Eine etwas andere Weihnachtsgeschichte
Lukas sass vor dem Flügel.
Auf dem polierten Holz duftete die gelbe Rose in einer schlanken Murano-Vase. Draussen im Garten hatten sich die Krähen in der grossen Birke versammelt. Ihr Geschrei war verstummt. Alle warteten, dass etwas geschehen würde.
«Was muss ich tun, Beatrice?» – Lukas schaute seine Frau mit einem unruhigen, fast flehenden Blick an. «Ich weiss nicht, was ich hier soll…»
Die ältere Dame (mit den fein frisierten weissen Haaren) trug ein veilchenblaues Deuxpièces. Langsam ging sie auf Lukas zu. Streichelte seinen Kopf. Und hob den Deckel zur Tastatur: «Du spielst doch so schön, Lukas…»
Er lächelte sie an.
Seine weissen, dünnen Finger berührten die elfenbeinfarbenen Tasten. Drei schräge Töne klangen durch den grossen Salon. Wütend knallte Lukas den Deckel des Instruments zu: «Ich weiss einfach nicht mehr, was ich tun muss …»
Seine Frau nahm ihn in die Arme: «Es hat wunderbar getönt, Lukas…»
Dann weinte sie.
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Schon als kleines Kind hatte Lukas Klavier gespielt. Sein Vater, ein Musikprofessor, glaubte an ein «Wunderkind». Und liess ihn viermal wöchentlich von einem Klaviervirtuosen unterrichten.
Mit zehn Jahren kam der Kleine auf die Musikhochschule. Er beherrschte bereits Chopins Klavierkonzert in e-Moll.
Der Bub liebte die Romantiker. Er spielte auch Brahms perfekt.
Lukas war gut – aber nicht gut genug für die ganz grosse Karriere, von der sein Vater geträumt hatte.
Also wurde er einer der jüngsten Musiklehrer der Stadt.
An einem Konzert seiner Schüler lernte er Beatrice kennen. Sie hatte ihre Nichte begleitet.
«Spielen Sie auch ein Instrument …?», hatte Lukas die Konversation angefangen. Beatrice lachte: «Nur Blockflöte. Ich bin Kindergärtnerin. Und die Blockflöte gehört zu meinem Schulsack…»
Dann lachte sie wieder: «Also Triangel könnte ich vielleicht auch noch…»
Lukas war hingerissen von der jungen Frau. Von ihren strahlenden Augen. Von ihrem Lachen.
Er fragte nach ihrer Telefonnummer. Und lud sie vier Tage später in die Villa seiner Eltern ein.
Seit ihrem Tod lebte er alleine hier – inmitten eines grossen Parks. Inmitten von riesigen Bäume. Und inmitten einer Population von Krähen, deren irres Geschrei die Nachbarn madig machte.
Ihn störten die Vögel nicht. Er liebte dieses schräge Kreischen. Und versuchte, die Leute immer wieder auf die Schönheit dieses ganz speziellen Gesangs aufmerksam zu machen: «Krähen gehen unter Singvögel… sie sind äusserst musikalisch… und sie sind enorm gescheit. Im Übrigen haben sie ein Sozialverhalten, von dem der Mensch nur lernen kann …»
Die Leute schimpften ihn hinter seinem Rücken einen Spinner. Sie verlangten bei der Stadtgärtnerei, dass er in seinem Park die hohen Birken, auf denen sich die Krähen jeweils versammelten, fälle.
Natürlich weigerte sich Lukas. Sanft, wie es seine Art war. Aber bestimmt – wie er es auch draufhatte.
Die Stadtgärtner gaben ihm recht: «Solche alten Birken findet man nur noch selten in unserer Stadt – die bleiben!»
Als er Beatrice damals zum ersten Mal in den grossen Salon führte, gaben die Krähen ein Konzert aller Superlative. Die junge Frau schaute durch das grosse Fenster in den Garten: «Der Park ist wunderschön – aber diese Vögel sind unheimlich… sie machen mir Angst.»
«Passen Sie auf!» – Lukas setzte sich ans Klavier. Und spielte einen Akkord.
Sofort verstummten die Vögel. Ihre Köpfe schauten gespannt auf die Villa.
«Sie lieben mein Klavierspiel», lächelte Lukas. «Und sie sind mir dankbar, dass ich ihnen ihr Heim gerettet habe…»
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Es wurde eine gute Ehe. Da war wohl der Wunsch nach Kindern. Aber es sollte nicht sein. Und sie fanden sich damit ab – «wir haben einander … das ist auch wunderbar», flüsterte Lukas manchmal. Dann setzte er sich an die elfenbeinfarbenen Tasten. Und spielte für Beatrice. Und die Krähen.
