Camping

Vor ein paar Tagen überkam mich die Aufräumwut.

Solche Ausbrüche sind eigentlich selten. Aber dieses Mal wühlte ich in alten Kisten, warf Tonnen von Liebesbriefen, porzellanigem Nippes und auch ein Dutzend Stofftierchen weg.
Mitten im Chaos stiess ich auf Filmspulen. Darauf vergilbte eine Klebeetikette mit der Handschrift meines Vaters: August 1958? Camping.
JAMMERTAL!
Schlagartig spulte der Film vor mir ab. Da musste keiner die Spule einlegen. Was die Welt vor einem halben Jahrhundert dem Kind angetan hat, hat auch den erwachsenen Mann geprägt: NIE MEHR CAMPING!
Mutter war von Anfang an dagegen. Aber sie kam gegen Vaters Euphorie nicht auf. Der hatte irgendwo ein altes Zelt erstehen können. In der Stube wuchtete er Heringe in die Philodendronstöcke, probierte das Vordach aus und trat konstant dem Hund auf den Schwanz.
«Hans? wir könnten doch in eine nette, kleine Pension?», versuchte es meine Mutter. Aber: «LOTTI? DAS WERDEN ABENTEUERFERIEN! Der Bub soll mal richtig die Natur erleben?»
Unnötig zu erwähnen, dass der Bub beim Anblick aufblasbarer Luftmatratzen, die ihm als Schlafstätte dienen sollten, den Rappel bekam. Klar. Das Fünf-Sterne-Hotel von dem das Kind immer träumte, lag bei 325 Franken Trämler-Lohn des Erzeugers nicht drin. Aber Mutters kleine Familienpension wäre schon ganz o.k. gewesen? ALLES WAR BESSER ALS DIESER MIEFENDE GUMMIGERUCH, DER AUS DEN SCHAUKELNDEN MATRATZEN STRÖMTE UND DAS DREIECK-FENSTERCHEN, WO DER REISSVERSCHLUSS IMMER KLEMMTE!
Vater hatte ein kleines Plätzchen bei Kandersteg ausgesucht. Lustig gurgelte die Kander vorbei? es war das einzig Lustige.
Als das Dreierzelt nach Stunden endlich stand, entdeckten wir den Ameisenhaufen gleich neben dem Eingang. Eine Armee der Tierchen hatte sich bereits über die Würste hergemacht, welche Vater im offenen Feuer «auf korsische Art» braten wollte. Ich weiss heute nicht mehr, was die korsische Art war. Tatsache ist, dass mein Vater alle seine Kochkünste mit diesem Prädikat aufmotzte: Rührei mit viel zu viel Cayenne-Pfeffer, eine Maggi-Beutel-Suppe, in die er ein Pfund Knoblauch schnippelte, Büchsen-Staldencreme, die er mit Orangenkonfitüre streckte? all dies war «korsische Art».
Parallel zur Anschaffung des Zelts kam auch der 08-Filmapparat. Mutter und Kind mussten Vaters Grosstaten Schritt für Schritt aufzeichnen. Die Filmerei war damals noch nicht so einfach wie heute? irgendwie hatte irgendwo immer ein Zeiger in der Mitte zu stehen. Und die Rollen spulten auch schneller als heute. Jedenfalls hat man später an den Filmabenden im Kreise der Familie immer nur einen hektisch winkenden Vater gesehen, dessen Lippen die Frage formten: «Ist der Zeiger in der Mitte?»
In der ersten Nacht machte ich kein Auge zu. Das hatte nichts mit der romantischen Aufregung oder der flachen Matratze zu tun, aus der schon nach einer viertel Stunde die Luft? pfffffft? wie ein sanfter Furz entwichen war. Nein. Vaters Geschnarche hat damals vermutlich ganz Kandersteg wachgehalten. Und das Einzige, was ihm dazu einfiel: «Ein schönes Bad im Bach, macht dich wieder wach!»
Schon surrte die Filmkamera. Und registrierte ein missmutiges Kind, das auf den glitschigen Flusssteinen ausrutschte. Nächste Szene: die liebende Mutter mit dem Verbandsmaterial und den stummklagenden Lippen: «Ich habs von Anfang an gesagt!»
Die gute Frau Zimmerli vom Religionsunterricht hatte mir beigebracht, in Stunden der Verzweiflung das Stossgebet himmelwärts zu richten. Ich flehte also, eine höhere Macht möge die Zelte abbrechen, die Luft für immer aus den Matratzen entweichen und einen reichen Mann mit Cadillac am Kanderflüsschen vorfahren lassen: «DA IST JA ENDLICH DAS KIND, DAS BEI SEINER GEBURT VERTAUSCHT WORDEN IST? KOMM HER MEIN JUNGE! DEIN WAHRES ZUHAUSE IST EIN SCHLOSS MIT CARAMELKÖPFLI ZUM DESSERT!»
So krass kams nicht? doch immerhin schickte ER ein Gewitter hienieder, welches das murmelnde Bächlein innert Minuten zum reissenden Strom anschwellen liess. Schon schwammen die Luftmatratzen in den Wellen. Ein Teil der Zeltblachen wurde von den Winden in Fetzen gerissen und Mutter konnte gerade noch geistesgegenwärtig den Filmapparat retten, als auch schon Gaskocher, Ersatzheringe sowie Vaters Maggi-Vorrat von der Natur weggetragen wurden.
Die letzte Szene des Camping-Films zeigt Mutter und mich beim Frühstücken auf der Terrasse der Pension «Blausee». Wir sehen beide sehr zufrieden aus. Und Mutters Lippen formen die Frage: «Ist der Zeiger in der Mitte?»

Montag, 14. Juli 2008