Das andere Leben

Hans schloss die Türe ab. Und händigte den Schlüsselbund dem Portier aus.
«Ecco? das wars dann!»
Der Portier nickte. Gähnte. Und wandte sich wieder dem Fussballspiel am Fernseher zu.
Hans schaute nochmals in den Hinterhof mit der alten Wasseruhr und den verstaubten Palmen. Wie lange hatte er in dieser Wohnung gelebt? 30, 40 Jahre? Na ja? ein halbes Leben. SEIN ANDERES LEBEN.
Er war Journalist. Schrieb für diverse kleine Zeitungen. Und kam als 22-Jähriger erstmals in die Ewige Stadt. Man hatte ihn zu einer Mode-Reportage nach Capri geschickt. Auf dem Heimweg dann: Zwischenlandung in Rom. Flugzeug nach Zürich verpasst.
SCHICKSAL EBEN.
Am Informationsschalter buchten sie ihm ein Hotel im Centro. ES WAR DIE NACHT, IN DER ER SICH VERLIEBTE? in die Menschen hier. In dieses wundervolle, rotgoldene Licht der Laternen? ein Licht, das die Gassen in der Nacht in einen warmen Mantel hüllte.
Hans tauchte in all diese Bilder, die Fellini in seinen Römer-Szenen nie inszeniert hatte. Sondern die einfach da waren.
DAMALS ZUMINDEST.
Er beschloss, wiederzukommen. Buchte aus der Schweiz eine Sprachschule in Rom. Und pendelte zwischen Helvetien und dem Stiefel hin und her.
Zehn Jahre lang schrieb er kleine Geschichten des Römer Alltags? von den Leuten, die in den heissen Augustnächten ihre Tische auf die Strasse buckelten. Und zur Spaghettata am Tramgeleise riefen. Von den nächtlichen Kutschenfahrten für 2000 Lire zur Via Appia, wo die Huren hinter jahrtausendealten römischen Grabmälern für weitere 2000 Lire ihre üppigen Busen entblössten.
Hans seufzte. Das war das andere Leben? DAMALS.
Die Tramlinien sind jetzt verlegt. Die Huren auch? sie bieten sich über Internet an. Und wenn eine im Freien anschafft, ist es ein Transvestit. Und der Busen Baumwolle.
Noch immer fahren die Kutschen an die Appia antica. Jetzt mit Touristen aus Peking oder Tokio. Und zu einem Preis von 400 Euro. Busen non compreso.
«Was hast du in diesem Italien, was du hier nicht hast?», hatte sein Vater ihn vor dem kleinen Häuschen im Berner Oberland gefragt. Seit seiner Pension pendelte der Alte zwischen Basel und Adelboden: «Das sind auch zwei Welten, wenn man vor sich selber fliehen will... aber man kann diese Welten bequemer erreichen...»
Als Hans dann die Wohnung beim Pantheon nahm, wurde er mit den anderen Seiten des Landes konfrontiert. Keine Fellini-Bilder mehr. Sondern ein Beamtenapparat, der ihn wahnsinnig machte. So hatte er etwa vor 31 Jahren einen Telefonanschluss bestellt. Er kam. Aber auf einen anderen Namen. Er stand bis heute als «Luigi Cavalli» im Telefonbuch. Und hat diesen Cavalli nie gekannt.
Die Regierungen waren wie das Wetter? sie kamen und gingen. Viel Donner und Blitz. Die Italiener sahen nur den Sonnenschein. BIS ER KAM? und damit das Dauergewitter.
Hans beschloss, das zweite Leben aufzugeben. Er nickte dem Portier zu. Und liess sich auf den Flughafen fahren.
Als er drei Tage später die stillen Berge vor dem Haus, das sein Vater ihm hinterlassen hatte, betrachtete und die Abendsonne die ersten Schneeflächen in ein kitschiges Rosa verfärbte, da dachte er an die alten Gassen von Rom. Und das goldrote Laternen-Licht .
ER GING AN SEIN NOTEBOOK.
UND BUCHTE EINEN FLUG INS ANDERE LEBEN ZURÜCK.
Im Flugzeug las er, dass das Dauergewitter abziehen würde.
Im Telefonbuch figurierte Hans noch immer als Luigi Cavalli.

Montag, 21. November 2011