT.
HAUPTSACHE, ES WAR KLEBRIG. HAUPTSACHE, ES WAR SÜSS.
Die Eltern kamen also in fröhlicher «Bettelstudent»-Laune heim. Sie fanden das Kind mit Vaters Trämlerhut und Mutters Negligé vor dem umgekippten Minzenlikör liegen.
«Willst du werden wie Onkel Alphonse?», nahmen sie die Schnapsleiche ins Gebet. Das Kind wollte nur noch sterben. Und das schöne himmelblaue Sofa musste neu bezogen werden.
Ich hatte dann nur noch einmal einen Ausrutscher. Das war in dieser Beiz, die schon damals «Bodega» hiess. Aber zu jener Zeit im ersten Stock «Bussot?s spanische Weinstube» war. Sie schenkten etwas aus, das man «Pyrenäenglut» nannte. Der Wein war süss wie Himbeerkuchen. Man konnte unendlich viel davon saufen? aber danach konnte keiner mehr aufstehen. BEINE WIE MARSHMALLOWS!
Meine Schulkollegen haben mich die Treppe runtergetragen. Und meine Eltern haben die Vollreinigung des Taxis bezahlt.
DANN WAR SCHLUSS. Irgendwie ging ein eiserner Vorhang runter. Ich kann heute an einem Glas Rotwein höchstens mal nippen. UND SCHON KOMMT DIE BARRIERE? vielleicht ist die «Pyrenäenglut» daran schuld. Oder der Pfefferminzlikör. Vielleicht auch Onkel Alphonse. Er wurde 99 Jahre alt. Und behauptete: Ohne Schnaps hätte er alle diese Jahre nie ausgehalten.

Ins Paradies. Mag sein, dass dies das Geheimnis rund um die heutige Komasauferei ist. Viele brettern sich die Birne zu, weil sie mit ihrer Welt nichts mehr anfangen können.
Viele kiffen sich in ein Paradies. Und das Erwachen ist dann immer so schön wie mein vollgekotzter Adelbodener Vorgarten.
ABER GOTTLOB KÖNNEN WIR UNS ALLE IN EINEM RAUCHVERBOT AUSTOBEN.
Denn Rauchen killt alle.
Alkohol aber macht den Tod lustiger...

Montag, 31. Januar 2011