Braune Augen

Es war in der zweiten Adventswoche.
Hildi hatte eben die Anisbrote aus dem Ofen gezogen. In der Wohnung schwebte ein Duft von Vorweihnachtsfreude. Hildi rieb sich die Hände: «Morgen kaufe ich Karl diesen beigen Kaschmirpullover.»
Es kam nicht mehr zum Kaschmirpullover.
An jenem Abend, als die Anisbrote auf dem Blech erkalteten und Hildi stolz die Füsschen, die dieses Mal so wunderbar aufgegangen waren, betrachtete, kam Karl nach Hause. Er tätschelte flüchtig seine Gattin. Und stellte die Kiste an.
Schliesslich drehte er sich zu seiner Gattin: «Biene? ich muss dir etwas sagen!»
Hildi fühlte auch nach 30 Jahren Ehe noch dieses leise Ziehen im Bauch, wenn Karl sie mit seinen braunen Augen ansah und «Biene» sagte. Gut. Früher war es «Bienchen». Oder auch «Mobbelchen».
Hildi holte in der Küche noch ein Tellerchen mit den Anisbroten. Dann setzte sie sich auf die Couch und plapperte drauflos: «Die Kinder werden dieses Jahr in Adelboden Weihnachten feiern? Hanspeter und Florence sind bei den Schwiegereltern... Wir beide sind am Heiligen Abend alleine...»
«Du bist alleine, Hildi... Ich bin bei Elke. Ich werde Elke heiraten...»
Das Erste, was Hildi dachte: «... ausgerechnet jetzt, wo mir die Anisbrot-Füsse so schön geraten sind!»
Das Zweite: «... ich werde das Fondue chinoise abbestellen müssen!» Und dann: «... das ist ein dummer Traum. Ich wache jetzt sofort auf!»
Sie erwachte nicht. Sie hörte, wie Karl den Koffer packte.
Zwei Tage lang hatte sie nur geweint. Sie rief ihre Kinder an? die zeigten sich nicht erstaunt: «... aber du kennst doch Papa. Sei froh, dass du ihn endlich los bist!» Dann etwas unwillig: «... wenn du willst, kannst du zu uns nach Adelboden kommen. Wir stellen ein Notbett auf!»
Hildi heulte noch mehr. Sie hatte noch nie auf einem Notbett genächtigt. «Danke», schnüffelte sie, «zieht es schon mal an...»
Klara, ihre beste Freundin, kam sofort ins Haus gestürmt: «Er hat doch nie die Finger von anderen Weibern lassen können!»
Gut. Ihr Karl war stets ein Schürzenjäger gewesen. Wer solche Augen hatte, jagte. Und irgendeine gute Freundin hatte ihr immer die neusten Affären hinterbracht. Meistens mit dem Ratschlag: «Lass ihn ziehen, Hildi. Er ist es nicht wert...»
Und Hildi hatte geschnüffelt: «... SEINE BRAUNEN AUGEN SIND ES!»
Natürlich war er immer zurückgekommen. Meistens zerknirscht? wie ein Fussballtrainer, der eine Niederlage kommentieren musste: «Es gab zu viele Unstimmigkeiten, Hildi... Sie hatte keine Geduld mit mir!»
Dann hatten die braunen Augen sanft gelächelt. «Mobbelchen? du bist die Beste!»
Zitternd vor Hingabe hatte sie ihm ein schwarzes Trüffelomelett gemixt.
In der dritten Adventswoche wartete Hildi vergeblich auf das Geräusch des Schlüssels in der Haustüre. Sie hatte vier Aktionspackungen Papiertaschentücher durchgeheult? die Anisbrote hatte sie ihrem Nachbarn auf die Matte gelegt. Hildi mochte keine Anisbrote.
In der Woche vor dem Heiligen Abend bombardierten sie alle Fernsehsender mit Weihnachtsgeschichten. Hildi zappte sich durch sämtliche Halleluja-Dramen der Filmwelt. Manchmal teilte Klärchen das Dramatische mit ihr.
Ein Veilchen. Es war am Heiligen Abend. In den Nachbarswohnungen eierten unmusikalische Stimmen durch «Stille Nacht» und «Oh Tannenbaum», als es klingelte.
Draussen stand ihr Nachbar Alex Vögtli. Er balancierte eine lackierte Ente auf einer Platte. Und strahlte sie an: «Ihre Anisbrote sind einfach der Hammer, Frau Zwicki. Ich habe eine chinesische Ente gebraten...» Dann hüstelte er etwas verlegen. «Ich habe gehört, dass Karl abgehauen ist...»
Hildi bat ihn herein.
Sie waren beide an der dritten Flasche Rotwein, als der Schlüssel sich in der Haustüre drehte.
DA STAND ER. Seine Augen stierten ungläubig auf die beiden Menschen, die Hand in Hand vor der Kiste hockten. Und gebannt auf Romy Schneider in diesem hellen, üppigen Kleid stierten...
«Ein herrlicher Rock, nicht wahr, Hildi?»? «Ja, Alex», hauchte sie. Dann schaute sie auf. Und blickte ihren Mann an. DIE BRAUNEN AUGEN FUNKELTEN NICHT. NEIN. DAS LINKE WAR GESCHWOLLEN. DAS RECHTE VEILCHENBLAU.
«Es gab Zoff...», sagte Karl nur knapp.
«Zieh Leine!!!», antwortete Hildi.
«Mobbelchen...», krächzte Karl verunsichert.
«Es hat sich ausgemobbelt, Karl...», meldete sich der Nachbar zu Wort.
Die Türe knallte.
«Ich werde dir jetzt ein Omelett mit Trüffel machen...», schaute Hildi verliebt auf ihren Nachbarn. In der Küche, als sie die Eier mixte, lächelte sie glücklich: «... ich werde ihm ein lila Seidenhemd kaufen! Das passt zu seinen wunderschön grünen Augen.» Dann rief sie ihre Kinder an: «Hallo, ihr Lieben? ihr könnt das Notbett abziehen!»

Montag, 20. Dezember 2010