D Kischtlibuebe – und ihre ganz spezielle Fasnacht

E Fasnacht fir dr Ärnscht. Zeichnung von Louis Moor (1893–1957) um 1930.

Die Fasnacht lag in ihren letzten Zügen. Noch einmal schränzten die Guggen in Vollformation durch die Gassen. Die Laternenlichter der grossen Cliquen flammten in die dunkle Nacht. In jedem Marsch hörte man jetzt die Traurigkeit des Vergänglichen. Den Abschied. Den leisen Tod.

Es war, als würde sich die Fasnacht wie ein Todgeweihter zum letzten Mal aufbäumen. Um dann ins Kissen der ewigen Ruhe zurückzusinken.

Gespenstisch schauten die toten Larvengesichter in die Nacht – die Gedanken hinter den starren Köpfen waren grau wie der Tag, der bald anbrechen würde. Und der das Ende bedeutete.

Jeder war in seinen eigenen Gedanken verhangen. Kaum einer beachtete die vier alten Männer in ihren Waggis- Blousen.

Sie hielten sich beim Kleinbasler Ufer am eisernen Geländer fest. In ­winzigen Schritten schlurbten sie den Rheinweg entlang. Und legten alle fünf Meter einen Atemhalt ein.

Zwei der Greise trugen einen hölzernen Gegenstand mit sich. Ein langes Kistchen? Ein hölzernes Fähriboot? Oder einen Sarg? Man konnte es nicht genau erkennen. Egal. Denn das Objekt war nur die Hülle der Geschichte – einer Geschichte, die vor mehr als einem halben Jahrhundert begonnen hatte. Damals, als die vier Kischtli­buebe ihr Requisit erstmals zum Rhein getragen hatten.

Sie waren «Waisebuebe» – so hiess das zu jener Zeit. Als «Kleinfamilie» wuchsen sie im «Kischtli», dem damaligen Waisenhaus der Stadt, auf.

Der Waisenvater, ein herzensguter Mann, kümmerte sich um die zumeist elternlosen Kinder besser als so mancher Familienvater.

Sie hatten hier hinter den alten Klostermauern eine gute Kindheit. Fröhlich. Den Kleinen fehlte es an nichts. Und wenn Ernst, der sensibelste in der Fünfergruppen mitunter in eine Ecke stierte und seinen schwarzen Gedanken nachhing, holten ihn seine Gruppenfreunde Lukas oder Willy mit ihrer ansteckenden Fröhlichkeit aus dem dunklen Seelenloch zurück.

Hans und Alex – die beiden anderen der Gruppe – warteten auf dem Platz vor der Theodorskirche. Sie spielten nun Fussball. Oder kauerten vor der kleinen Dohle, um eine heisse Gluggerpartie hinzulegen.

Die fünf Binggis waren unzertrennlich – vielleicht noch fester untereinander verbunden als fünf leibliche Brüder.

Als Siebenjährige schickte sie der Waisenvater dann bei der J.B. Santihans in die erste Trommelstunde. Ernst aber lernte Piccolo.

Die bevorstehende Fasnacht wurde der grosse Höhepunkt für die ganze Bande. Und obwohl sie erst im Vortrab mitmarschieren durften, sprachen sie von nichts anderem mehr als von ihrem eigenen «Zügli», das sie am Kinder-Zyschtig nur für sich alleine auf die Beine stellen wollten: d Kischtlibuebe.

Es sollte die erste Fasnacht nach dem Krieg werden. «Ändlig isch s so wyt!» – jubelte die Blaggedde 1946.

Bereits im Dezember bastelten die Buben an ihrem J.B.-Cliquenrequisit herum: e Fähri. Sie wollten mit dem Sujet die «Fähritaufi» aufs Korn nehmen. Vor zwei Jahren war die nämlich während des Kriegs mit allem Pomp durchgeführt worden. Am grossen Fest hatten die drei beliebtesten Basler Rheinboote ihre offiziellen Namen erhalten.

Es war dann auch an einem der ersten Dezembertage – die Buben kamen eben von ihrer Requisitenbastelei aus dem Cliquenlokal in ihre Stube zurück –, als der Waisen­vater mit einem elegant gekleideten Mann ihre Schlafstube betrat: «Ernst – ich habe eine Überraschung für dich. Das ist dein Onkel Jack aus Amerika.»

