Bouchés

Drei geschlagene Minuten lang stand ich vor dem Kiosk. Die Dame hinter all dem Glanz und Horror im Zeitschriftenformat musterte mich argwöhnisch. Sie vermutete Unschönes in dem, was sie sah. Jedenfalls hüstelte sie energisch - ABER ES NÜTZTE NICHTS. Mir fiel beim besten Willen nicht mehr ein, was ich hätte besorgen sollen... Tom, mein fitter Vetter hatte mich zum Einkaufen geschickt. Er radelt stundenlang auf seinem Hometrainer rum - aber 10 Meter Einkaufsweg sind ihm zu mühsam. Da schlappt er. Und delegiert sein Fitness-Programm.

So fitte ich also eigenbeinig zum Kiosk. Und weiss nicht mehr, was ich holen sollte.

Meine Augen streifen die Schlagzeilen: «ADIEU BASEL - SAGT OSPEL». Und: «IST OSPEL DEM ROTEN BASEL NICHT GRÜN?» - «Was wollen Sie eigentlich!», bellt nun die Kioskfrau energisch. Da fiel mein erschrockener Blick gerade noch rechtzeitig auf dieses rote, funkelnde Viereck im Staniolmantel.

«Ein Caramel Bouché...», hüstelte ich. Und dies obwohl ich ganz genau wusste, dass mein fitter Vetter auf seinem Radelstuhl den Gong bekommt. Bei verzuckerten Kalorien jault er jedes Mal, wie wenn er in sportlicher Ekstase von den Pedalen rutscht und seine Extremitäten dumpf auf dem Sattel aufprallen.

Meine Gedanken verlassen nun Herrn Ospel, so wie er auch uns verlässt. Sie schwirren in diese wunderbaren Kindertage zurück, wo ich im Quartier sämtliche Milchkästlein nach roten Räpplern abgesucht und so Geld für die quadratische Herrlichkeit zusammengetragen habe. Es gab nichts Schöneres (na gut - ausser Heilig Abend, Fasnacht und Osterhasenohrenlutschen), als auf einem der hölzernen Parkbänklein der Oekolampad-Anlage zu hocken, durch die Äste in den Himmel zu stieren und mit der Zunge langsam den Schokoladenmantel des Bouchés aufzuweichen. In Staccato-Schlückchen rieselten die herrlich süssen Kakaotränen den Gaumen runter und mit energisch durchgezogenen Schlürfern wurde nun das goldbraune Caramel geschmeidig gekaut.

Gottlob sind damals kein Amerikaner oder eine Schweizer Gesundheitstante auf die Idee gekommen den Kindern diesen Appetit mit Aufdruck: «BOUCHéS SCHLOTZEN SCHADET DER GESUNDHEIT» zu verderben. DIE WELT HATTE DAMALS EBEN NOCH SÜSSE, SCHÖNE JAHRE.

All dieses Süsse flitzt mir nun durch den Kopf, während ich schlürfend den harten, innern Kern des Bouchés aufweiche und die Verkäuferin mit entsetztem Blick zusieht, wie vor lauter Gier der caramelbraune Speichel auf «FRAU MIT HERZ» tropft - OH GOTT! ES TRIFFT DEN WEISSEN HOCHZEITSROCK VON FRAU FELDBUSCH! AUSGERECHNET...

In diesem Moment spüre ich auch ein zartes Schaukeln des zweithintersten Zahns unten links. Und eh ich recht weiss, wie mir und meinem Stiftzahn geschieht, klebt letzterer in der süssen Masse. Hastig ziehe ich das Klebrige aus dem Mund, um zumindest die Krone zu retten. Dabei tropfe ich sinnigerweise auf die KRONEN-ZEITUNG mit der Titelgeschichte «WESHALB PRINZ CHARLES GANZ OHR IST».

Zu Hause habe ich Tom die beiden durchweichten Illus überreicht. Und zwei Caramel-Bouchés. «Was soll das?», keuchte er auf seinem bewegungslosen Fit-Stahlstuhl. «Ich habe gesagt, du sollst eine Packung Müesli-Riegel holen...» Zugegeben - Müesli-Riegel kauen sich leichter. Sind aber nur das halbe Glück.

Montag, 26. September 2005