Die Nacht war klirrend kalt. Eisig. Niggi stampfte durch den Schnee in den Wald. An einem Seil führte er Klara mit sich – Klara, das Kalb, das anfangs Jahr zum Metzger geführt werden sollte. «Im Wald wartet das Christkind auf uns …», redete Niggi auf Klara ein.
Das Kalb schien nicht sehr beeindruckt. Es schniefte kleine Wölkchen von sich und blinzelte verärgert, weil es von diesem kleinen Bub aus dem warmen Stall geholt worden war.
«…und in der Heiligen Nacht spricht das Christkind im Wald zu den Tieren. Es hilft ihnen allen.» Dem Kalb wäre eine Extra-Portion Milch lieber gewesen.
Als im Stall des Sonnenhof-Göpfi die kleine Klara geboren wurde, durfte Niggi anpacken. Und später das Frischgeborene waschen. Das Kälbchen begann an seinen Fingern zu lutschen. Und Niggi spürte eine unglaubliche Wärme in sich aufsteigen, etwas, das er bis anhin nicht gekannt hatte. Er war Einzelkind – Sohn des Dachdeckers Walter Stucki. Mit seiner Familie lebte er in einem kleinen Oberländer Ort. Zur Winterszeit half der Vater mitunter am Skilift aus. Aber seit einigen Jahren blieb der grosse Schnee weg. Und somit auch der Winterlohn.
Niggis Mutter Elise arbeitete in der Dorfbäckerei. Ihr Lohn brachte die Familie knapp über die Runden. In den wenigen freien Stunden putzte sie die Chalets, wo die Feriengäste wie Fliegenschwärme auf Weihnachten anstürmten.
Viel Zeit für den Sohn blieb den Eltern kaum. Es blieb überhaupt kaum Zeit für einander. Die Alten redeten selten. Seit Niggis kleine Schwester als dreijähriges Mädchen an einem Virus hatte sterben müssen, hing eine dunkle Trauer über dem Haus – eine Stille, der Niggi zu entfliehen suchte. Und deshalb jeden Tag im Stall des Sonnenhof-Bauern anzutreffen war. Zwar redete Gottfried, den die Dörf-ler «s Göpfi» nannten, auch kaum ein Wort. Aber da waren alle die Tiere, denen Niggi Namen gegeben hatte. Pelzige Knuddelwesen, die er streicheln konnte. Und die ihm diese Wärme schenkten, welche er sonst nirgends bekam.
«Komm», rief Niggi nun Klara zu, «das Christkind wartet…» Das Kalb schaute genervt himmelwärts – mit diesem langen Blick, den auf dieser Welt eben nur Kühe mitbekommen.
«Ja heitere Fahne!», knurrte Göpfi. Er stand vor der offenen Stalltüre. Und er sah die Bescherung sofort: Klara war weg!
Nun gut, Göpfi konnte nichts so schnell erschüttern. Manchmal trank er allerdings zwei, drei Bätziwasser über den Durst. Seit Rösi, seine Frau, gestorben war, kam dies öfters vor. Und wenn er zu viel Hochprozentiges intus hatte, konnte es schon mal vorkommen, dass er die Beherrschung verlor. Wie damals im «Bären». Ein besoffener Amerikaner hatte ihn angemacht. Der Texaner versuchte Göpfi das Wollkäppchen vom Kopf zu reissen. Aber das Käppchen hatte ihm Rösi als Letztes gestrickt. Deshalb hatte der Sonnenhof-Bauer sofort rot gesehen – und den Amerikaner geschüttelt, bis dieser blau anlief. Schliesslich gab er ihm einen sanften Schwingerstoss. Und dieses amerikanische Weichei fiel doch tatsächlich wie ein gefällter Baum vom Barhocker. Göpfi legte daraufhin eine Zwanzigernote auf die Theke. Und verliess den «Bären».
Eine Woche später rief ihn Pierens Ernstli an. «Ich wollte dir nur sagen – der Texaner hat eine Anzeige wegen Körperverletzung gemacht!» «Leck mich doch!», brüllte Göpfi den Dorfpolizisten an. Und war seither nie mehr im Dorf gesehen worden.