Später, beim Nachtessen, fehlte Ernst am Tisch. Sie suchten ihn im ­ganzen Haus. Umsonst.

«Ich hole ihn», flüsterte Alex den anderen Buben zu. Dann ging er ans Kleinbasler Rheinbord. Von Weitem schon sah er den roten Pullover. Und Ernst, wie er aufs Wasser stierte. Er hatte die Arme um seinen Oberkörper geschlungen. Und wiegte sich langsam hin und her.

Alex setzte sich neben ihn. Sie schwiegen beide. Schliesslich schaute Ernst auf: «Er will mich nach Amerika mitnehmen, nach Boston.»

Wieder schwiegen sie lange. Plötzlich schluchzte Ernst wild auf: «Ich will nicht weg; ich bin hier daheim. Ich will bei euch sein. Ihr seid meine Familie, nicht dieser Onkel Jack, der mir einmal im Jahr eine Karte schickt.»

Schliesslich wimmerte er nur noch leise: «… und ich will an der Fasnacht mit euch sein, einer der Kischtlibuebe; ich gehöre doch zu euch wie der Rhein hier und …»

Alex nahm ihn am Arm. «Komm – es wird schon eine Lösung geben!»

Nach acht Tagen schon reiste Ernst mit seinem Onkel ab. Die Schiffspassage war gebucht. Stumm hatten die Buben den Freund umarmt.

«Denkt an der Fasnacht an mich», hatte er geflüstert.

«Ohne dich machen wir kein Zyschtigs-Zügli», hatten sie ihm geschworen.

Und so kam es, dass die erste Fasnacht nach dem Krieg ohne d Kischtlibuebe durch die Gassen zog.

Sie schrieben einander Briefe. Die «Kischtlibuebe» erzählten, was sich am Rhein alles so tat. Ernsts Briefe aber waren kurzatmig. Und verzweifelt: «Ich fühle mich in dieser Stadt so verloren; der Rhein fehlt mir – ich möchte wieder zum Fluss!»

Plötzlich kam keine Antwort mehr aus Boston. Und eines Tages rief der Waisenvater die Gruppe zusammen: «Ich muss euch etwas Trauriges mit­teilen – Ernst ist gestorben. Man weiss nicht, was es war; es ist ein trauriges Rätsel und …»

Die Gruppe schaute den Waisen­vater an. Die Köpfe der Buben waren kalkweiss.

«Wo ist er?»

«Er wird kremiert. Und kommt in Boston auf den Friedhof.»

«Das geht nicht!», schrie Alex nun verzweifelt auf. «Er kann nicht dort begraben werden. Er wollte bei uns sein, wollte immer zurück an den Rhein.»

Der Waisenvater nickte leise: «Ich weiss. Ich werde schauen, was sich machen lässt; das verspreche ich euch. Ich tu es für euch. Und ich tu es für Ernst. Ihr habt mein Wort.»

Das Prozedere war mühsam. Amt­liche Epistel jagten zwischen Basel und Boston hin und her.

Schliesslich wurde gar der diplomatische Dienst eingeschaltet. Und mittlerweile war mehr als ein Jahr ins Land gezogen, seit Ernst seine Freunde zum Abschied umarmt hatte.

Drei Wochen vor der Fasnacht rief der Waisenvater die Buben in sein Büro. Auf dem Pult stand ein rötliches Gefäss – eine tönerne Urne.

«Ernst ist jetzt bei uns», eröffnete der Waisenvater etwas hilflos das Gespräch. «Ich habe alle Hebel in Bewegung gesetzt – das war ich euch und Ernst schuldig. Wir werden ihn im Grab der Gemeinsamen beisetzen.»

Die Buben schauten einander stumm an.

Dann meldete sich Alex. «Ich glaube nicht, dass Ernst so etwas möchte; wir haben uns eine anderen Weg ausgedacht – etwas, das ganz im Sinne von unserem Bruder wäre.»

Der Waisenvater lächelte: «Euer Bruder? Das habt ihr schön gesagt. Was ist der Plan?»

Die vier erzählten es ihm. Und er seufzte: «Dann werde ich eine zweite Urne besorgen müssen – und euch um eines bitten: Dieses Gespräch hat nie stattgefunden.»

