Es war der Morgen vom Heiligen Abend. Aus der Küche ertönten Stimmen – laut. Polternd. Und giftig schrill.
Jan mochte nicht, wenn seine Eltern sich stritten. Seit vier Jahren lebten sie getrennt. Immer an Weihnachten gab es Zoff.
Er stöpselte die Ohren zu. Drückte die Play-Taste. Und liess Weihnachtslieder, die er im Internet heruntergeladen hatte, in sich hinein rieseln.
Dazu schaute er aus dem Fenster: in den Vorgärten glühten helle Girlanden. Beleuchtete Gummikläuse stiegen in Fenster ein. Und elektronische Lichterglocken blinkten wie Scooterbahnen auf dem Rummelplatz.
In der Altbauwohnung von Jans Mutter war Weihnachten kein Thema. Es gab keine Süssigkeiten… keine Geschenke… keinen Baum.
Sie hatte es versucht, dem Jungen zu erklären: «Weihnachtsgebäck ist ungesund, Jan. Das ganze Fest ist ein absurdes Spektakel - alles Geschäftemacherei. Dein Vater und ich verwöhnen dich das ganze Jahr hindurch – dafür brauchen wir kein Halleluja unter einer Jubeltanne. Kannst du das verstehen?».
Jan nickte brav.
Und verstand gar nichts.
Er hätte gerne eine ganz «normale» Familie gehabt. Und ein «ganz normales» Weihnachtsfest. Mit Vater. Mit Mutter. Mit einem Baum.
Gut. Auch unter seinen Freunden gab es viele alleinerziehende Mütter. Oder Patchwork-Familien.
Er verlangte ja nicht, dass seine Alten mit ihm zusammenleben sollten. Aber immer diese Streiterei…diese Ausbrüche! Meistens ging es ums Geld. Oder um seine Erziehung.
Am späten Mittag stahl er sich aus dem Haus. Und besuchte seine Grossmutter: «Sie streiten wieder…»
Die Frau strich ihm übers Haar: «Sie haben viel um die Ohren, Jan…».
So Typisch! Wenn Erwachsene sich anschrien, gab es immer eine Entschuldigung.
«Wir haben keinen Baum…» klagte er nun.
Die Frau lächelte: «… auf dem Estrich habe ich noch unsere alten Kugeln. Ich schenke sie dir…»
Zehn Minuten später zupfte Jan behutsam die zarten Kostbarkeiten aus den Schachteln. Und schälte sie aus dem leicht vergilbten Seidenpapier: Rote Kläuse auf silbernen Schlitten… Glimmervögel, denen der Schwanz fehlte… ein dicker, bunter Zirkusclown – das schönste aber war ein «Wickelkind», das ihn aus einer gläsernen Krippe leicht säuerlich anstierte…
«Das ist unser Weihnachtskind!», erklärte die Oma. «Ihm haben wir als Kinder unsere Sorgen anvertraut. In jener Zeit erzählten die Alten, das Christkind könne alle Gedanken lesen. Und Wunder vollbringen… immer wenn es ein Wunder vollbracht habe, würde es dann ganz fein lächeln.»
Die Oma lachte auf: «Das ist natürlich ein alter Hut – heute haben Psychologen das Christkind abgelöst… Die hören auch zu. Nehmen für die Stunde aber wesentlich mehr als unser griesgrämiges Christkind hier!»
Der Junge zottelte mit seinem Sack voller Weihnachtskugeln davon.
Er hielt das miesepetrige Christkind in der Hand: «Wir haben keinen Baum… aber im Wald hat es viele Tannen!».
Das Christkind verzog keine Miene.
Als Jan um acht Uhr abends noch immer nicht zu Hause war, rief die Mutter alarmiert ihren Ex-Mann an: «Der Junge ist weg… Er war bei deiner Mutter… Seither ist er verschwunden!». Sie schluchzte. «…Die Polizei sucht ihn schon!».
Für einen Moment war es still. Dann: «Nicht weinen…, ich bin in zehn Minuten bei Dir…»
Bei der Schluss-Schleife hatte Jan die Strassenbahn verlassen. Und ging in den angrenzenden Wald. In einem Center hatte er sich Kerzen und Streichhölzer gekauft.
Bald schon fand er die passende Tanne: «Gefällt sie dir?»
Das Christkind unterdrückte ein Gähnen.
Jan pinnte die Kugeln an die untersten Äste – schon spiegelten sich die Kerzen darin.
Und: «Das gibt's doch nicht!» - brummte der Tramführer, der an der Schlaufe zehn Minuten Pause hatte.
Er spurtete zu der flimmernden Weihnachtstanne. Und sah einen Jungen mit Stöpseln in den Ohren: Der Kleine summte Weihnachtslieder. Seine Finger hielten eine Kugel.
Das Christkind schaute dem Wagenführer missmutig entgegen. Er hatte es aufgeweckt.
Der Mann alarmierte unverzüglich die Polizei: «Was hast du dir eigentlich dabei gedacht… AM HEILIGEN ABEND...! Deine Eltern ängstigen sich zu Tode, Du Knirps!»
«Wir feiern keinen Heiligen Abend», seufzte der.
Bald schon jagte das Alarmpiket mit Blaulicht und Jans Eltern an. Die Mutter heulte. Der Ex-Gatte hatte einen Klotz im Hals – er schniefte nur. Und sagte gar nichts.
Nur der Junge zeigte auf den Baum: «Kann ich den mitnehmen…?»
Der Vater schnäuzte sich die Nase: «Die ganze Tanne geht wohl kaum, Jan… aber vielleicht ein paar Ästchen…»
Gottlob hatte die Polizei eine Säge dabei.
Zu Hause sassen sie am Küchentisch. Der Vater hatte die Tannenäste in eine Schale gelegt – die Mutter die alten Kugeln darum herum drapiert.
Er lächelte seiner Frau zu: «Jede dieser Kugeln erzählt mir eine Geschichte. Irgendwie war das noch eine gute Zeit…»
Die Frau nahm seine Hand: «Das ist heute seit langem ein wunderbarer, friedlicher Abend…»
Der Vater knuddelte Jan: «Das machst du nie wieder… Wir haben dich doch beide sehr lieb.»,
Dann flüsterte er: «Irgendwo muss es auch noch die Krippenkugel mit dem schlecht gelaunten Christkind geben. Sie sagten immer, es könne Wunder vollbringen… Und wenn es einen Wunsch erfüllt habe, würde es lächeln...»
Jan war glücklich – es war ein Weihnachtsfest, wie er es sich immer gewünscht hatte.
Langsam öffnete er seine heisse Hand. Und setzte die Weihnachtskugel mitten in den andern Baumschmuck.
Das Christkind lächelte den Dreien leise entgegen.