Das andere Leben

Hans schloss die Türe ab. Und händigte den Schlüsselbund dem Portier aus.
«Ecco? das wars dann!»
Der Portier nickte. Gähnte. Und wandte sich wieder dem Fussballspiel am Fernseher zu.
Hans schaute nochmals in den Hinterhof mit der alten Wasseruhr und den verstaubten Palmen. Wie lange hatte er in dieser Wohnung gelebt? 30, 40 Jahre? Na ja? ein halbes Leben. SEIN ANDERES LEBEN.

Erschienen am: 
Montag, 21. November 2011

Chauvinist

Klar. Ich bin Partei. Voreingenommen. In meine Stadt verliebt.
Aber wenn ich sage, dass ich mich in keiner andern Stadt dieser Welt besser fühle als hier in Basel, weiss ich, wovon ich rede.
Ich habe als 20-Jähriger in Paris gewohnt. Und ich lebe heute die Hälfte des Jahres in Rom und Italien.

Dennoch: Basel bringts mir mehr. Und das hat nichts mit «chauvinistischem Geschrei» zu tun. Sondern ganz einfach mit Lebensqualität.

Erschienen am: 
Montag, 25. Juli 2005

Canzoni

Die Leute lachten. Redeten durcheinander. Drehten ihre Spaghetti auf die Gabel.
Es war ein warmer Römer Abend. Und man genoss es, im Freien zu essen.
Keiner beachtete den alten Mann, der an einer Mandoline herumfingerte. Und mit eher kläglichem Stimmmaterial das Lied der «Santa Lucia» anstimmte.

Erschienen am: 
Montag, 27. Mai 2013

Bunte Welt

Als Kind schon mochte ich Rosa.
ES WAR NICHT DIE FARBE, DIE SICH MEIN VATER FÜR SEINEN SOHN WÜNSCHTE.
In der Familienchronik steht, dass ich mich gegen einen senffarbigen Kinderwagen heiser geschrien hätte und erst zufrieden war, als man mich in etwas herumfuhr, das einer weissen Kutsche mit zarten Chiffon-Vorhängen ähnlich war.

Erschienen am: 
Montag, 17. Januar 2011

Brautkleid

Bräute sind weiss. Tüllig. Und meistens haben sie einen Blumenstrauss in den zarten Händen - einen zumeist länglichen Fetzen, der sich an jeder Beerdigung als Sargbouquet gut machen würde.

Die Männer neben den weissen Bräuten sind schwarz. Zumindest, was ihre Kluft betrifft. Wenn es hoch hergeht, sehen sie aus wie wienerische Droschkenkutscher oder dieser Diener, der am Silvester stets über das Eisbärenfell (oder ist es ein abgeschossener Löwe?) stolpert.

Erschienen am: 
Montag, 29. August 2005

Braune Augen

Es war in der zweiten Adventswoche.
Hildi hatte eben die Anisbrote aus dem Ofen gezogen. In der Wohnung schwebte ein Duft von Vorweihnachtsfreude. Hildi rieb sich die Hände: «Morgen kaufe ich Karl diesen beigen Kaschmirpullover.»
Es kam nicht mehr zum Kaschmirpullover.
An jenem Abend, als die Anisbrote auf dem Blech erkalteten und Hildi stolz die Füsschen, die dieses Mal so wunderbar aufgegangen waren, betrachtete, kam Karl nach Hause. Er tätschelte flüchtig seine Gattin. Und stellte die Kiste an.

Erschienen am: 
Montag, 20. Dezember 2010

Braune Augen

Als Susi den Mann sah, wusste sie: DEN ODER KEINEN!
Sie war bereit, für ihn alle ihre guten Vorsätze wie «NIE MEHR!» über Bord zu werfen.
Seine Augen hatten einen speziellen Glanz. Und Susi wurde schwach. Braune Augen hatten sie schon immer schachmatt gesetzt.
Sie war jetzt 46? und noch immer ohne feste Beziehung.

Erschienen am: 
Montag, 18. November 2013

Bouchés

Drei geschlagene Minuten lang stand ich vor dem Kiosk. Die Dame hinter all dem Glanz und Horror im Zeitschriftenformat musterte mich argwöhnisch. Sie vermutete Unschönes in dem, was sie sah. Jedenfalls hüstelte sie energisch - ABER ES NÜTZTE NICHTS. Mir fiel beim besten Willen nicht mehr ein, was ich hätte besorgen sollen... Tom, mein fitter Vetter hatte mich zum Einkaufen geschickt. Er radelt stundenlang auf seinem Hometrainer rum - aber 10 Meter Einkaufsweg sind ihm zu mühsam. Da schlappt er. Und delegiert sein Fitness-Programm.

Erschienen am: 
Montag, 26. September 2005

Böse Küsse

Das Kind schrie.
Das schreckliche, karpfenähnliche Gesicht mit den langen, gelben Zähnen und den stachligen Barthaaren kam näher. Und näher.
Fred brüllte. Rang nach Atem. Ja, seine Backen hatten bereits den Stich ins Bläuliche, als seine Mutter rief: «WAS SOLL DIESES GESCHREI? DARF DIR DENN DIE OMI NICHT EIN LIEBES KÜSSCHEN GEBEN?»

Erschienen am: 
Montag, 21. Mai 2012

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