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Die Veränderung begann nach der goldenen Hochzeit.
Wie immer im Advent backten die beiden «ihre» Vanillekipferl. Sie verzichteten auf anderes Weihnachtsgebäck – aber Vanillekipferl waren Tradition.
Schon im ersten Jahr ihrer Ehe hatte Beatrice eine Woche vor dem grossen Fest in der Küche die Schüsseln bereitgestellt: «Ich kann nur winzig kleine Kipferl im Vanillemantel, Lukas. Meine Grossmutter war aus Wien. Als Kinder schon durften wir mit ihr zusammen zur Adventszeit in der Küche stehen. Es gehörte einfach zur Vorfreude, dass wir ihr beim Backen halfen. Dabei war es wichtig, dass die Kipferl nicht grösser als ein Daumennagel geformt wurden. So war es in unserer Familie immer Sitte… klein, aber fein.»
Sie liess wieder ihr helles, perlendes Lachen tönen: «Für mich war dann wirklich Weihnachten, Lukas!»
Lukas stand bei der ersten Backerei daneben. Und half, den weichen Teig in Miniaturkipferl zu formen. Dabei kamen ihm seine schlanken, flinken Finger zugute. «Du kannst das besser als ich…», strahlte Beatrice.
Und Lukas seufzte: «Bei uns gabs keine Backnachmittage im Advent… keinen Weihnachtszauber… nur Musizieren am Heiligen Abend. Aber keinen Baum. Keine Kerzen. Keine Kugeln. Nichts. Mein Vater glaubte nicht an Weihnachten. Er glaubte nur an die Musik…»
Die Adventsbackerei wurde ein wichtiger Teil im Jahresrhythmus. Lukas freute sich wie ein Kind darauf. Und wenn dann der Duft der frisch gebackenen Kipferl durchs Haus strömte, nahm er seine Frau in die Arme: «DAS IST WEIHNACHTEN, BEATRICE…»
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Es kam der Tag, als Lukas verwirrt vor den Schüsseln stand. Und alles anders wurde. Immer wieder schüttete er Mehl zur Butter. Beatrice blickte verwundert zu ihrem Mann:
«Das ist doch viel zu viel, Lukas!»
Der schaute abwesend von der Schüssel hoch: «Zu viel wofür! Was muss ich machen, Beatrice…?»
Er blickte lange über den Tisch. Dann rief er genervt: «Wo sind wir hier eigentlich?»
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Zwei Tage später ging Beatrice mit Lukas zum Arzt. Der schickte sie zur Abklärung in die Memory-Klinik. Dort wurde ihr mitgeteilt, dass die Krankheit schon stark fortgeschritten sei.
«Es wartet eine schwere Aufgabe auf Sie…», meinte die Ärztin. «…Sie sind seine einzige Bezugsperson. Das ist eine immense Belastung. Sie sollten sich aber nicht scheuen, die Verantwortung abzugeben, wenn es Ihnen zu viel wird. Sie müssen auch an sich denken. Es gibt betreute Heime und…»
«Kommt nicht infrage!», sagte Beatrice. «Wir sind ein Leben lang zusammen. Unzertrennlich. Ich lasse meinen Mann jetzt sicher nicht im Stich…»
Die Ärztin lächelte: «Ich verstehe Sie gut – aber Sie sollen einfach wissen, dass wir immer da sind, falls alles Ihre Kräfte übersteigt…»
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Es wurde eine schwierige Zeit. Zuerst erkannte Lukas seine Freunde nicht mehr mit Namen: «Wer bist du …? Ich kenne dich … aber ich weiss nicht, wer du bist…»
Beatrice musste ihm beim Anziehen helfen, beim Waschen.
Längst besuchten sie kein Theater, kein Konzert mehr. Die Zahl der wenigen Freunde, die sie hatten, nahm ab. Hin und wieder riefen sie Beatrice an: «Wie geht es ihm … vielleicht solltest du doch an ein Heim denken und…»
«NEIN», sagte Beatrice schroff. Und hängte auf.
Niemand hatte sie je gefragt: Wie geht es d i r?
Seltsamerweise schenkten die Krähen Beatrice nun Trost. Ihr Schreien hatte etwas Vertrautes. Das laute Kreischen brachte ihr die Normalität des Alltags zurück.
Wenn sie mit Lukas im Park spazierte und die Vögel in den Birkenästen hysterisch krähten, schaute der nach oben: «Musik…» – lächelte er dann.
«Ja, Musik», flüsterte Beatrice. Und drückte ihren Mann an sich.
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In den folgenden Monaten war es Beatrice, als wäre Lukas ein Baumstamm, der auf dem Meer davonschwimmt. Immer weiter trieb er vom Festland weg – weg von ihr. Weg vom Leben. Weg – in eine andere Welt.
