Nein. Das war jetzt wirklich keine weihnächtliche Bilderbuch-Kulisse. Keine Tannenäste mit dicken Schneepelzen. Keine Eiszapfen an den Giebeln. Keine grauen Wölkchen beim Ausatmen.
Zwar hatten die Wetterfrösche eine weisse Weihnacht versprochen. Doch nur schmale, eisige Kunstschneeflecken erinnerten daran, dass es in Adelboden eigentlich Winter sein müsste.
Wir feierten zu zweit. Innocent freute sich über ein Supplement-Glas Wein. Meckerte aber: «Ich habe mir Weihnachten in den Bergen weiss vorgestellt - für dieses Klima hätten wir auch ans Meer fahren können!»
Okay. Ich bin für den Christstollen verantwortlich. Aber fürs Wetter kann ich nichts!
Im Stübchen war er stickig. Innocent hatte sämtliche Kerzen, die er aufstöbern konnte, angezündet. Man konnte kaum mehr atmen.
«Ich muss an die frische Luft!» - «Geh nur, ich nehme noch ein Gläslein...»
Tatsächlich war draussen fast Frühling. Ich dachte an die Weihnachtsfeiern, die ich als Kind hier mit meinen Eltern gefeiert hatte. Es war immer nur Stress gewesen.
Der Laden wurde um fünf Uhr abends in Basel geschlossen. Dann kurvten wir noch in die Berge - die Autofahrt zum Fuss des Wildstrubels dauerte damals auf kurvigen Wegen gute fünf Stunden.
ABER DANN DER WINTERZAUBER - DIE TANZENDEN FLOCKEN, DAS FLIMMERN DER STERNE IM SCHNEE! ALL DAS MACHTE DAMALS WEIHNACHTEN AUS. ES ENTSCHÄDIGTE DIE TOTAL ÜBERMÜDETE FAMILIE, WENN DIE EINFACH NUR NOCH TODMÜDE IN DIE EISKALTEN BETTEN SANK.
Und morgens mit dem Wintermärchen vor dem Fenster geweckt wurde.
«Ich will auch wieder einmal weisse Weihnachten, Schneeflocken, klirrende Kälte», hatte Innocent seit Wochen gestürmt. Da Covid das Reisen im letzten Jahr eh verunmöglichte, fuhren wir also ins Häuschen. DOCH NICHTS MIT SCHNEE! Draussen im Garten begrüssten uns erste Gänseblümchen.
«UND DAFÜR SIND WIR NUN HIERHER GEREIST», machte Innocent auf stinkig. Und kontrollierte den Weinvorrat.
ES WURDE DANN DOCH EIN NETTER ABEND. WIE IMMER: TRAUTE ZWEISAMKEIT. UND ZU WENIG GESCHENKE («wir sind ja keine Kinder mehr!»).
«Mein grösstes Geschenk wäre eh weisse Weihnachten gewesen», lamentierte mein Freund. «So etwas kann man eben nicht kaufen!»
Dann streckte er mir ein kleines, langes Päckchen zu. Ich wusste: nein. Keine Rolex. Es ist ein Drehbleistift. In den letzten neun Jahren waren es immer Drehbleistifte.
Die frische Luft tat gut. Ich marschierte zum «Märchenwald». Und stand plötzlich vor dem verlotterten Bauernhaus, auf dessen Holzbalken «AN GOTTES SEGEN - IST S GELEGEN - 1678» eingebrannt war.
Als Kind war ich öfter hier gewesen. Köbi, der jüngste Sohn der Bauernfamilie, war mein Freund. Wir trafen uns jeweils im Stall. Köbi flüsterte mir dort Geschichten zu, die ihm seine 17 Kühe erzählt hatten.
Köbi verstand die Sprache der Tiere. Er sprach mit niemandem über diese Gabe. Und ehrlich gesagt: Ich nahm ihm die Geschichte auch nicht ab.
Er spürte so etwas. Und schaute verunsichert, ob ich ihm glauben würde. Da ich schon damals heiss auf gute Geschichten war, nickte ich wild: «Ja klar! Ich bin überzeugt, dass du die Tiere verstehst ... was hat der Gockel zum Huhn gekräht?»
Köbi atmete auf. Dann wurde er leise: «zu Hause sagen sie, ich sei ein Spinner. Ein Lügner. Ich wolle mich mit meinen Geschichten nur wichtig machen!» Schliesslich erzählte er mir vom Hahn, der seine Henne «eine faule Schlampe» schimpfe.
Immer kurz vor Weihnachten fegte Köbi den Stall auf Hochglanz: «Am Heiligen Abend besucht das Jesuskind alle Ställe. Es fragt die Tiere, ob sie mit ihrem Bauern zufrieden sind. Und wenn sie es sind, singen die Kühe Weihnachtslieder ... na ja, es ist mehr ein dumpfes Summen. So als ob ein Bienenschwarm vorbeisurren würde.» Er machte eine Pause: «Wer das Summen hört, dem geht ein Wunsch in Erfüllung.»
Ich fand die Geschichte sehr geheimnisvoll. «Meinst du, es stimmt?», fragte ich später meine Mutter. Sie schaute mich lange an: «Ist es nicht wichtiger, dass es für Köbi stimmt?»
Eines Tages musste Köbi ins Frutiger Krankenhaus. Ich wollte ihn besuchen.
Meine Eltern fuhren mich hin. Weiss wie Milch lag mein Freund in den Laken.
«Seine Eltern verweigern eine Chemo», schaute die Krankenschwester anklagend meine Mutter an. «Sie sind in einer Sekte. Sie wollen alles Gott und der Natur überlassen.»
Köbi streckte den Arm nach mir aus: «Komm her. Ich weiss, dass ich sterben muss. Aber auf dem Weg dorthin begleiten mich meine Kühe. Das ist wunderbar. Ich bin nicht allein. Und ich höre sie singen... hörst du sie auch?»
«Ja», log ich. Dann wandte ich mich abrupt ab - ich schämte mich, weil ich einfach nur noch drauflosheulte. Drei Wochen später, am Heiligen Abend, ist Köbi gestorben.
An all dies muss ich jetzt denken, wie ich fast sieben Jahrzehnte später vor dem alten Bauernhaus stehe. Eine Nichte von Köbi hat das verlotterte Holzgebäude vor vier Jahren übernommen. Sie arbeitet als Laborantin in Basel. Und verbringt ihren Ferien-Sommermonat hier in den Bergen.
Schwarz, fast gespenstisch ragt das alte Haus nun in die Nacht. Der Mond wirft einen silbernen Schleier auf die alten Ziegel.
«Ich wünsche mir keine Frühlingsnacht - sondern eine weisse Weihnacht», schimpfe ich himmelwärts.
Einen kurzen Moment bleibe ich noch stehen. Ich denke an Köbi. Und seine singenden Kühe. Plötzlich höre ich ein dumpfes Summen aus dem Stall - als würde ein Bienenschwarm vorbeisurren.
Ich öffne die kleine Holztür - der Stall ist leer. Aber das Summen wird immer stärker. Mich friert. Und ich schaue nach oben: Schwarze Wolken schieben sich vor den Wildstrubel.
Auf meinem Kinn kitzeln nasse Tropfen. Ich renne jetzt.
Innocent erwartet mich vor der Tür: «Ja, was sagst du nun - weisse Weihnachten! Ein Märchen!» Es hatte zu schneien begonnen. Und die weissen, dicken Flocken kleideten den Weihnachtstag winterlich ein.