*

Es wäre ihre erste Fasnacht als Tambouren in der Jungen Garde gewesen – aber der Waisenvater schrieb für alle vier der J.B. Santihans einen Austrittsbrief: «Persönliche Gründe».

«Wir bauen die J.B.-Requisiten-­ Kiste vom letzten Jahr nochmals nach», hatte Alex den andern erklärt. «Alles für Ernst. Und alles soll so sein, wie wir es geplant haben. Dann holen wir die verpasste Fasnacht nach.»

Er schwieg einen kurzen Moment: «... und dieses Mal ist Ernst bei uns!»

Das kleine Grüpplein ging am Morgestraich jener Fasnacht 1947 unter. Einige Leute schauten kurz hin. Und schüttelten dann etwas missbilligend den Kopf: «Vier stumme Waggis ohne Trommler und Pfeifer? Was bedeutete das?»

Sie wussten auch nicht, was diese Kiste, die wie ein Sarg oder ein Fährschiff aussah, hier sollte? Das Ganze war einfach nur traurig. Doch schliesslich war die Fasnacht etwas Lustiges, Fröhliches.

Die Waggis trugen ihr J.B.-Requisit still durch die Nacht. Wer ganz genau hinsah, entdeckte am Boden des Holz­objekts die schwarz hingepinselte Inschrift: «Kischtlibuebe – e Fasnacht fir dr Ärnscht!»

72 Stunden zog das Ziigli durch die Stadt. Die Trommler und Pfeifer jubilierten an ihnen vorbei – es war, als wollte die überschäumende Fasnacht mit ihrer schrillen Traurigkeit die Kiste zudecken.

Eine halbe Stunde vor dem Änd­straich trugen d Kischtlibuebe ihr Requisit an jene Stelle am Rhein, wo Ernst immer auf die Wellen geschaut hatte – hierher, wo er mit sich und dieser Stadt alleine war.

Sie setzten sich nun auf die kleine Treppe, die zum Wasser führte. Jeder war mit den Gedanken bei seinem kleinen Freund. Nur Alex unterbrach die Stille mit einem leisen Weinen: «Wir hätten ihn zurückhalten müssen.»

«Ja», nickten die andern. Und wussten, dass dies unmöglich gewesen wäre. «Ja – aber er war jetzt jeden Fasnachtsmoment bei uns. Und das hätte er so gewollt.»

Die Uhr von der Theodorskirche schlug vier Mal – die vier kleinen Waggisse setzten die Kiste auf den träge dahinziehenden Fluss.

«Wir werden nie ohne dich Fasnacht machen», flüsterten die vier.

Dann schwankte das Requisit davon – ein Wirbel zog es in die Tiefe.

Es war bei den Rheinstufen, die zur Münsterfähre führen, wo ich die kleine Gruppe vor zwei Jahren entdeckte. Hans hat mir die Geschichte erzählt. Und dann sind die vier Alten schwer­fällig mit ihrer kleinen Holzkiste, die wie ein Sarg oder eben ein Fährboot aussah, zum Wasser runter gehumpelt.

«Wir haben ihn immer an der Fasnacht mit uns getragen – mit uns. Und in uns. Seit über einem halben Jahrhundert. So wie wir es ihm versprochen hatten.»

Hans lächelte jetzt müde. Seine roten Augen tränten: «Es ist Jahr für Jahr weniger Asche geworden. Wie bei einer Sanduhr, die abläuft.»

Er sprach jetzt ganz leise: «Irgendwie ist es schön zu wissen, dass wir ihm bald folgen werden.»

Nun sind alle vier wieder still.

Ihre Gedanken kreisen um Ernst. Und ihren eigenen Tod.

Kurz vor dem Finale bebt die Stadt. Guggemuusige schränzen schräge Töne, die an die sizilianischen Klage­lieder erinnern. Die Trommler legen im Gross- und Kleinbasel ihre letzte Daagwach aufs Fell.

Und plötzlich ist es still. Totenstill. So als würde jemand ein schwarzes Tuch über die Stadt werfen. Und damit jeden künftigen Schrei ersticken.

Auf dem Rhein schwankt eine kleine Kiste, von der man nicht weiss: Ist es ein Sarg? Ist es ein Fährboot?

Der Fluss nimmt sie mit – und mit ihr auch ihr Geheimnis. Und ihre Geschichte.

Samstag, 13. Februar 2016