Eines Tages, als sie ihm den Kaffee ins Schlafzimmer brachte, funkelte er sie böse an: «Wer sind Sie – gehen Sie weg!»
Beatrice sprach behutsam auf ihn ein. Er schmiss die Kaffeetasse auf den Boden.Und beruhigte sich nur langsam.
Aber Beatrice gab nicht auf. Da war nun das Kind, das sie immer haben wollte. Sie war Mutter und Ehefrau zugleich.
Als es Advent wurde, verteilte sie wieder die Schüsseln auf dem Tisch. Und mengte das Mehl mit der Butter.
Lukas stand daneben. Er schaute zum Fenster – weg in die Weite. Draussen schrien die Krähen.
Beatrice schob eine CD mit Chopins Klavierkonzert in den Recorder. Und die Vögel verstummten.
Bald schon verbreitete sich wieder der Duft von Vanillekipferln durch das Haus. Als Beatrice die Schüsseln abwaschen wollte, schauten sie die Augen von Lukas plötzlich warm an: «DAS IST WEIHNACHTEN, BEATRICE…»
Es war einer dieser wenigen Momente, für die Beatrice durchhielt …
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Der Tod war barmherzig. Er kam noch vor Weihnachten. Als Beatrice ihren Mann wecken wollte, lag er mit einem Lächeln neben ihr. Regungslos. Er war für immer am Horizont des Weltmeeres verschwunden.
Der Pfarrer predigte von der «Erlösung». Und dass Gott immer seine Gründe habe…
Beatrice sass alleine in der ersten Reihe. Sie überlegte, wie es nun weitergehen sollte. Weg vom Fest? Weg aus dem grossen Haus, das ihr nun fast unheimlich wurde. Weg zu einer entfernten Cousine nach Salzburg?
Das Brausen der Orgel riss sie aus allen Gedanken.
«Gehet hin mit Gott», sagte der Pfarrer.
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Es war Heiligabend. Beatrice hatte noch immer keine Zukunftspläne gefasst. Sie wollte sich Zeit lassen – wollte das Schicksal entscheiden lassen.
Natürlich fühlte sie sich alleine in all den grossen Zimmern. Selbst der Park strahlte jetzt in seinem kargen Winterkleid etwas Düsteres aus.
Am Tag, als die Bestatter Lukas abholten, merkte sie es zum ersten Mal: diese tödliche Ruhe.
Sie schaute aus dem Fenster: Alle Krähen waren verschwunden. Die Bäume standen leer da – ohne Laub. Schwarz. Wie Totenbäume.
Die Stille ohne das Krähengeschrei hatte etwas Bleiernes.
Sie ging zum Friedhof. Lukas ruhte im Familiengrab. Beatrice hasste Familiengruften. Aber es war die einfachste Lösung gewesen.
Sie hatte drei gelbe Rosen besorgt – die Lieblingsblumen von Lukas.
«Ich hoffe, dir geht es jetzt besser als mir…», sagte sie leise. Und trat einen Schritt zurück.
In diesem Moment stieg eine schwarze Wolke über ihr auf. Dutzende von Krähen flogen kreischend um sie.
Sie drehten eine Runde. Und setzten sich auf einen benachbarten Baum.
Beatrice spürte, wie ihr die Tränen aufstiegen: «H i e r seid ihr gewesen… ich habe euch vermisst!», flüsterte sie. «Ohne euch und Lukas ist es kein Leben mehr…»
Zu Hause packte sie den Koffer: weg. Einfach weg. Sie wusste nicht wohin – aber hier konnte sie nicht mehr sein. Dieses einsame Haus brachte sie um.
Als sie den Kofferdeckel schloss, hörte sie ein lautes Geschrei.
Sie ging zum Fenster. Und dann sah sie es: Alle Bäume hingen voll mit Krähen. Sie gaben ihr ein Konzert, wie es eben nur Krähen können.
Beatrice blieb fünf Minuten einfach nur stehen.
Auf einmal fühlte sie sich wohl – fast ein bisschen glücklich.
Sie ging ins Schlafzimmer zurück. Und packte den Koffer wieder aus.
Die Krähen schrien noch immer, als sie die CD mit Brahms’ Klavierkonzert einschob.
Schon beim ersten Ton verstummten die Vögel. Man hörte nun nur noch das Klavierspiel.
Und von ferne die Kirchenglocken, welche den Heiligen Abend einläuteten.
Beatrice schaute zum Flügel.
Sie lächelte erstmals wieder nach langer Zeit: «DAS IST WEIHNACHTEN, LUKAS!»