Das Kind schrie.
Das schreckliche, karpfenähnliche Gesicht mit den langen, gelben Zähnen und den stachligen Barthaaren kam näher. Und näher.
Fred brüllte. Rang nach Atem. Ja, seine Backen hatten bereits den Stich ins Bläuliche, als seine Mutter rief: «WAS SOLL DIESES GESCHREI? DARF DIR DENN DIE OMI NICHT EIN LIEBES KÜSSCHEN GEBEN?»
Der Karpfenmund seiner Grossmutter sollte Freds Leben auf immer prägen. Als sie ihn mit ihren schrecklichen Barthaaren berührte, als ihre fleischige Zunge ihn abschlabberte, wie ein Softice, da fiel der kleine Junge in eine barmherzige Ohnmacht.
Als das Kind wieder zu sich kam, war es nicht mehr dasselbe. UND DER KÜSSENDEN WELT FÜR IMMER VERLOREN.
Fred baute auch beim Schmollmund von Dora die Krise. Das Doktorspiel brachte die beiden einander näher. Es war nicht so, dass Fred an den unteren Partien von Dorchen kein Interesse gezeigt hätte. DAS NICHT... Als sie ihn jedoch mit ihrem Schmollmund ansabbern wollte, da jagte er von ihr weg: «IGITTT! DU SAU!»
Fred kam in die Pubertät? und mit ihr kamen auch die Mädchen. Abgesehen von den in dieser schwierigen Knabenzeit üblichen Borbeln und Pickeln sah der Junge ganz nett aus. Entsprechend heiss war der Ansturm. Und «ja, ja? mein Alfred, das ist noch einer», gockelte der Vater stolz über seinen feurigen Junghahn.
WAR DANN ABER NICHTS MIT HEISSHAHN!
Alfred liebte es wohl, von den Mädels umhennt zu werden. Doch wenn eine in einer maiigen Vollmondnacht das Mündchen spitzte, da wurde es ihm speiübel. Eine eisige Panik überkam den Junghahn. Er sah die pelzige Zunge der Karpfen-Oma vor seiner Nase und meinte bereits ein erstes, kitzelndes Damenbarthaar zu fühlen.
«JETZT MUSS ICH ABER...» brach er jedes romantische Finale abrupt ab. Finale interruptus, quasi.
Es dauerte natürlich nicht lange, bis alle vom «rosigen Alfredo» rumtratschten. Aber Alfred war nicht schwul. JA HALLO: ganz im Gegenteil. Er verzehrte sich nach fraulicher Liebe, nach weiblichen Streicheleinheiten. Er wollte seine Arme um einen schönen Mädchenkörper legen, den Duft der Erregung und des Haarsprays einatmen? DOCH MIT ALL DEM SCHÖNEN WAR EBEN STETS AUCH DIESER BEBENDE KARPFENMUND EINPROGRAMMIERT. UND DAMIT DIE KATASTROPHE!
Mit Klara wurde es dann etwas Ernstes. Er wusste, dass er ohne sie nicht mehr leben konnte. Also dröhnte er sich in der Vollmondnacht mit Valium zu. Presste die Lippen fest zusammen. Und hielt mit Beben und Zittern der Zukünftigen zwei fleischliche Striche hin: «Willst Du meine Frau werden, Klara...?»
Es kam keine Antwort.
Nach einer Minute öffnete er verunsichert die Augen.
Klara sass neben ihm. Und weinte: «Ach Alfred... ich muss Dir etwas gestehen: MIT KÜSSEN LÄUFT NICHTS... als kleines Mädchen ist Onkel Ernest über mich gekommen... er wollte bei seinem Nichtlein nur ein Gutenachtküsschen platzieren...»
Nun heulte Klara richtig los: «ABER ALS ER DA AUSATMETE UND SEINE WULSTIGEN LIPPEN DIESE SCHRECKLICHE FAHNE NACH WEISSWEIN UND HEFESCHNAPS AUSSTIESSEN? DA SCHRIE ICH. UND SCHRIE. UND SCHRIE...»
Alfred führte Klaras Hand zu seinen Lippen: «Ach Liebling, wie gut ich dich verstehen kann...»
Es wurde eine gute Ehe.
Böse Küsse
Montag, 21. Mai 2012