Der Sonnenhof-Bauer also mochte den kleinen Buben der Stuckis. Er war erstaunt, wie dieser bei den Tieren gut zupacken konnte. Ein einziges Mal nur hatte Göpfi dem Jungen zeigen müssen, wie man die Melkmaschine ansetzt – der hatte das sogleich drauf und begriffen. Als das Kälbchen auf die Welt kam, durfte Niggi bei der Geburt mithelfen – «Klara» hatte er es getauft. Und als Göpfi dem Jungen fünf Monate später erklärte, Klara sei im Januar reif für den Metzger, da hatte dieser ihn nur stumm angeschaut. Doch Göpfi würde diese anklagenden, schreienden Augen nie vergessen.
Der Mond schien nun hell durch die Christnacht. Er warf sein milchiges Licht auf den wenigen Schnee, den der Heilige Abend den Menschen geschenkt hatte. «Heitere Fahne», knurrte Göpfi erneut. Er sah die Spuren auf dem Weg zum Wald – Bubenschritte im weissen Pulver. Und daneben die vier Abdrücke von Klara. «Jetzt hol mich aber der Teufel!», schüttelte der Sonnenhof-Bauer seinen Kopf. Ging ins Haus. Und kam mit zwei Wolldecken zurück. Dann schaute er zu den Sternen: «Ich weiss, dass ich nicht fluchen soll, Rösi – aber du wirst bei denen da oben ein gutes Wort für mich einlegen…» Göpfi spürte, wie ihm die Tränen hochstiegen. Und stampfte in die Heilige Nacht.
Bei Stuckis duftete es köstlich nach Schinken im Teig. Elise hatte den Baum geschmückt. Sie tat es für den Jungen. Seit ihr Töchterchen von dieser Welt hatte gehen müssen, war alles in ihr mitgestorben. Auch die Weihnachtsfreude.
Walter kam mit einem Holzstück in der Hand in die Stube. Eine Kuh, die er für Niggi geschnitzt hatte. «Kannst du mir die einpacken?», fragte er seine Frau. Sie nahm das geschnitzte Tier. Und nickte anerkennend: «Schön Walti – du müsstest mehr schnitzen!» Dann war für eine Zeit lang wieder alles gesagt.
Schliesslich unterbrach Walter die Stille: «Wo ist eigentlich der Junge? Wir sollten nicht zu spät essen, wenn wir dann noch die Kerzen am Baum anzünden wollen…»
Drei Minuten später war es vorbei mit der Stille. Die beiden hasteten durch das Haus. Gingen nach draussen. Und riefen immer wieder Niggis Namen. «Er ist weg», flüsterte Elise. Und begann zu zittern: «Gott im Himmel – nimm uns nicht auch noch dieses Kind!» Schliesslich schrie sie laut auf. Ihr Mann nahm sie in die Arme. «Lisi … bitte, Lisi … beruhige dich … ich bin ja hier… Niggi kommt bald wieder… es wird sich alles finden.» Er streichelte ihren Rücken. Er nahm sie in die Arme – etwas, das er seit Jahren nicht mehr gemacht hatte. Ihre Tränen rollten über seine Wangen. «Es wird gut… Lisi… Es wird alles gut.»
Eine halbe Stunde später rief Walti den Dorfpolizisten an: «Der Junge ist weg!»
Seit zwei Stunden stapften Niggi und Klara bereits durch den Wald. Das Kalb hatte endgültig genug. Und blieb stur stehen – so stur wie eben nur Kälber stehen bleiben. Niggi suchte nach dem Licht. In seinem Buch mit den Weihnachtsgeschichten stand, dass das Christkind den Tieren als Licht erscheinen würde. Und jeder der Vögel oder Vierbeiner dürfe einen Wunsch aussprechen. Das Kalb hatte nur einen Wunsch: zurück in den warmen Stall. Niggi redete dem Tier gut zu: «Nur noch ein paar Schritte … Sicherlich taucht das Christkind bald mit dem Lichterstrahl auf … Du willst doch nicht zum Metzger, Klara…?!»
Und dann sah der Junge plötzlich, wie eine Lichtkugel ganz langsam auf ihn und Klara zukam … «Da ist es», flüsterte Niggi aufgeregt zum Kalb, «bitte das Christkind jetzt darum, beim Sonnenhof-Bauer bleiben zu dürfen und …» Klara sperrte den Mund auf. Sagte nichts. Und gähnte.
