Familiensilber

Hier zum Nachhören: 

Wally schaute seufzend auf die goldgelben Spitzen ihrer Silbergabeln.
Dann holte sie die Dose mit dem Tauchbad.
Und verwünschte einmal mehr ihren Patenonkel Hubert.

SO ETWAS WIE DIESES SILBERGESCHENK KONNTE NUR EINER TUNTE WIE HUBERT IN DEN SINN KOMMEN!

Natürlich hatte sie ihren Paten dennoch geliebt...
Er war skurril. Rauchte parfümierte Zigaretten. Und band sich rosa-seidene Krawattenshawls um.

KEIN ZWEIFEL – HUBERT WAR EINE SCHRILLE NUMMER!
ABER DAS MIT DEM SILBERBESTECK HÄTTE ER IHR ERSPAREN KÖNNEN.

Hubert hatte noch andere Patenkinder – meistens Buben. Die verwöhnte er an den Geburtstagen mit einem grosszügigen Geldschein.

Bei Wally aber: Eine silberne Gabel.
Und an Weihnachten: Ein silberner Löffel.

DIES BIS ZUR KONFIRMATION.
Wally hiess eigentlich Walpurga.
AUCH DA HATTE SIE DIE ARSCHKARTE GEZOGEN.
UND SO BASTELTE WALPURGA SICH BALD EINMAL ZU «WALLY» UM.

Pate Hubert hatte den Narren an Wally gefressen. Er war der einzige, der sie Walpurga nannte. Das passte zu seinem alten Haus mit dem noch älteren Interieur.
Kurz: Hubert schwelgte im Habsburger Barock.

Als er dann zu Wallys Geburt ein rosiges Päckchen mit einem Silbermesser anschleppte, hatte die Mutter lahm protestiert: «Hubert – bei aller Liebe. Aber das wird Walpurga nie brauchen können. Das Deko ist zu bombastisch. Heute deckt keiner mehr silberne Blütenranken…»

HUBERT WURDE LEICHT STINKIG: «Damit kann sie ein Spiegelei servieren. Und es ist immer noch ein königliches Ei…»
Na dann!

Zwei Mal jährlich tauchte Wally also das Silber ins Putzbad. Dann versorgte sie es wieder. Und benutzte ihr Stahlbesteck. Nicht ohne den Erfinder der pflegeleichten Gabeln zu lobpreisen.

Manchmal haderte sie mit Hubert.
Ihr Pate hätte ihr zumindest etwas Geld hinterlassen können. Wally war nicht auf Rosen gebettet.
Sie verdiente sich ihr Auskommen als Büroangestellte. Mit 64 brachte sie die NEUE Computertechnik kaum mehr auf die Reihe.

IHR TRAUM WAR NOCH IMMER: EINE SCHIFFFAHRT NACH NEW YORK!
Doch nun musste sie sparen. Nach ihrer Pensionierung in zwei Jahren würde nicht mehr viel Bares zum Leben übrigbleiben.
Also: Adieu schöner Schiffsreise-Traum!

ES KLINGELTE.
Wally liess die letzte Gabel im Putzbad.
An der Türe stand ihr Nachbar Alfred – dieselbe Drulla wie Hubert. Aber die Tunten von heute tragen keine Seidenshawls mehr. Sondern Piercings auf der Zunge. Und das Haar geschoren wie im Zuchthaus.

WALLY MOCHTE ALFRED.
«Kaffee?»
Schon sass er an ihren Küchentisch. Und stierte auf den Berg mit dem geputzten Silberbesteck.
«WALLY – ABER DU WEISST SCHON WAS DAS IST?».
«Danke ja – eine verdammte Plackerei!».

«WALLY – DAS IST EIN AUGSBURGER SILBERSERVICE! AUS DEM 17. JAHRHUNDERT…!»

Weshalb wussten diese Tucken eigentlich immer gleich wie, wann und was.

«…UND DU ERSÄUFST DIESE KOSTBARKEITEN IM PUTZBAD?!»

Am andern Tag schickte Alfred einen Freund vorbei.
SOTHEBY'S HAT DANN WALLYS FAMILIENSILBER FÜR MEHRERE HUNDERTTAUSEND PFUND AN EINEN SAMMLER VERSTEIGERN KÖNNEN.
So konnte sie dem verdammten Computer im Büro den Stinkefinger zeigen.
UND LUD ALFRED AUF DIE SCHIFFSREISE NACH NEW YORK EIN.
Bei der Freiheitsstatue stiessen die zwei auf Pate Hubert an.
Und natürlich vor allem darauf, dass Wally nie mehr Silber putzen musste...

Veröffentlicht am : 
Freitag, 8. Januar 2021