«Ja gehts euch beiden eigentlich noch…?», tobte eine Stimme. Es war Göpfi. Und die Stimme des Sonnenhof-Bauern kippte in ein Schluchzen.
«Pssst – wir warten aufs Christkind, damit Klara nicht zum Metzger muss…», flüsterte Niggi. Der Bauer zupfte ein feuerrotes Taschentuch aus seinem Hosensack. Schneuzte sich fest hinein. Und antwortete dann heiser: «Die Klara muss überhaupt nicht zum Metzger… Sie bleibt auf dem Hof. Ich habe soeben mit dem Christkind gesprochen … Du wirst aber für die kleine Kuh sorgen müssen, Niggi, und…» Göpfi warf eine Wolldecke über den Jungen. Die zweite über Klara: «…und jetzt machen wir uns schleunigst auf den Rückweg. Deine Alten werden sich verdammt sorgen, Junge.» Bei «verdammt» zuckte Göpfi leicht zusammen. Schaute zum Himmel mit all den glitzernden Sternen: «Tut mir leid, Rösi – soll nicht mehr vorkommen. Ich sollte ja unserm künftigen Jungbauern ein Vorbild sein.» Und dann schüttelte Göpfi den Kopf: «Nein, das kann ja nicht sein.» Denn für einen kurzen Augenblick war es Göpfi gewesen, als hätte ihm das Kalb an seiner Seite zugeblinzelt…
Die fünf Personen sassen am Tisch. In der Ecke funkelten die Kerzen der kleinen Christtanne. Und Elise schleppte ein Tablett mit Anisbroten, Läckerli und Mailänderli an: «Die hat mir die Bäckersfrau mitgegeben – und eine Rüeblitorte!» Der Dorfpolizist hatte bereits drei Mal vom Schinken geschöpft – und äugte nun zum Sonnenhof-Göpfi: «Weshalb bist du nie mehr ins Dorf gekommen? Und warum sieht man dich im ‹Bären› nicht mehr?» Der Göpfi schüttelte unwillig den Kopf: «Ach, da ist doch noch diese Anzeige von jenem Scheiss-Texaner… Da wollte ich mich eben rarmachen…» Der Polizist grinste: «Du hast Schiss. Das soll dir für dein ungestümes Temperament und die Sauferei eine Lehre sein. Weil heute aber Weihnachten ist, kann ich dir mitteilen, dass das Christkind die Anzeige damals gleich in den Papierkorb geworfen hat…»
Mittlerweile hatte Niggi die Holzkuh seines Vaters ausgepackt. Er betrachtete sie stumm: «Oooohhh – die ist ja wunderschön. So schön wird einmal meine Klara!» Schliesslich nahm der Vater den Sohn in den Arm: «Und jetzt erzähl mir mal, wie du dazu gekommen bist, mit einem Kalb auszubüxen…» Niggi schaute mit seinen klaren Bubenaugen jeden an: «Ihr wisst doch, dass das Christkind in der Heiligen Nacht auf Erden kommt, um mit allen Menschen und Tieren zu reden. Und da kann dann auch mal ein Wunder geschehen.» Da lächelten alle schweigend vor sich hin. Und spürten, dass jedem von ihnen so ein Wunder passiert war.
Im Stall aber war Klara froh, dass es endlich seine Kälberbeine ausruhen konnte.
Als das grosse Licht erschien, seufzte es: «Hallo Christkind – das haben wir ja alles bestens auf die Reihe gekriegt. Aber schau doch, dass ich bei deinen nächsten Wundern nicht wieder stundenlang in der Kälte herumlaufen muss.»
Das Christkind lachte hell auf: «Für Wunder muss man sich eben schon auch mal strecken, liebe Klara – bist du zufrieden mit deinem Bauern?» Das Kalb gähnte: «Ja klar, aber Niggi als Jungbauer wird noch besser.» Dann blinzelte das Kalb: «Schön, dass es den Stuckis wieder gut geht. Danke, Christkind!»
«Schöne Weihnacht», sagte das Licht.
Aber da war Klara auch schon fest eingeschlafen.
Die Geschichte ist Teil des soeben erschienenen Buches «Schüfeli auf Bohnen – Neue Weihnachtsgeschichten von -minu.» Im Handel für Fr. 26.30